Die Mittäterschaft der österreichischen Nationalsozialisten wurde in diesem Dokument nur wenig beachtet Und so prägte bis in die heutige Zeit hinein die Moskauer Deklaration das Bild, das sich viele Österreicher von der Geschichte ihres Landes machten. Die Wiener Journalistin und Redakteurin der Zeitschrift "Profil", Christa Zöchling beschreibt, wie sich diese Einstellung hin und wieder auf dem politischen Parkett äußerte:
Christa Zöchling: Bis vor kurzem, also in offiziellen Reden haben alle Repräsentanten des Staates, egal, ob das jetzt ein Sozialdemokrat war oder ein Konservativer, haben gesagt, Österreich hat zwischen ’38 und ‘45 nicht existiert, wir sind nicht für das, was da passiert ist, verantwortlich und die Debatte, die es heute gibt, mit den Restitutionsforderungen der Juden, das ist eigentlich vierzig, fünfzig Jahre zu spät.
Erst die Wahlerfolge der national-populistischen FPÖ, das wiederholt deutsch-nationale Auftreten von Jörg Haider und der Druck der EU-Sanktionen haben dazu geführt, dass sich zur Zeit immer mehr Menschen in Österreich mit den Verbrechen auseinandersetzen, die österreichische Nationalsozialisten zu verantworten haben. Professor Wolfgang Neugebauer vom Wiener Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes hierzu
Wolfgang Neugebauer: Diese Einstellung hat sich erst in den letzten Jahren geändert, und auch der internationale Druck hat sehr stark dazu beigetragen, dass Österreich jetzt im Begriff ist, sich dieser Problematik zu stellen. Es ist jetzt ein Zwangsarbeitergesetz ausgearbeitet worden, und es gibt jetzt auch ernsthafte Verhandlungen auf der internationalen Ebene mit jüdischen Organisationen über die sogenannte Wiedergutmachung. Und seitdem gibt es schon eine nähere Beschäftigung auch mit diesem Aspekt. Auch die Wehrmachtsausstellung, die in Österreich gezeigt worden ist, hat das öffentliche Interesse auf diesen Bereich der Beteiligung der Österreicher am Nationalsozialismus gelenkt.
Weshalb wird Österreichs Vergangenheit aber erst jetzt hinterfragt ? Gab es denn vorher keine Entnazifizierung, keine Wiedergutmachungszahlungen und keine zeitgeschichtlichen Forschungen ? Doch - meint Stefan August Lütgenau vom Wiener Kreisky-Archiv - Wiedergutmachungszahlungen hat es gegeben. Allerdings nicht an die jüdischen Opfer.
Stefan August Lütgenau: Es war relativ klar, dass geraubtes Vermögen restituiert werden muss. Aber es gab anders als in anderen Bereichen Europas geraubtes Vermögen oder geraubte Vermögenswerte nicht nur als Raub durch den Nationalsozialismus, sondern schon als Auflösung von Gewerkschaften, der sozialdemokratischen Partei, einer ganzen Reihe von Vereinen und Organisationen durch die Austro-Faschisten nach dem Bürgerkrieg 1934. 1934 wird in Österreich ein austrofaschistisches System errichtet, unter Dollfuss und später nach der Ermordung Dollfuss' unter Schuschnigg. Kommunisten, Sozialdemokraten werden in die Illegalität getrieben, werden verboten, ihr Vereinsvermögen entzogen. Nach 1945 wird der Sozialdemokrat Karl Renner erster Staatskanzler und er stellt völlig außer Frage, dass das ‘34 geraubte Vermögen restituiert wird, während er explizit sagt, den Judenschaden wird man vom Volk nicht tragen können.
Kurz nach Kriegsende 1945 fielen 600.000 nachweisliche Nationalsozialisten unter das NS-Verbotsgesetz. Sie wurden, so weit sie Beamte waren, entlassen und durften sich politisch nicht betätigen. Christa Zöchling vertritt jedoch die Ansicht, dass das eigentlich nur halbherzige Maßnahmen waren, die mit Beginn des Kalten Krieges wieder rückgängig gemacht wurden
Christa Zöchling: Das Problem in Österreich war, dass die Entnazifizierung vor dem Hintergrund einer Lebenslüge stattfand. Österreich durfte sich als erstes Opfer Hitlers fühlen, und damit wurde verdeckt oder tabuisiert, dass Österreich doch sehr viele NSDAP-Parteimitglieder stellte und dass Österreich auch prozentuell gesehen sehr viele KZ-Wächter stellte. Das heißt, nachdem der Druck der Alliierten schwächer geworden ist - und er war dann eigentlich nicht mehr da im Jahre 1955, als Österreich den Staatsvertrag hatte - von diesem Augenblick an hat man nicht einmal mehr den Schein gewahrt.
