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"Spät" und "20 Minuten Stille"

Rechts und links Zuschauerreihen, in der Mitte des Raumes die Spielfläche: ein Gang, markiert und begrenzt durch vier leere Türrahmen - und Licht. In diesem Lichtkorridor, einem Zwischenraum zwischen Wunschtraum, Angst und Wirklichkeit, findet das Rendezvous zwischen einem Voyeur und dem Objekt seiner stillen Wünsche statt, bei dem sich beider Phantasien überlagern, vermischen. Sie ist Opfer, Lockvogel und, ja, auch Partnerin dieser Vereinbarung zwischen Anziehung und Abstoßung. Ein schwebender Dialog, ein verschwiegenes sprachgenaues Stück von subkutaner Bedrohlichkeit - und der jungen Schweizer Autorin mit dem chinesischen Namen Sabine Wen-Ching Wang, dem Uraufführungsregisseur David Unseld und seinem Dramaturgen Erik Altorfer gelingt es in dem Einakter mit dem Titel "Spät", diesen Schwebezustand aufrechtzuerhalten.

Von Cornelie Ueding |
    Die Gewaltsamkeit ist in der Situation gegenwärtig und in der kleinen Geschichte von der Amsel, die der Mann mittels einer umwickelten Pinzette mit Katzenfutter füttert - was die Frau beobachtet hat, nun in aller Grausamkeit ausmalt und dabei seine geheimsten Antriebe im Wortsinn zur Sprache bringt. Die traumatischen Phantasien beider wachen Beobachter zerstören den vereinbarten Traumcharakter des Szenarios und kehren die Machtverhältnisse um.

    Mann: Sie waren Zigaretten holen.
    Frau: Das gibt Ihnen nicht das Recht -
    Mann: Unsere Vereinbarung war, dass Sie keine Rechte mehr haben.
    Frau: Das ist nicht dasselbe.
    Mann: Man besitzt keine Rechte, wenn man schläft.
    Frau: Aber ich -
    Mann: Und sich anschauen lässt im Schlaf.
    Frau: Ich schlafe nicht.

    "Neue Stimmen aus Europa" könnte man die mit zwei Uraufführungen beginnenden Zürcher Theater-Hearings nennen. Eine Sichtung im 20-Minuten-Takt: eine gute Idee, Auftragswerke für experimentelle Kurzstücke zu vergeben, deren gemeinsamer Nenner die Frage ist, was alles in 20 Minuten passieren kann. Ein kluger Gedanke auch, nicht gleich auf abendfüllende Tops oder Flops zu spekulieren, sondern einfach mal die Probe aufs Exempel zu machen, mal reinzuhören, nach dem Motte: Wer das Zeug dazu nicht hat, kann aus 20 Minuten eine lähmende Ewigkeit werden lassen; und wer's kann, der vermag auch in 20 Minuten einen Eindruck, Abdruck zu hinterlassen, der sein Potenzial andeutet. Und so ähnlich sollte es am ersten Uraufführungsabend auch kommen.

    Der zweite 20-Minüter schien nicht nur gnadenlos lang, er dauerte auch, unkollegialerweise, tatsächlich 40 Minuten. Das allerdings dank der geradezu bombastischen Regie von Robert Lehniger, die den kleinen Monolog der russischen Brüder Presnjakow zur Politapokalypse aus der Klobrillenperspektive aufdonnerte. Der Protagonist röhrt, ächzt und brüllt ebenso nachhaltig wie unverstehbar, kotzt sich vor dem Badezimmerspiegel, über die Waschschüssel gebeugt oder darunter kauernd, dann wieder hinter der Klotüre, mal so richtig aus. "Zwanzig Minuten Stille" heißt das Stück. Warum sollte ein männlicher Babysitter, der so richtig durchhängt, nicht auch mal lauter werden, wenn der Knabe, auf den er einredet, einfach nicht reagiert, egal was er sagt - weil er taubstumm ist, wie sich erst spät herausstellt. Aber nicht nur die schreikampfartige Tonlage vergröbert, ja entstellt den Text. Der Schauspieler Bernhard Schütz muss sich gar nicht auf der Bühne, sondern auf dem Klo nebenan abmühen, wird dabei schräg von oben gefilmt: Riesenrücken, kleine Füße - während der Wasserhahn tropft, nicht tropft oder voll aufgedreht eine Überschwemmung verursacht - und auf der Wohnzimmer-Bühne ist statt seiner nur die ins Riesenhafte vergrößerte, auf eine transparente Tapetenwand gebeamte Filmkonserve "präsent".

    Auf einem Fernsehmonitor werden im Wechsel mit einer stummen, ganz mit einer schwarzen Latexhaut überzogenen Domina-Ansagerin Schweine eingeblendet. Und davor hockt noch so eine Latex-Figur und spielt mit Plüschtieren, Buchstabenwürfeln und Quietscheentchen. Ein ebenso alter wie offenbar unausrottbarer Regiefehler: statt Ohnmacht und Isolierung des einzelnen in einer normierten, geklonten Welt, die keine Notiz von ihm nimmt, situationsgenau zu ermitteln und zu zeigen, nimmt Lehniger den Schmerz der Figur nicht ernst, reproduziert die Ent-Fremdung und macht den menschlichen Darsteller zum bloßen Teil der Dekoration. Ob das ein Impuls für die Zukunft des Theaters sein kann, wenn es auf seine ureigensten Mittel - das Spiel im Hier und Jetzt - verzichtet? Soviel wird schon bei den beiden ersten der insgesamt elf Uraufführungen von 20-Minuten-Stücken deutlich: Es steht nicht nur die Qualität und Vielstimmigkeit junger Autoren und neuerer Stücke auf dem Prüfstand. Es geht um die Lebendigkeit und Berechtigung des Theaters als zeitgemäßer Kunstform.