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Spaltung der Arbeitswelt

Die Arbeitsgesellschaft wandelt sich dramatisch. Arbeitsverhältnisse werden immer unsicherer, Familien können kaum noch von einem Gehalt leben. Das Soziologische Forschungsinstitut Göttingen lud zu einer Diskussion über die Folgen dieser Veränderungen ein.

Von Jakob Epler | 09.02.2012
    "Wenn wir über die gegenwärtige Veränderung von Arbeitsgesellschaft reden, dann ist schon ein wichtiger Punkt zu sagen, dass der 'male-breadwinner' eine Sozialfigur ist, die im Aussterben begriffen ist."

    Volker Wittke ist Präsident des Soziologischen Forschungsinstitut Göttingen, des SOFI. Der "male-breadwinner", der Mann als Alleinverdiener, sorgte im Fordismus für den Lebensunterhalt der Familie. Seine Ära begann nach dem ersten Weltkrieg. Benannt ist diese Zeit nach dem amerikanischen Automobilpionier Henry Ford. Der ließ Fahrzeuge kostengünstig am Fließband produzieren und zahlte hohe Löhne. Die industrielle Massenproduktion versprach Vollbeschäftigung, soziale Absicherung und grenzenlosen Konsum.

    "Fordismus wird dann zurecht assoziiert mit so etwas wie fordistischer Normalarbeit. Dass es eben unbefristete Beschäftigung gab, Vollzeitbeschäftigung gab. Dass es geregelte Arbeitszeiten gab, dass diese Arbeit eingebunden war in Arbeitsmarktregulierungen, die auch für diejenigen, die jetzt temporär ohne Beschäftigung waren, Sicherheiten boten. All diese Aspekte spielen im Rückblick stärker eine Rolle und die durchaus kritisch zu sehenden inhaltlichen Punkte, die werden im Rückblick nicht so stark betont."

    Der Fordismus dient Soziologen wie Wittke als eine Folie. Er ist ihr Ausgangspunkt wenn sie die moderne Arbeitsgesellschaft deuten. Sie sind sich einig, dass das fordistische Modell seit den 1970er Jahren unter Druck geraten ist. Jürgen Habermas hatte deswegen bereits 1985 über "Die neue Unübersichtlichkeit" geschrieben und darauf hingewiesen, dass etablierte gesellschaftliche Standards ihre Gültigkeit einbüßen. Die Göttinger Arbeitssoziologen traten nun an, Ordnung in ihr Forschungsfeld zu bringen. Wo verlaufen Grenzen, welches sind die Konturen der neuen Arbeitsgesellschaft? Durch was wird das übersichtliche fordistische Modell ersetzt? Zentral ist dabei der Begriff Prekarität, also die schwindende soziale Sicherheit wegen zunehmend unverbindlicher oder befristeter Arbeit. Berthold Vogel ist einer der beiden Direktoren des SOFI und er leitet am Hamburger Institut für Sozialforschung die Forschungsgruppe "Die Mitte der Gesellschaft. Wohlfahrtsstaat und Klassenstruktur in Europa".

    "Man könnte gerade davon sprechen, dass etwas wie eine Verminijobung der öffentlichen Dienste stattgefunden hat, dass eine Verleiharbeitisierung des Automobilsektors stattgefunden hat. Also man merkt, dass in all den Bereichen, die eigentlich mal ein Hort von Beschäftigungssicherheit waren, von Karrieresicherheit waren, dass sich dort doch die Verhältnisse sehr grundlegend verändert haben. Dass in der Tat eine bestimmte Form von Unsicherheit, Ungewissheit, Fragmentierung, Brüchigkeit, Unverbindlichkeit finde ich da ein ganz zentrales Stichwort, in mittlere Berufslagen und Statuslagen Einzug gehalten hat."

    Dies führt dazu, dass der Mann als Alleinverdiener auf dem Rückzug ist. Sein Gegenstück, die fordistische Hausfrau, gehört damit ebenfalls zu einer aussterbenden Art. Bislang führte sie den Haushalt und zog die Kinder groß, die den "male-breadwinner" im Arbeitssystem ersetzten, wenn er einmal alt geworden war. Das nennt man Reproduktion und die muss nun anders organisiert werden. Denn die fordistische Hausfrau findet sich selbst auf dem Arbeitsmarkt wieder und trägt unter oft prekären Bedingungen zum Unterhalt der Familie bei. Kerstin Jürgens ist Soziologieprofessorin in Kassel. Sie beschäftigt sich mit den Auswirkungen, die veränderte Arbeit auf Familien und soziale Netzwerke hat. Jürgens spricht von einer "Krise der Reproduktion."