Denn schon ab 1949 wurden viele österreichische Nationalsozialisten als sogenannte "Minderbelastete" erneut eingegliedert und kamen wieder in den Besitz ihrer vollen politischen Rechte. Das galt für 40 Prozent der zuvor entlassenen Lehrer, für Schauspieler und Musiker an den Bühnen und sogar für die neuen Mitglieder der traditionellen politischen Parteien. Hierzu
Wolfgang Neugebauer: Ja, diese Entwicklung, nämlich, dass ehemalige Nationalsozialisten, auch Angehörige der SS und sogar verbrecherische Organisationen in die SPÖ, aber auch in die ÖVP integriert worden sind, hat schon in den vierziger Jahren eingesetzt. Da ist es also einerseits um die Gewinnung von Wählerschichten gegangen. Bei der SPÖ ist auch noch ein besonderer Gesichtspunkt hinzugekommen. Nämlich, dass die SPÖ sehr viele im intellektuellen Bereich durch die Judenverfolgung, durch den Holocaust, verloren hat. Dadurch ist quasi eine intellektuelle Führungsschicht weggefallen und diese Defizite hat man dadurch wettzumachen versucht, dass man viele ehemalige Nationalsozialisten hereingeholt hat. Der BSA, der Bund Sozialdemokratischer Akademiker, war so eine Art Auffangbecken dafür. Auch solche Belastete, wie beispielsweise der Euthanasiearzt Dr. Heinrich Grosz, der Anfang der fünfziger Jahre in die SPÖ gekommen ist, dort Karriere machen konnte als Primarius, als Leiter eines Forschungsinstituts und erst im Jahr 2000 wegen Verdacht des Mordes vor ein Gericht gestellt worden ist.
Es gab noch viele andere Fälle dieser Art. So etwa 1956 der Fall des ehemaligen Anschlussministers und ersten FPÖ-Bundesobmanns Anton Reinthallers, 1965 der Fall des prominenten nationalsozialistischen Professors Taras Borodajkewycz, der durch antisemitische Bemerkungen eine Revolte auslöste, die sogar ein Todesopfer forderte.1975 der Fall des SS-lers Friedrich Peter, der als FPÖ-Bundesobmann 1970 mit der SPÖ unter Bruno Kreisky ein Stillhalteabkommen aushandelte, 1985 der Handschlag des Bundesministers für Landesverteidigung Friedhelm Frischenschlager mit dem vorzeitig entlassenen Mörder Walter Reder und schließlich 1986 der Fall Waldheim.
An eine kritische Aufarbeitung und Darstellung der eigenen nationalsozialistischen Verantwortung war in den sechziger und siebziger Jahren nicht zu denken. Und selbst die Widerstandsforschung, die es in den sechziger Jahren schon gab, stieß auf große Schwierigkeiten.
Wolfgang Neugebauer: Also die Widerstandsforschung hat in der Nachkriegszeit auch sehr große Widerstände gehabt. Es ist eben kein Zufall, dass das Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes erst im Jahre 1963 gegründet worden ist, und zwar nicht von der Regierung, sondern von ehemaligen Widerstandkämpferinnen, Verfolgten, die das mit bescheidenen Kräften aufgebaut haben. Und erst in den siebziger Jahren und noch mehr in den achtziger Jahren sind dann staatliche Förderungen hinzugekommen, die eine systematische Aufarbeitung des österreichischen Widerstandes ermöglicht haben.
Ein erstes Erwachen gab es 1975, als der Jude Bruno Kreisky, damaliger Bundeskanzler und Vorsitzender der SPÖ, ohne jede Einschränkung, Friedrich Peter gegen Simon Wiesenthal verteidigte, obwohl er die Enthüllungen von Wiesenthal genau kannte und wusste, dass Friedrich Peter einst aktives SS-Mitglied gewesen war. Christa Zöchling erzählt, wie es überhaupt zu solch einer politischen Solidarität zwischen der SPÖ und der FPÖ, zwischen einem sozialdemokratischen Juden und einem SS-ler kommen konnte.
Christa Zöchling: Das heißt, er hat, er, der österreichische Bundeskanzler und Jude, hat sich den ehemaligen SS-ler Friedrich Peter an seine Seite geholt, ist mit ihm nach Auschwitz gefahren, hat ihn dazu gebracht, dass sich dieser Friedrich Peter niederkniet und bereut und hat ihn in Schutz genommen, als seine SS-Mitgliedschaft und Ärgeres dann an die Öffentlichkeit kam.
