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Soziologie
Russischsprachige Zuwanderer verändern die jüdischen Gemeinden

In den vergangenen zwei Jahrzehnten ist eine Viertelmillion russischsprachiger Juden nach Deutschland gekommen. Die Mitgliederzahl der Gemeinden schoss in die Höhe - ein dramatischer Wandel - auch weil die neue Generation ein anderes Selbstverständnis mitbrachte.

Von Dorothea Jung | 09.01.2014
    "Was man generell sagen kann, ist, dass die Gemeinden sich durch diese Zuwanderung dramatisch verändert haben. Wir haben in so gut wie allen Gemeinden im Grunde 90 Prozent Zuwanderer und maximal noch zehn Prozent sogenannte alteingesessene Juden."
    Zuwanderung als Herausforderung
    Karen Körber ist Soziologin und hat in ihrer Doktorarbeit die Folgen der Einwanderung für das jüdische Gemeindeleben in Deutschland untersucht. "Der Zuzug so zahlreicher russischsprachiger Mitglieder war für die Gemeinden eine Herausforderung", sagt die Wissenschaftlerin. Denn viele der Zugewanderten sprachen kein Deutsch, viele waren alt und brauchten Hilfe bei der Bewältigung des Alltags. Und die jüngeren machten die Erfahrung, dass ihre oft hoch qualifizierten Bildungsabschlüsse nicht anerkannt wurden. Karen Körber:
    "Diese Problemlagen, die, wenn Sie so wollen, überhaupt nichts mit den Gemeinden zu tun haben und die aber vor allem in den Gemeinden verhandelt wurden, weil die sozusagen das Forum waren, in der sich diese Menschen artikulieren konnten. Und insofern gibt es strukturell immer eine Überforderung in den Gemeinden."
    Eleonora Shakhnikova leitete mehrere Jahre lang das Integrationsbüro der Berliner Gemeinde und half bei sozialen Problemen:
    "Leute, die leider bis jetzt ganz unsichere Deutschkenntnisse haben und mit den Behördengängen Probleme haben. Suche nach Arbeit, Suche nach Ausbildung, Suche nach Wohnung, Suche nach neuen Kontakten - alles Mögliche; alles, was das Leben betrifft."
    Vor allem aber zeigte Eleonora Shakhnikova den Neuen in der Gemeinde Wege zu ihrer Religion:
    "Leute, die aus der ehemaligen Sowjetunion gekommen sind, konnten ihr Judentum in ihrem Heimatland nicht praktizieren. Sie haben damit ein Problem."
    Jüdisch ohne Religion
    Karen Körbers Untersuchung zufolge wussten die meisten Zuwanderer nicht, wie sie mit einem religiös verstandenen Judentum umgehen sollen:
    "Wo viele der Neuzuwanderer durchaus auch selbstbewusst gesagt haben: Wir verstehen uns als Juden in der sowjetischen Tradition; das heißt: Es ist eine Nationalität; wir können zwar qua Geburt dieser Gruppe angehören, was nicht unbedingt heißt, sich hier plötzlich als religiöse Juden zu verstehen."
    Für einen Großteil der alteingesessenen Gemeindemitglieder war das befremdlich: Da kamen Menschen, die sich dem jüdischen Volk zugehörig fühlten. Sie nutzten die sozialen und kulturellen Angebote der Gemeinde wollten aber offenbar selten beten. Nicht nur wegen der Sprachprobleme fühlten sich viele deutsche Juden in ihren Gemeinden nicht mehr zu Hause. Außerdem brachten die Neuen mit ihren unterschiedlichen Lebensgeschichten auch ein anderes Geschichtsbild mit.
    Professor Julius Schoeps vom Moses-Mendelsohn-Zentrum für europäisch-jüdische Studien in Potsdam erinnert sich:
    "Veteranen des großen Krieges aus der Sowjetunion, Mitglieder der jüdischen Gemeinde, mit ihren Orden auf dem Revers ihrer Jacke, haben ein Kameradschaftstreffen mit Wehrmachtsangehörigen gemacht; und das stieß bei vielen Mitgliedern in der Gemeinde auf großes Unverständnis, aber: Aus deren Sicht ist das wiederum etwas ganz anderes!"
