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Spätromantischer Schmerzensmann

In der Frankfurter Inszenierung von Dostojewskis "Der Idiot" bleibt die Hauptfigur auf halber Strecke zwischen spätromantischem Schmerzensmann und sentimentalem Möchtegern-Guru stecken. Selten liegen in einer so hochkarätig besetzten Aufführung grandiose, dichte Momente und zerdehnte Phasen derart nahe beieinander, meint Cornelie Ueding.

Von Cornelie Ueding | 09.11.2013
    Ein Raum ohne Himmel, ohne natürliches Licht, nur mit perspektivischen Linien, ein Raum, dessen Decke sich nach vorne, zum Zuschauer hin, in großem Schwung öffnet, während die Figuren hinten nur kauern oder kriechen können, so bedrohlich ist die massive schwarze Wand hinter und über ihnen: das ist der Gesprächsraum für Stephan Kimmigs Bühnenfassung von Dostojewskis Roman. Immer wieder erzittern die Wände in einer Art Blitzlichtgewitter und suggerieren die Spannungszustände, die Fürst Myschkin, der nervenkranke, hoch sensible und äußerst reizbare "Idiot", bei den epileptischen Anfällen erlebt. Myschkin ist das Gravitationszentrum des Romans und von Stephan Kimmigs szenischer Adaption. Auf ihn bewegt sich alles zu, alle anderen scheinen an seinen Fäden zu hängen. Er zieht die Strippen – und entzieht sich allen. Vor allem den beiden Frauen.

    Aglaja, die er möglicherweise liebt, und Nastassja, die er möglicherweise liebt, die in ihren Nischen und Verschlägen, wie schlafende Hunde lauern, hervorkriechen und ihn umarmen oder umschlingen, ihn imitieren, parodieren, wie Klone an ihm hängen, ihn liebkosen oder ihn von sich stoßen. Und da gibt es glänzend gelungene szenische Augenblicke, die gleichzeitig Distanz und Nähe zeigen. So wenn Aglaja in den wuchernden, ziellosen Dialogen plötzlich Myschkins detailgenaue Beschreibung einer Hinrichtung einfordert und all seine Körperbewegungen, seine Sichtweise mit schiefem Kopf und verdrehten Gliedern aufnimmt, spiegelt, imitiert – und dabei von Neugier und Sensationslust, also ganz anderen Gefühlen bestimmt ist als er.

    All dies lässt er, mit mildem Lächeln abwehrend, hoheitsvoll duldend an sich abgleiten. So auch, wenn Myschkin den Diener, der sich im Endlosfluch ... schlapp, schlapp, schlapp ... verheddert und zusammenbricht, en passant durch Handauflegen zum Schweigen bringt oder eine verzweifelnde, ihn zugleich adorierende und hassende Selbstmörderin mit lässig blasierten Gesten regelrecht abfertigt. Mit professioneller Gleichgültigkeit reicht er der Sterbenden das Mikrophon, damit sie ihre Seelenqual ein letztes Mal herausschreien kann. Gleichzeitig – und das entlarvt die Perfidie solcher Erlösungsszenarien - verstärkt er ihre Albträume, indem er sie buchstäblich verkörpert: er zwängt Kopf und Brust der Kranken in seine Arme und inspiziert sie mit verhohlener Intensität – im Gestus der Beiläufigkeit.

    Dieses ganz neue Bild von Myschkin, dem "einzig vollkommenen Menschen", dem "Fürsten Christus", könnte sehr anregend sein, wenn Kimmig nicht auch noch versucht hätte, Dostojewskis gesamte Weltanschauung en gros und en détail mit auf die Bühne zu wuchten und sie mit lauter weiteren zappelnden, stammelnden, ichbezogenen, hysterischen Myschkin-Epigonen, Doppelgängern und Kopien zu bestücken.

    Der Kaufmannssohn Rogoschin, dem es immer nur ums Geld geht, ist nicht weniger paranoid als sein "edles" Gegenüber, der Diener nicht weniger als sein Herr; und auch die Damen, ob Aglajas Mutter, die sentimental in ziellosem Idealismus schwelgende gute Seele, ob die schöne, verruchte, gefährlich schimmernde Nastassja, unschuldig und bedrohlich, verzweifelt und souverän zugleich – alle sind sie wie der Protagonist Virtuosen falscher Gefühle und echter Gesten. Denn Myschkin, der behauptet, er habe keine "Gesten" für seine Liebe, seine Gefühle und müsse nach den richtigen Gesten suchen, hat genau diese statt der Gefühle.

    Zunehmend wird er zum Erlöser-Darsteller mit Erlöser-Gesten, reduziert auf besänftigend erhobene Hände, gen Himmel gereckte Arme, Pieta-Posen, Kreuzigungs-Pathos und Märtyrergetue. Das ist, vor allem im zweiten Teil des dreieinhalbstündigen Abends, zu viel für ironisch gemeintes, distanziertes Zitieren. Weder wagt Kimmig den radikalen Bruch mit Dostojewskis masochistischer Manie noch mit dessen religiös grundierten Erlösungsphantasien – und so bleibt die Hauptfigur auf halber Strecke zwischen spätromantischem Schmerzensmann und sentimentalem Möchtegern-Guru stecken. Selten liegen in einer so hochkarätig besetzten Aufführung grandiose, dichte Momente und zerdehnte Phasen derart nahe beieinander.

    Das mag daran liegen, dass Erlöser und Erlösung-Suchende in dieser Konzeption inflationär und damit ununterscheidbar werden, allmählich jede Perspektive verloren geht und sich eine gewisse Lethargie breitmacht. Nach dem ästhetisch kaschierten Mord an Nastassja stehen Myschkin und Rogoschin, sein Rivale, Kumpel und Feind, der an zermatschten Apfelsinen zeigen durfte, zu welchen Messerattacken er fähig ist, lässig an der Rampe und pfeifen sich eins.