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Späte Vergangenheitsbewältigung

Das Verhältnis zwischen Estland und seinem großen Nachbarn Russland ist schwer belastet: Im April ließ die estnische Regierung ein Sowjetdenkmal zu Ehren der Roten Armee aus dem Zentrum der Hauptstadt Tallinn entfernen. Nun droht ein bald beginnender Prozess die Beziehungen weiter zu belasten. Die estnische Staatsanwaltschaft hat einen 88-Jährigen wegen Völkermordes angeklagt: Er soll die Deportation von 251 Landsleuten im Frühjahr 1949 mitorganisiert haben. Ein Beitrag von Matthias Kolb.

    Der Name Arnold Meri ist allen Esten ein Begriff: Der heute 88 Jahre alte Mann war in der Sowjetzeit ein hoher kommunistischer Funktionär. Sein Cousin Lennart hingegen stand dem Regime kritisch gegenüber und wurde nach der Unabhängigkeit 1992 zum ersten Präsidenten gewählt. Zudem ist Arnold Meri ein hoch dekorierter Veteran des Zweiten Weltkriegs: Er erhielt die höchste aller Auszeichnungen und darf sich "Held der Sowjetunion" nennen. 2002 feierte er den "Tag des Sieges" auf Einladung von Russlands Präsident Wladimir Putin im Kreml - für viele in Estland ein Affront. Nun gerät Arnold Meri erneut in die Schlagzeilen. Die estnische Sicherheitspolizei hat ihn wegen Völkermordes angeklagt - ihm droht eine lebenslange Haftstrafe. Martin Arpo leitet die Ermittlungen:

    "Herr Meri wird beschuldigt, die Deportation von 251 Bauern von der Insel
    Hiiuma in sibirische Straflager koordiniert zu haben. Das Zentralkomitee der kommunistischen Partei in Estland schickte damals in jeden Verwaltungsbezirk einen Sondergesandten, der im Namen der Partei die Aktion gemeinsam mit dem Geheimdienst durchführen sollte. Herr Meri übernahm diese Rolle im Hiiuma-Bezirk."

    Am 25. März 1949 fand die Operation "Pribori" statt: Aus den damaligen
    Sowjetrepubliken Litauen, Lettland und Estland wurden mehr als 90 000
    Menschen deportiert. In Estland waren es 20.000 - zumeist Frauen und Kinder, denn mit der Aktion wurden vor allem die Angehörigen von Männern bestraft, die in den Wäldern gegen die Besatzer kämpften oder die nach Skandinavien geflüchtet waren. Arnold Meri beschreibt seine Rolle mit anderen Worten:

    "Diese Deportationen wurde vom KGB in Moskau minutiös geplant. Die Organisatoren hätten einer Person in meinem niedrigen Rang niemals erlaubt, dabei eine entscheidende Rolle zu übernehmen."

    Arnold Meri sagt, er sollte damals die Unterlagen der örtlichen KGB-Agenten kontrollieren und dafür sorgen, dass die Deportierten die ihnen garantierte Menge an persönlichem Besitz mitnehmen dürften. Vor Ort habe der KGB die Zusammenarbeit verweigert, weshalb er ein Beschwerde-Telegramm nach Tallinn schickte. Dieses ist in den Archiven aber unauffindbar. Meri braucht ein Hörgerät, aber er ist geistig hellwach. Er vermutet einen anderen Grund für die Anklage:

    "Die erste Befragung durch die Polizei fand 1995 statt, also vor zwölf Jahren. Jedes Mal, wenn ich in der Öffentlichkeit meine Meinung sage, die der politischen Elite und der Sicherheitspolizei meist nicht gefällt, dann wird das Thema wieder hervorgeholt."

    Nach der Verlegung des Kriegerdenkmals im April hatte Meri in russischen Medien das Vorgehen der estnischen Regierung scharf kritisiert. Unter Journalisten kursiert das Gerücht, dass es womöglich nicht zur Anklage gekommen wäre, wenn Meri geschwiegen hätte. Kriminalkommissar Martin Arpo weist die Vorwürfe zurück:

    "Die Untersuchung läuft nach einem klaren Muster ab: Wir überprüfen einen Verwaltungsbezirk nach dem anderen. Eines ist in der Forschung unbestritten: In der UdSSR wurden die wichtigen Entscheidungen von der Kommunistischen Partei getroffen. Der KGB war eher ein Instrument, um diese Politik umzusetzen."

    Seit 1995 untersucht die Sicherheitspolizei die Verbrechen der Besatzungszeit. Laut Kommissar Arpo sei auch die Zeit der deutschen Okkupation zwischen 1941 und 1944 überprüft worden, doch bislang gebe es keine Anklagen, denn der KGB habe alle Kollaborateure bestraft. Wegen ihrer Beteiligung an den sowjetischen Deportationen wurden bisher acht Männer verurteilt. Der Politik-Professor Andres Kasekamp hat die Fälle beobachtet - und auch die Reaktionen der Bevölkerung. Die Mehrheit wünsche sich eine Aufklärung der Fälle, doch von Rachegelüsten sei wenig zu spüren. Viele Esten hätten Mitgefühl mit den Angeklagten gehabt, allesamt alte Männer in niedrigen Positionen. Wenn es zum Prozess gegen Arnold Meri kommt, erwartet Kasekamp eine andere Reaktion:
    "Arnold Meri ist eine öffentliche Figur: Er provoziert gerne und hat etwas von einem Schauspieler. Seit den letzten Prozessen hat sich die Situation in Russland geändert: Der Sieg über Nazideutschland im so genannten Großen Vaterländischen Krieg hat dort mittlerweile einen wichtigeren Stellenwert. Er steht für Russlands neues Selbstbewusstsein. Wenn im Vorfeld der dortigen Wahlen ein Held aus diesem Krieg angeklagt wird, dann werden die russischen Medien das genau verfolgen. Das ergibt eine ziemlich explosive Mischung im Gerichtssaal."