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Späte Aufarbeitung

Die Aufarbeitung der faschistischen Vergangenheit in Italien ist bruchstückhaft. Nun ist ein spektakulärer Fall aus der Wissenschaft bekannt geworden. Der Arzt Nicola Pende ist berühmt, nach ihm sind medizinische Preise und Straßennamen benannt. Aber da ist auch seine besondere Vergangenheit.

Von Thomas Migge |
    In so mancher italienischen Enzyklopädie wird Nicola Pende wegen seiner wissenschaftlichen Leistungen erwähnt. Von seiner unrühmlichen Vergangenheit ist jedoch nie die Rede. Pende, geboren 1890 in Noicataro im süditalienischen Apulien, absolvierte eine schnelle Karriere als Mediziner und Wissenschaftler. 1933 erhielt er den Lehrstuhl für Medizin an der Universität im sizilianischen Messina. Wenige Jahre später übernahm er den begehrten Lehrstuhl für Pathologie an der Universität Rom - einen Lehrstuhl, den Pende bis zu seiner Emeritierung 1955 innehatte. Der Mediziner war ein in Fachkreisen hochgeschätzter Mann. Noch heute wird jedes Jahr in Apulien ein nach ihm benannter Preis für medizinische Entdeckungen verliehen. Nach Nicola Pende sind Straßen und Schulen benannt worden. Ein Skandal, meint Franco Cuomo:

    "Er war einer der ganz großen Protagonisten der faschistischen Epoche, nur das war bis vor kurzem unbekannt. Genauer: Niemand war an der Vergangenheit dieses Mannes interessiert, der es in Wirklichkeit nicht verdient hätte, dass er immer noch gewürdigt wird, gehörte Pende doch zu den zehn Autoren des faschistischen Manifests der Rasse, das die Rassengesetzgebung in Italien wissenschaftlich zu begründen versuchte. Pende war Koautor eines Dokuments des Todes."

    Der Journalist Marco Cuomo hat ein Buch vorgelegt – "I dieci", "Die Zehn", das in Italien für großes Aufsehen sorgt. Es erzählt minutiös die Geschichte der zehn Verfasser des faschistischen Rassenmanifests nach. Eine Geschichte, die von keinem italienischen Historiker jemals erforscht oder aufgearbeitet wurde.

    Neben Nicola Pende arbeiteten an der Niederschrift dieses Manifests, das auf Mussolinis Vorstellungen von der Dominanz einer so genannten arischen Rasse der Italiener großen Einfluss hatte, Zoologen und Demografen, Biologen, Anthropologen und Neurologen; Experten in ihren Fachbereichen, denen die Ausgrenzung und "Endlösung" der Judenfrage in Italien gar nicht schnell genug gehen konnte und die in Hitler, wie Cuomo in seiner Studie ausführlich nachweist, ein Vorbild im Kampf gegen die vermeintlichen minderwertigen Rassen sahen. Das Rassenmanifest forderte unverhohlen nicht nur die totale Ausgrenzung der Juden, sondern auch ihre Vernichtung, da sie, so die Autoren, eine biologische Bedrohung für die italienischen Arier darstellen würden.

    Die zehn Autoren, davon ist Franco Cuomo überzeugt, waren mitschuldig am Bau italienischer Konzentrationslager nach deutschem Vorbild:

    "Sie besichtigten das Lager von Sachsenhausen und forderten Mussolini auf, es Hitler gleich zu tun und ähnliche Lager auch in Italien zu errichten, um darin die Juden unterzubringen."

    Cuomo weist nach, dass die Autoren des Manifests zur Rasse auch für Regierungsinstitute arbeiteten, in denen die Ideen der Rassenhygiene theoretisch und praktisch umgesetzt wurden. Nach dem Sturz des Regimes behielten sie ihre Lehrstühle, forschten und arbeiteten weiter - so als ob nichts gewesen wäre.

    Cuomo nennt in seinem Buch auch die Namen von 330 Faschisten, die einen Appell an den Duce unterzeichneten, in dem sie sich für die Durchsetzung der in dem Manifest konstatierten rassenhygienischen Forderungen aussprachen. Zu den Unterzeichnern gehörte auch Padre Agostino Gemelli, Mediziner und Gründer des Gemelli-Krankenhauses in Rom, wo sich die Päpste behandeln lassen. Im Fall Gemellis läuft im Vatikan bereits ein Seligsprechungsverfahren. Ein anderer Unterzeichner, der nach Kriegsende zu internationaler Prominenz gelangte, war Amintore Fanfani. Dass er ein glühender Anhänger eines judenfreien Italien war und die Verschleppung der Juden forderte, scheint er mit dem Sturz des Duce schnell vergessen zu haben. Als Vater der italienischen Verfassung und Regierungschef ging Fanfani in die italienische Nachkriegsgeschichte ein.

    Cuomos Buch beweise, dass es in Italien nie eine Aufarbeitung der faschistischen Vergangenheit gab, meint der in Rom am deutschen historischen Institut forschende Faschismusexperte Lutz Klinkhammer:

    "In Italien gibt es eine ganz andere Ausgangslage, denn in Deutschland war durch die Siegermächte die Aufteilung Deutschlands und vor allem dann durch den Nürnberger Prozess eine sofortige Aufarbeitung der NS-Vergangenheit und eine Durchsicht der Akten die Folge."

    Ähnliches gab es in Italien nie. Im Zuge der schnellen Eingliederung in das NATO-Bündnis und der neuen und guten Beziehungen zum Nachkriegsdeutschland war niemand mehr an der Aufarbeitung der faschistischen Vergangenheit interessiert. Die Folge: Viele prominente Anhänger des Duce blieben auch weiterhin in Amt und Würden. Ihre dunkle Vergangenheit wurde schlichtweg tot geschwiegen. Nur so erklärt sich das große Staunen, dass der Inhalt des Buches von Marco Cuomo erzeugt.

    Lutz Klinkhammer nennt die umfassende Verdrängung der faschistischen Vergangenheit Italiens "ein mildtätiges Verschweigen, um kein geschichtliches Trauma zu erzeugen". Seiner Meinung nach gibt es noch viel zu erforschen und zu entdecken, was die Verstrickungen berühmter Nachkriegsitaliener mit dem Duce-Regime betrifft.