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Spätfolgen

Medizin. - Das Schlafmittel Contergan hat einen der größten Arzneimittelskandale aller Zeiten ausgelöst. Etwa 5000 Kinder sind bis Anfang der 60er-Jahre mit schweren Behinderungen auf die Welt gekommen – mit zu kurzen Armen oder Beinen, taub, mit schweren Organschäden. Heute sind die Betroffenen über 50. Und vielen geht es körperlich schlecht. Das ist auch das Ergebnis einer Studie, die die Uni Heidelberg im Auftrag der Bundesregierung erstellt.

Von Marieke Degen | 07.12.2012
    "Das ist die rechte Schulter, da ist es ähnlich, ja, der Kopf ist einfach entrundet, dysplastisch und das ist eben ein klassischer Contergan-Schaden, wenn man das sieht mit den Ärmchen, die nur zwei Drittel an Armlänge haben."

    Der Orthopäde Jürgen Graf hält ein paar Kernspin-Aufnahmen gegen den Leuchtkasten.
    "Je mehr Sie das schonen, desto mehr wird die Schulter auch einsteifen, wenn man nichts dagegen tut."

    "Ich geh aber trotz Schmerzen eigentlich immer dagegen an, ja."

    Sein Patient hat das Hemd ausgezogen. Seine Arme sind viel zu kurz, die Hände nach innen verdreht. Er hat starke Rückenschmerzen.

    "Also die Wirbelsäule sieht eigentlich, wenn man bedenkt, dass Sie jetzt auch schon knapp über die 50 sind, leicht verschlissen aus, nicht dramatisch verschlissen, das ist jetzt kein Katastrophenbild, aber es gibt schon so kleine Randzacken da, die kleinen knöchernen Ausziehungen da, die haben da nichts zu suchen."

    In Deutschland leben rund 2400 contergan-geschädigte Menschen. Als Kinder haben sie fast schon akrobatische Bewegungsmuster erlernt, um selbstständig leben zu können. Sie tippen mit den Füßen, öffnen Flaschen mit den Zähnen, müssen sich für jede Bewegung verrenken. Jetzt sind sie über 50 und leiden immer mehr an Folgeschäden.

    "Die contergan-geschädigten Menschen beschreiben es so, dass sie sagen, sie fühlen sich heute, wenn sie sich vergleichen mit der Gesamtbevölkerung wie 70 bis 80jährige."

    Christina Ding-Greiner, Gerontologin von der Uni Heidelberg, hat die Lebenssituation der Contergan-Geschädigten untersucht. Dreiviertel aller Befragten haben mit Muskelschwäche, Arthrosen oder Bandscheibenvorfällen zu kämpfen. Viele haben heftige Schmerzen. Doch das ist vielleicht noch nicht alles, sagt Christina Ding-Greiner.

    "Ich denke, dass immer wieder jetzt Schäden zutage treten möglicherweise, von denen man noch gar nicht wusste."

    Der Wirkstoff von Contergan – Thalidomid – zerstört ganz junge Blutgefäße. Ohne Blutgefäße können sich Arme oder Beine oder Organe im Embryo nicht richtig entwickeln. Christina Ding-Greiner vermutet, dass Contergan das Gefäßsystem im ganzen Körper in Mitleidenschaft gezogen haben könnte.

    "Wir haben dann zunehmend gesehen, dass uns Contergan-Geschädigte erzählt haben davon, dass beispielsweise der Blutdruck schlecht zu messen ist und Blut schlecht zu entnehmen ist und daraufhin haben wir angefangen, das systematisch abzufragen, und da waren es relativ viele."

    Die Gefäße enden plötzlich oder sind gar nicht erst da, möglicherweise sind sie auch fragiler. Mit verheerenden Folgen. Ding-Greiner

    "In dem Sinne, als häufig Herzinfarkte auftreten, sehr früh, Schlaganfälle schon mit 40, 45, was sehr sehr ungewöhnlich ist und wir nehmen an, dass möglicherweise diese Krankheiten des Herz-Kreislauf-Systems zurückzuführen sind auf eine Fehlbildung und einer Nicht-Anlage von Gefäßen.""

    Bislang sei das nur eine Hypothese, betont Christina Ding-Greiner. Belege hat sie keine.

    "Das glaub ich nicht. Das wüsste ich","

    sagt Jürgen Graf, der Contergan-Spezialist aus Nürnberg,

    ""mir ist zumindest nicht aufgefallen, dass die Contergan-Patienten öfters einen Herzinfarkt haben oder öfters mal einen Schlaganfall haben – das ist in dem Alter ja doch noch ein sehr seltenes Ereignis, und das wäre mir aufgefallen."

    Die frühen Schlaganfälle und Herzinfarkte: Einzelfälle? Jürgen Graf betreut seit 28 Jahren Contergan-Patienten. Dass Blutgefäße und Nerven bei ihnen anders verlaufen, sei nicht neu, sagt er. Wenn ganze Gliedmaße fehlen, ginge das auch gar nicht anders.

    "Die sagen: Bei mir steht eine Blinddarm-OP an, und dann sage ich: Lassen Sie sich doch nicht verrückt machen. Ich habe noch nie gehört, dass da irgendwo etwas ungewöhnlich war."

    Die Heidelberger Studie soll Ende des Jahres abgeschlossen sein. Die Autoren haben erste Handlungsempfehlungen für die Politik erarbeitet. Eine davon lautet: Die mögliche Fehlanlage von Gefäße, Nerven und Muskeln sollte wissenschaftlich genau untersucht werden.
    Hinweis: Am kommenden Sonntag, 9. Dezember, 16:30 Uhr, sendet der Deutschlandfunk in der Sendung "Wissenschaft im Brennpunkt" das Feature Contergan zum Thema.