Und Bruno Kreisky warf Simon Wiesenthal vor, eine halbherzige Vergangenheitsbewältigung zu praktizieren. Nämlich eine, die die Vertreter des totalitären austrofaschistischen Ständestaates nicht anklagt. In einem Interview mit dem ORF sagte er
Bruno Kreisky: Denn wo fängt man in der Vergangenheit an oder wo hört man auf mit der Vergangenheit. Für mich, der ich ein alter Illegaler bin - ja bitte hören Sie richtig - ein alter Illegaler bin, denn ich wurde als illegal zusammen mit meinen Freunden im Jahre ‘34 illegalisiert, durch ein illegales Regime in Österreich. Da wurde hingerichtet, da wurde geschlagen, geprügelt, gefoltert ! Ja, ich bin Zeuge dafür! Und damals begann das große Unglück. Und wir sollen also nur bei ‘38 beginnen.
Viele österreichische Zeitungen waren damals voll des Lobes angesichts so großer Bereitschaft zum Verzeihen. So schrieb etwa die "Neue Kronenzeitung" am 10. Mai 1975:
Das "Niemals vergessen" wäre ja ein schlechter Wahlspruch für die Regierung eines Staates, in dem Toleranz, Nachsicht und Güte zur Grundeinstellung der Staatsbürger gehören.
Und noch 1976 ergab eine Umfrage der Sozialwissen- schaftlichen Studiengesellschaft, dass nur 27 Prozent aller Befragten für einen Rücktritt von Friedrich Peter waren. 20 Prozent sprachen sich für seinen Verbleib aus und 43 Prozent betrachteten diesen Skandal als "eine innere Angelegenheit der FPÖ".
Wie ist es jedoch möglich, dass trotz der schrecklichen Bilanz des Zweiten Weltkrieges, Vertreter von so verfeindeten politischen Lagern zueinander finden ?
Historiker und Politikwissenschaftler führen dies auf die sehr komplexe österreichische Geschichte nach 1920 zurück. Denn während in Deutschland die verschiedenen Ideologien der Weimarer Republik klar voneinander zu unterscheiden waren, überschnitten sich im Österreich der ersten Republik die Interessen und Ziele der unterschiedlichen Parteien. Deutsch-Nationale und Sozialdemokraten suchten den Anschluss an Deutschland. Die einen aus nationalistischen Gründen, die anderen aufgrund ihrer "Revolutionserwartung", die sie erst mit Deutschland und dann mit dem Gesamteuropa verbinden sollte. Monarchisten und Christlich-Soziale suchten jeder auf seine Weise einen spezifisch österreichischen Weg. Der christlich autoritäre Ständestaat unter Engelbert Dollfuss und später dann unter Kurt Schuschnigg war eine sonderbare Mischung aus politischem Katholizismus, mittelalterlicher Ständestruktur und faschistoidem Gedankengut. Die Vertreter des Ständestaates, die gegen den Anschluss an das Nazideutschland kämpften, lösten das Parlament auf und verboten alle anderen Parteien. Die Historikerin Prof. Erika Weinzierl vom Institut für Zeitgeschichte in Wien beschreibt diese Zeit bis zum Anschluss folgendermaßen:
Erika Weinzierl: Man muss sagen, dass der autoritäre, christliche Ständestaat, den es von ‘34 bis ‘38 gegeben hat, sicher von der Mehrheit der Bevölkerung nicht akzeptiert war. Nicht von den besiegten Sozialdemokraten, schon gar nicht von den Nationalsozialisten, die waren ja alle verboten. Für den Ständestaat waren wohl die Christlich-Sozialen, viele Juden, treue Juden, die im letzten Moment noch eine hohe Geldspende für den Ständestaat gegeben haben, wo sie dann furchtbar zur Verantwortung gezogen worden sind.
So kam es, dass von 1934-38 Sozialdemokraten und Nationalsozialisten gemeinsam in den Gefängnissen des christlich autoritären Ständestaates saßen und nach dem Anschluss Österreichs an das großdeutsche Reich Christlich-Soziale und Monarchisten in die Konzentrationslager der Nazis verschleppt wurden. Hieraus entstanden dann die seltsamsten Schicksalsgemeinschaften. Für den Wiener Historiker Prof. Lothar Höbelt ist es deshalb auch nicht verwunderlich, dass sich Bruno Kreisky vor einen SS-Mann stellte.
