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Spät und dennoch wunderbar

Ob es an der "Splendid Isolation", der als gut empfundenen Insellage oder an dem sprichwörtlichen Traditionsbewusstsein der Engländer liegt - an den vordersten Fronten der musikalischen Avantgarde haben britische Komponisten jedenfalls nicht mitgekämpft. Die großen Umbrüche des 20. Jahrhunderts fanden vielmehr in Frankreich, Österreich und Deutschland statt, und aus der Perspektive des musikalischen Fortschritts betrachtet, kamen Komponisten wie Vaughan Williams, Edward Elgar, William Walton oder auch Benjamin Britten eigentlich immer ein paar Jahre oder auch Jahrzehnte zu spät. Was sie aber nicht hinderte, wunderbare Musik zu schreiben.

Von Ludwig Rink |
    Und spätestens seit der postmodernen Ära rücken auch jene Werke wieder stärker ins Blickfeld, die sich nicht dem Experiment, dem Vorantreiben neuer Kompositionstechniken, der Erforschung und Erweiterung des musikalischen Materials verschrieben haben. Diese Beschäftigung mit den eher traditionell orientierten Komponisten ist natürlich umso Erfolg versprechender, je besser die Interpreten sind. Jetzt gibt es wieder so einen beglückenden Fall: Der Cellist Daniel Müller-Schott hat zusammen mit dem Oslo Philharmonic Orchestra unter der Leitung von André Previn Cellokonzerte von Edward Elgar und William Walton eingespielt.

    " Musikbeispiel: Edward Elgar - Ausschnitt aus dem 2. Satz aus: Konzert für Violoncello und Orchester, op. 85 "

    Ein für den Cellisten äußerst heikles Stück Musik, dieser zweite Satz des Cellokonzertes von Edward Elgar, und auch das Orchester muss höllisch aufpassen, damit seine Farbtupfer und Klangfarben-Einwürfe bei diesem Perpetuum mobile exakt an der richtigen Stelle sitzen. Dieses Cellokonzert entstand in den Jahren 1918/19 - zum größten Teil in einem Landhaus, das Edward Elgar in Sussex inmitten dichter Wälder gemietet hatte. Die liebliche Atmosphäre dieses Hauses habe das Stück wesentlich geprägt, äußerte Elgar später. Aber es sind auch andere Wesensmerkmale spürbar. Schließlich war der Kräfte zehrende, unmenschliche erste Weltkrieg gerade erst vorüber und um Elgars Gesundheit war es nicht zum Besten bestellt. Er war Anfang sechzig und hatte eine schmerzhafte Mandeloperation überstanden, als er das Hauptthema des ersten Satzes notierte. Und bei allem romantischen Elan, den das Cellokonzert insgesamt vermittelt, sind Züge von Müdigkeit und Resignation nicht zu überhören, vor allem dann, wenn man den mutigen, ausholenden Beginn mancher Passagen mit deren knappem, abruptem, manchmal geradezu verzagtem Ende vergleicht. So hat man gerade im ersten Satz öfter den Eindruck einer Entwicklung hin zu größerer Zuversicht, die dann aber infrage gestellt und schließlich doch wieder von Niedergeschlagenheit abgelöst wird. Vielleicht ist dieses Cellokonzert, das letzte bedeutende Werk Elgars überhaupt, also auch ein wehmutsvoller Rückblick auf das romantische Solokonzert schlechthin, auf eine grandiose Epoche, die so nie wiederkommt. Es ist jedenfalls atemberaubend mitzuerleben, mit welcher Intensität Daniel Müller-Schott und die Musiker aus Oslo dieser Nostalgie, dieser Trauer Ausdruck verleihen.

    " Musikbeispiel: Edward Elgar - Schluss aus: Konzert für Violoncello und Orchester, op. 85"

    Soweit der Schluss von Edward Elgars Cellokonzert, gespielt von Daniel Müller-Schott und dem Oslo Philharmonic Orchestra unter der Leitung von André Previn, jetzt veröffentlicht beim Label Orfeo - eine Neuaufnahme, die mit den bereits auf dem Markt vorhandenen anderen hochkarätigen Einspielungen z.B. eines Truls Mörk mühelos mithalten kann. Was diese CD darüber hinaus besonders wertvoll macht, ist das andere hier eingespielte Cellokonzert von William Walton, das auf CD-Markt und im Konzert sehr viel seltener anzutreffen ist. Walton, der von 1902 bis 1983 lebte, hatte in den zwanziger Jahren durchaus mit Elementen der musikalischen Moderne vom Festland experimentiert und ähnlich wie Strawinsky einen veritablen Skandal-Erfolg zuwege gebracht: mit dem auch sprachlich recht eigenwilligen Melodram "Facade". Doch später machte er einen Rückzieher: das Konzert für Viola und Orchester von 1929 zeigt wieder fast schon romantische Züge. Das Cellokonzert entstand 1955 als Auftragswerk für Gregor Piatigorsky, der es dann auch zusammen mit Charles Munch in Boston aus der Taufe hob. Walton lebte seit 1948 vorwiegend auf der Insel Ischia, und manche Hörer wollten denn auch aus dem Beginn des Cellokonzertes das Plätschern des Mittelmeeres heraushören. Walton selbst gefielen solche programmatischen Deutungen weniger; allerdings unterscheiden sich seine späteren Werke allesamt von den früheren durch einen größeren Farbenreichtum in der Instrumentierung, woran vielleicht wirklich die sonnige Landschaft seines Alterswohnsitzes Schuld sein könnte. Formal ist das Konzert eher ungewöhnlich, denn zwei ruhige Sätze umrahmen ein virtuoses Scherzo. Ungewöhnlich, aber reizvoll ist auch die Anlage des letzten Satzes, der eine Folge von fünf Variationen bringt, von denen die zweite und vierte nur für das Solocello gesetzt ist und die dritte ausschließlich vom Orchester bestritten wird. Waltons lyrischer Spätstil jedenfalls ist dankbares Futter für jeden Cellisten, und auch Daniel Müller-Schott lässt sich keine Gelegenheit zu nuanciert-singender Gestaltung entgehen.

    " Musikbeispiel: William Walton - 3. Satz: Rapsodicamente (Schluss) aus: Cellokonzert"


    Diskografie
    Titel: "Elgar / Walton - Cello Concertos"
    Solist: Daniel Müller-Schott, Violoncello
    Orchester: Oslo Philharmonic Orchestra
    Leitung: André Previn
    Label: Orfeo
    Labelcode: LC 08175
    Bestellnr.: C621061A