    Die Lage normalisiert sich
    Mit Veteranenklubs und Schachturnieren, Rätselnachmittagen und russischen Liederabenden brachten sich die Neuen in den jüdischen Gemeinden durchaus aktiv ein, aber ihre Interessen unterschieden sich oft von denen der Stammmitglieder. Das Resümee der Wissenschaftlerin: Die vergangenen zwanzig Jahre waren für die jüdischen Gemeinden in Deutschland anstrengend und konfliktreich. Aber langsam normalisiert sich die Lage, sagt Karen Körber:
    "Diejenigen, die sich auch von der Leitungsseite her darauf eingelassen haben, dass sich etwas ändert, bei denen hat es besser geklappt; und mittlerweile haben wir die ersten Gemeinden, in denen auch die Zuwanderer selbst in die Gemeindeleitung gehen und sozusagen diesen Prozess mitgestalten; und in diesem Maße und bewegt man sich aufeinander zu."
    Heute ist Karen Körber Projektleiterin eines Fellowship-Programms des jüdischen Museums in Berlin. In einer breit angelegten Studie untersucht die Wissenschaftlerin zurzeit, was die 20- bis 40-jährigen Kinder der Zuwanderer unter jüdischem Leben verstehen. Eine erste Erkenntnis: Die zweite Generation ist in aller Regel gut ausgebildet, etliche haben bereits ein gutes Einkommen. "Aber in den Gemeinden sind sie kaum präsent", sagt die Soziologin:
    "Sie sind aber durchaus interessiert und aktiv in den Bildungsangeboten, die sich Drumherum gebildet haben; wie etwa 'Limmud', am großen jüdischen Lernfestival und anderen Organisationen, die vor allem Bildungsangebote leisten und liefern, in denen man sich auf unterschiedliche Weise mit dem Judentum, jüdischen Traditionen beschäftigen kann."
    Die 31-jährige Berlinerin Anna wurde in der Ukraine geboren, kam vor zwei Jahrzehnten mit ihren Eltern nach Deutschland und sitzt gerade an einer sozialwissenschaftlichen Doktorarbeit. Anna hat im Rahmen von Karen Körbers Forschungsprojekt an einem Tiefeninterview teilgenommen und Fragen nach ihrer jüdischen Identität beantwortet:
    "Ich bin keine religiöse Person; ich kann kaum ein Gebet auswendig; ich gehe nie in die Synagoge, außer zu Kulturanlässen. Auch habe ich kein sehr gutes Wissen über das, was in irgendwelchen religiösen Schriften steht. Ich kann aber auf der anderen Seite sagen, dass mein Leben schon von einem Jüdisch-Sein geprägt ist; zumal man es immer wieder durch eine Fremdwahrnehmung gesagt bekommen hat."
    Jüdisches Selbstverständnis
    Sozialwissenschaftlerin Karen Körber hält eine derartige Selbstbeschreibung für typisch:
    "Dass es so eine Spannung gibt in der Selbstwahrnehmung: Eigentlich entspreche ich nicht den Kriterien - was immer die Kriterien sein mögen und dem diffusen aber doch und starken Gefühl, da doch rein zu gehören in diese Gruppe, das ist etwas, was einem immer wieder begegnet."
    Anna selbst fühlt sich nach einer Israelreise, auf der sie Juden aus aller Welt getroffen hat, mehr dem jüdischen Volk zugehörig als vorher. Für sie heißt das aber nicht, dass sie sich dadurch dem jüdischen Gemeindeleben in Deutschland mehr verbunden fühlt. Ähnliche Äußerungen hat Karen Körber in ihren Forschungsinterviews oft gehört:
    "Sie bekommen eine Reihe von Angeboten, seien es jüdische Schulen, jüdische Bildungsangebote, jüdische Gemeinden, Reisen nach Israel - Angebote, die sich an ein Verständnis sie als Juden als Gruppe richten, und auch darauf setzen, damit Zugehörigkeit und Bindungen aufzubauen; und diese jungen Menschen gehen damit in unterschiedlicher Weise um, aber viele auch ein Stück weit distanziert."
    Die qualitative und quantitative Studie des Fellowship-Programms will ein möglichst vielstimmiges Bild der Lebenswelt junger russischsprachiger Juden zeichnen. Und sie will auch die Bildungs- und Berufsverläufe der zweiten und dritten Generation beschreiben. Wann die Studie abgeschlossen und vorgelegt wird, ist derzeit noch offen.