Lothar Höbelt: Das heißt, der oft zitierten Lagerstraße von Dachau, wo also Sozialdemokraten und Christlich-Soziale gemeinsam in den Konzentrationslagern der Nazis inhaftiert waren, stand hier gegenüber eine andere Lagerstraße oder eine andere Bunkermentalität von Sozialdemokraten und Nationalsozialisten, die gemeinsam in den Kerkern des Ständestaates gesessen sind, was ja ganz besonders für Kreisky ad personam zutraf. Weil Kreisky war mit zwei hochrangigen SA-Führern gemeinsam eingesperrt, die ihm ‘38 geholfen haben und denen er nach ‘45 geholfen hat.
Nachdem Friedrich Peter also auch nach 1975 Bundesobmann der FPÖ blieb, steuerte diese Partei einen liberaleren Kurs an. Und sein Nachfolger, Vizekanzler Norbert Steger wollte nach 1980 die FPÖ sogar von bestimmten, extrem rechten Kräften befreien.
1986 übernahm Jörg Haider dann die Führung der Partei, die sich seither wieder offen national-populistisch gibt. Der damalige Bundeskanzler Franz Vranitzky, der sich als erster österreichischer Staatsmann öffentlich zur Mitschuld der österreichischen Nationalsozialisten bekannt hatte, kündigte sofort nach dem Haider-Putsch die damalige Koalition zwischen der SPÖ und der FPÖ auf.
Auch Bruno Kreisky fürchtete sich später vor einem erneuten Rechtsruck. Schon 1983, kurz vor seinem Rücktritt, hatte er ein paar Vertrauensleute zu sich gerufen, zu denen auch die Historikerin Erika Weinzierl zählte.
Erika Weinzierl: Das war der verstorbene Justizminister Broder, das war der Herbert Steiner, der Gründer des Dokumentationsarchivs, ein Kommunist. Leute seines Vertrauens, wie er gesagt hat. Und da hat der schon alte und müde Kreisky gesagt. Er sieht - das war vier Jahre vor dem Haider-Putsch - er sieht mit großer Sorge der Zukunft entgegen und zwar Entwicklung nach rechts. Und er möchte aber nichts Offizielles, Staatliches dagegen unternehmen, das wirkt nicht. Er möchte uns bitten, dass wir sozusagen als Privatleute darum uns kümmern und daraus was machen.
1984 hat Erika Weinzierl dann die Gesellschaft für Politische Aufklärung gegründet, die seither mit den Bildungs- und Forschungseinrichtungen des Landes, mit dem Verein Kritische Sozialwissenschaft und dem Dokumentationsarchiv des Österreichischen Widerstandes zusammenarbeitet. Den eigentlichen Beginn einer öffentlichen Diskussion über Österreichs nationalsozialistische Mittäterschaft legt Wolfgang Neugebauer jedoch in das Jahr 1986. Ausschlaggebend dafür war damals der Skandal um den Bundespräsidenten Kurt Waldheim, der die Öffentlichkeit nicht über seine Wehrmachtsvergangenheit aufgeklärt hatte.
Wolfgang Neugebauer: Ab 86' haben die ersten Diskussionen eingesetzt. Da waren Künstler, Literaten und später dann auch die Historiker, die sich ernsthaft mit dieser Frage auseinandergesetzt haben. Es gibt hier noch sehr viel Defizite in der sogenannten Täterforschung, und in den Schulen ist es erst noch viel später zum Tragen gekommen. Ich nehme an, dass es so in der zweiten Hälfte der neunziger Jahre eine gewisse Beschäftigung in den Schulen erfolgt.
Was dieser angestrebte historische Bewusstseinswandel dann im positiven Sinne bewirken soll, erklärte der Historiker Prof. Felix Kreisler schon in seinem 1987 erschienenen Artikel "Nationwerdung und Trauerarbeit."
Erst ein Abgehen von der in Österreich so verbreiteten Praxis der Selbstbemitleidung, während man anderen gegenüber ohne Milde vorgeht, ermöglicht ein echtes Aufarbeiten, echte Trauerarbeit, nicht nur vor allem über das eigene Schicksal, sondern über das Schicksal, das anderen bereitet wurde und an welchem so manche in Österreich aktiv oder passiv mitgewirkt haben.
Selbstmitleid und Trauerarbeit - damit kämpft Österreich schon seit der Zerschlagung des Habsburger Reiches. Es gibt viele offen gebliebene Fragen zur eigenen nationalen und kulturellen Identität, zur Abgrenzung gegenüber Deutschland und das ewige Gefühl, von den "Nationalismen" der anderen bedroht zu sein. Um zu vermeiden, dass diese Wunden der österreichischen Geschichte politisch missbraucht werden, plädieren heute viele österreichische Historiker für eine ehrliche Aufarbeitung der eigenen Vergangenheit.