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Spaghetti-Moleküle und künstliche Zellen

Biotechnologie. - Die Biotechnologie ist in ihrer Dynamik kaum von einer anderen Branche zu übertreffen. Nach der Euphorie um die Sequenzierung des menschlichen Erbgutes dringen jetzt neue Schwerpunkte wie Proteomik oder Systembiologie mehr in den Vordergrund und auch in den Fokus des öffentlichen Interesses. Die neuesten Trends in dem stürmischen Fach wurden jetzt auf dem 20. Jahrestagung der Biotechnologen in Wiesbaden vorgestellt. Besonders faszinierten dabei nanometergroße künstliche Zellen.

    In Golm, nahe Potsdam, beschichten Forscher handelsübliche Siliziumwafer - Halbleiterscheiben, aus denen normalerweise Chips hergestellt werden - mit Mustern aus Wachs. Die Formen gleichen etwa Eiskristallen, doch ihre Nadeln sind gerade Nanometer dick. "Ein molekular dünner Wachsfilm wird unter die Schmelztemperatur abgekühlt, verfestigt sich und bildet dann mehr oder weniger kristalline, zweidimensionale Strukturen aus. Die Formen gleichen dann entweder Eiskristallen oder verästeln sich baumartig als so genannte Seetangstruktur von einem Punkt aus in alle Richtungen", erklärt Hans Riegler vom Max-Planck-Institut für Kolloid- und Grenzflächenforschung. Doch für ein Lichtmikroskop sind die Linien des Wachses viel zu fein. Die Brille der Brandenburger Wissenschaftler ist vielmehr das Rasterkraftmikroskop, dass mit einer atomfeinen Nadel die Oberflächen wie ein Plattenspieler abtastet.

    Weil die Wachsmoleküle Spaghetti gleichen und wie diese in ihrer Packung nebeneinander liegen, sind sie für die Experimente in Golm besonders gut geeignet. Doch Hans Riegler kann sich auch praktischen Nutzen solcher Nanostrukturen vorstellen: "Wenn ich eine Oberfläche mit unterschiedlichen Materialien strukturiere und dadurch etwa das Benetzungsverhalten verändern kann, könnte so ein Lotuseffekt erzeugt werden, an dem kaum etwas haften bleibt." Durch strukturierte Anlage solcher wasserabweisenden Areale sowie Stellen, an denen etwa Wasser sehr gut haften bleibt, könnte überdies eine Mikrofluidik erzeugt werden, die Flüssigkeiten über vorgezeichnete Feinstkanäle leitet. Vorstellbar werden damit Mikroreaktoren, fingernagelgroße Chemielabors der Zukunft.

    Gleich mehrere Lagen von Nanometer dünnen Kunststoffschichten können Forscher heute auch um kleinste Teilchen legen. "Mit einem Lösungsmittel können dann die Kernteilchen wieder herausgelöst werden – es verbleiben dann hohle Nanokapseln", so Riegler. Nicht nur die Größe und Dicke der feinsten Hüllen können so exakt gesteuert werden, sondern auch ihre Durchlässigkeit für bestimmte Stoffe. Bei Erwärmung solcher Nanobälle wird ihre Hülle so porös, das umgebende Stoffe eindringen können. So können etwa Farbstoffe oder Arzneiwirkstoffe eingelagert werden. Anschließend werden die wasserabweisenden Transportballons durch Abkühlung versiegelt und sind für den Einsatz bereit. Gegenüber den bereits in der Medizin verwendeten Fettbällchen, den Liposomen, besitzen die Kapseln aus so genannten Polyelektrolytkunststoffen besondere Vorteile: "Sie sind quasi Zellmodellsysteme, in deren geschlossenem Inneren beispielsweise Reaktionen ablaufen können. Überdies kann die Hülle alle möglichen Funktionalitäten erhalten", berichtet Riegler. Anwendungen für solche vielseitigen, künstlichen Zellen seien heute noch gar nicht absehbar.

    [Quelle: Hellmut Nordwig]