    "Die Frauenrolle hat sich verändert. Frauen definieren sich stärker auch über Erwerbstätigkeit. Jetzt ist die Frau mindestens teilzeitbeschäftigt und wir haben eben auch einen Anteil von Haushalten, einen steigenden Anteil, wo Frauen dann die Familienernährerin sind. Und interessanterweise – man könnte jetzt ja sagen, müsste sich die Arbeitsteilung im privaten Haushalt ändern – die Männer müssten diesen gesteigerten Erwerbsanteil der Frauen kompensieren. Und wir stellen fest: Das findet nicht statt, sondern im Grunde ändert sich die Arbeit dadurch, dass die Frau einfach ihre Ansprüche aufgibt, dass sie selbst ihren Anteil reduziert, oder dass extern Dienstleistungen eingekauft werden, dass man sich über Putzhilfe, Kinderbetreuung das Ganze handhabbar macht."

    Die Direktorin des SOFI, Nicole Mayer-Ahuja, relativiert die These von der "Krise der Reproduktion". Sie glaubt, dass nicht alle gesellschaftlichen Gruppen von ihr betroffen sind.

    "Eine Schlussfolgerung, die ich aus der Tagung ziehen würde, ist, dass es mit der Verallgemeinerung von Reproduktionskrise nicht so besonders weit her ist. Sondern, dass wir schon feststellen, dass es diese Zuspitzung von der Frau Jürgens eben spricht, dass Erwerbsarbeit und Reproduktionsarbeit kaum noch in Einklang zu bringen sind, vielleicht doch, wenn man genauer hinschaut auf bestimmte Teile der Beschäftigten in besonderem Maße zutrifft, die dann auch besondere Probleme haben, damit umzugehen. Und dass das vor allen Dingen in Bereichen eben stattfindet, wo man tatsächlich über Polarisierung reden muss."

    Polarisierung war für die Teilnehmer an der SOFI-Tagung der Schlüssel, um die neue Arbeitsgesellschaft zu beschreiben. Eine allgemeine Prekarisierung stellten sie nicht fest. Für bestimmte gesellschaftliche Gruppen bleiben demnach fordistische Errungenschaften wie sichere Arbeitsplätze, hoher Lohn und soziale Sicherheit erhalten. Reproduktion funktioniert für sie weiterhin über familiäre Arbeitsteilung oder zumindest durch marktförmige Äquivalente, also Dienstleistungen wie die einer Tagesmutter. Anderen Gruppen ist das nicht mehr möglich.

    Mayer-Ahuja glaubt, dass diese Entwicklung nicht einfach so passiert. Laut der SOFI-Direktorin ist sie politisch gewollt. Letztlich gehe es um ökonomische Kosten.

    "Eine allgemeine Prekarisierung würde, glaube ich, einem großen Teil der deutschen Wirtschaft auch seine Konkurrenzfähigkeit und seine Produktivität kosten. Insofern glaube ich nicht, dass daran irgendjemand ein Interesse haben kann. Was aber wohl ökonomisch rational sein kann, ist eine Politik der Polarisierung. Wenn es nämlich stimmt, dass es Tendenzen gibt, die hochqualifizierten Stammbelegschaften zu stabilisieren, durch Formen von Personaleinsatz aber eben auch durch bestimmte Formen von Politik – also denken sie an das Kurzarbeitergeld während der letzten Wirtschaftskrise zum Beispiel. Während man andererseits prekäre Ränder aufbaut, die eben günstiger arbeiten, weniger stabil beschäftigt sind und so weiter, dann ist das natürlich eine gute Lohnkostensenkungsstrategie."

    Die Göttinger Konferenz war der Auftakt der Reihe "SOFI – Work in Progress". Jedes Jahr wollen die Göttinger Arbeitssoziologen von nun an ihre Forschung für eine breitere Diskussion öffnen.