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Spätfolgen des Holocaust

Vor 68 Jahren haben Soldaten der Roten Armee das Konzentrationslager Auschwitz befreit. Bis heute gibt es Holocaust-Überlebende, die von den deutschen Wiedergutmachungszahlungen nichts bekommen haben und auf die Unterstützung einer Initiative angewiesen sind.

Von Stefan Maas | 27.01.2013
    "My Name is Tova Adler. 84 my age. Born in Tchechoslovakia."

    Tova Adler ist klein. Gerade einmal etwas über ein Meter fünfzig. Der Händedruck ist zart. Wenn sie zu ihren Gesprächspartnern aufschaut – und das muss sie meistens, sogar im Sitzen, fällt als Erstes ihr vergnügter Blick auf, mit dem sie ihr Gegenüber mustert. Beim Erzählen hält sie Blickkontakt.

    Es war alles geplant, sagt sie, alles durchgeplant. Sie sind nachts gekommen, damit die Nachbarn es nicht sehen, damit wir nicht sehen konnten, wo es hingeht.

    Es ist um den Jahreswechsel 1942/43. Tova ist damals 14 Jahre alt, das gute Leben der gebildeten, wohlhabenden Familie in Nova-Zamka ist schon lange vorbei. Das Mädchen näht mit ihrer Mutter aus Stoffresten und Putzlappen Taschen, die sie verkauft – verkleidet. Den gelben Stern, der sie als Jüdin verrät, nimmt sie dafür ab. Eine große Gefahr, doch die Familie weiß sich nicht mehr anders zu helfen. Sie muss Essen.
    Dann beginnen die Transporte:

    Als wir in der Nacht aus dem Haus getrieben wurden, habe ich nach meiner Familie gerufen, als ich festgestellt habe, dass wir uns immer mehr voneinander entfernten. Erzählt sie. Wir haben uns ja an den Händen gehalten, damit wir uns nicht verlieren. Ich habe nach allen gerufen. Nach meinem Bruder Tibi, meiner Schwester Lili und meinen Eltern. Die Leute haben gesagt, was schreist du denn so, geh weiter. Aber ich wollte zu meiner Familie.

    Das Mädchen ist klein – und als sie sich wehrt, packt sie ein Mann und wirft sie kurzerhand in den Zug.

    "Auschwitz. Arbeit macht frei."

    Tova Adler sitzt am Fenster, draußen scheint die Sonne, sie trägt ein buntes Halstuch, ihr Pullover ist schwarz mit einem Muster aus kleinen rosaweißen Schleifen. Und während sie erzählt, vom Kopfrasieren, von den grauen Kitteln für die Frauen und schließlich von der Flamme und dem großen Füllfederhalter, den sie benutzt haben, streckt sie den Arm aus und zieht den Ärmel zurück. Die Nummer. Blassblau auf dem dünnen Arm. 100 Stiche und mehr mit dem Federhalter, sagt sie.

    "Komm, duschen!"

    Als es schließlich darum ging, zum Duschen zu gehen, haben sich alle gedrängelt, erzählt sie. Jeder habe ein Handtuch bekommen und ein Stück Seife. Die habe sogar gut gerochen.

    Sie aber habe gedacht, da stimmt was nicht. Für jeden Schritt, den es vorwärtsging, machte sie zwei zurück. Sie war klein, es fiel nicht weiter auf, dass sie immer weiter zurückfiel. Dann gingen die Türen zu. Sie stand davor. Allein.

    "Steh auf! Komm mit!"

    Dort fand Sie eine Aufseherin, brachte sie zum Krematorium.

    Du bist stark, du hast Muskeln, du kannst das. Sagte die Frau und ließ sie Leichen schleppen, nach ein paar Tagen dann Steine im Steinbruch. Später, 1943, kam sie nach Dachau. Nach dem Krieg über Palästina nach Israel. Acht Jahre lang habe sie darüber kein Wort verloren.

    Geschichten wie die von Tova Adler gibt es viele in Israel, noch immer leben etwa 200.000 Überlebende des Holocaust. Eine Studie der "Stiftung zum Wohle der Holocaustopfer in Israel" aus dem Jahr 2011 hat gezeigt, dass etwa 60.000 von ihnen an oder unter der Armutsgrenze leben.

    Viele Jahre habe das Thema in Israel nur wenige interessiert. Es seien vor allem private Organisationen gewesen, die versucht hätten, das Thema in die Öffentlichkeit zu bringen. sagt Gita Koifmann, die als Einzige in ihrer Familie überlebt hat.

    40 Jahre lebe sie selbst schon in Israel. Habe lange nicht über ihre Erlebnisse gesprochen, habe sie verdrängt. Bis sie 2001 zu einer Konferenz von Holocaustüberlebenden eingeladen wurde.

    Es sei, als habe sie dadurch ein völlig neues Leben begonnen, erzählt die große Frau lächelnd, während sie sich die Brille zurechtrückt und sich schnell eine Notiz macht. Heute ist sie Vorsitzende der "Association of Concentration Camp and Ghetto Survivors." 29 Büros hat die Organisation im ganzen Land.

    Besonders Überlebende aus den Ländern der ehemaligen Sowjetunion hätten sehr mit Altersarmut zu kämpfen, erklärt Harald Eckert, der Vorsitzende der "Initiative 27. Januar":

    "Weil sie alle Pensionsansprüche aus der ehemaligen Sowjetunion verloren haben. Und weil sie als Bürger in der Sowjetunion von allen Wiedergutmachungszahlungen. Die sind alle an ihnen vorbeigegangen. Sie sind aus mehreren Gründen durchs Netz gefallen. Kommen im Alter nach Israel, können dort beruflich nicht mehr groß aktiv werden, keine Rentenansprüche erwerben. Und deswegen ist dort das Problem so besonders groß."

    2008 habe die Regierung zwar ein Gesetz auf den Weg gebracht, dass den Überlebenden eine kleine Rente zusichert. Das seien aber nicht mehr als 200-300 Euro und reichten bei Weitem nicht aus für teure Medizin und notwendige Behandlungen. Deshalb hat Harald Eckert im vergangenen Jahr mit seiner "Initiative 27. Januar" und drei israelischen Organisationen die Aktion "Würde und Versöhnung" ins Leben gerufen. Die soll bis 2015 laufen. 70 Jahre Kriegsende – und bedürftigen Überlebenden helfen.
    Einer der Aktionspartner unterhält in Israel über 50 Altenheime und Wohnprojekte. Günstiger Wohnraum für ältere. Unter ihnen auch viele Holocaustüberlebende. Dort, im Amigour Center in Tel Aviv, lebt auch Tova Adler seit acht Jahren.

    Als ich zu Amigour kam und als die die Nummer sahen, da haben sie gesagt, ja, euch Überlebende, euch wollen wir hier haben. Und da war ich endlich richtig angekommen.