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"Spanien im Wandel"

Geschichte vergeht nicht. Allein deshalb nicht, weil sie immer wieder neu geschrieben wird. In Spanien hat man seit Francos Tod ein sehr eigenes System entwickelt, mit dem Erbe der Diktatur umzugehen. Man hat es gleichsam mit dem Diktator eingesargt, um den Übergang in die Demokratie nicht zu gefährden. Das hat funktioniert, jener Übergang kann nur mustergültig genannt werden.

Von Gregor Ziolkowski | 12.11.2004
    Aber die Geschichte vergeht nicht, und ihre versteckten Leichen geben keine Ruhe. Seit Jahren läuft die Erinnerungsmaschinerie auf Hochtouren, und wer sich heute - sei es mit einem Buch, einem Theaterstück oder einem Film - dem Thema Bürgerkrieg und Repression in der frühen Diktatur widmet, der muss mittlerweile und zuallererst den Verdacht aus dem Weg räumen, er habe auf einen Konjunktur-Gaul aufgesattelt. Nigel Townson, in Madrid lehrender Historiker und Organisator dieses Kongresses, hat für diese thematische Konzentration im Prinzip vollstes Verständnis.

    Es waren die härtesten Jahre der Diktatur, wir reden über Bürgerkrieg und Repression, Konzentrationslager, über eine große Hungersnot und auch die unsichersten Jahre der Diktatur. Bis 1948 bestand die Möglichkeit, dass das Franco-Regime zu stürzen gewesen wäre. Aber dann hat es in der Betrachtung einen großen Sprung gegeben, nämlich bis zur transición, bis zum Wandel nach Francos Tod, der wieder die Aufmerksamkeit auf sich gezogen hat. Die Jahrzehnte dazwischen - bis 1975, dem Todesjahr Francos - sind praktisch vergessen worden.

    Es gilt hier, eine Lücke zu schließen, in der Entscheidendes passierte.

    Die sechziger und vor allem die siebziger Jahre bedeuten einen Wandel hin zum Wandel. Das heißt: man kann die transición, den Wandel nach 1975, und selbst das heutige Spanien nicht verstehen, wenn man die großen wirtschaftlichen und sozialen Wandlungen der sechziger und der siebziger Jahre nicht betrachtet.

    Es sind die Jahre der Modernisierung der Wirtschaft, des aufkommenden Massentourismus, der massenhaften Auswanderung und der dekadenten Phase der Diktatur. Walther Bernecker von der Universität Nürnberg skizziert das verfestigte Bild über diese Zeit:

    Die herkömmliche Vorstellung vom späten Franquismus ist ja die: Das ist eine Gesellschaft in Bewegung, hier tut sich außerordentlich viel. Es braut sich die Opposition gegen Franco zusammen, die Arbeiter, die Studenten, die Regionalisten, alle sind gegen ihn. Und am Schluss stürzt dieses System mit seinem Tod zusammen, und die Demokratie kommt praktisch wie eine reife Frucht.

    Ein Mythos, der zumindest einiger Ergänzungen bedarf. Lageberichte aus Provinzstädten aus jenen Jahren, die Antonio Cazorla von der Universität Trent in Kanada analysiert hat, sprechen von einer beachtlichen Ruhe und von einer an Wohlstand und Konsum orientierten Gesellschaft. Diese Lageberichte offenbaren auf der anderen Seite, wie die Macht das Feld des Politischen immer stärker vernachlässigte.

    Pamela Radckiff von der Universtity of California hat anhand der Statuten von Nachbarschaftsvereinen nachgewiesen, wie sich diese immer stärker politisierten. Wo Parteien und politische Organisationen gänzlich verboten waren, eröffnete sich ein zunächst ganz unverdächtiger Aktionsraum, auf dem man dennoch politisch handeln konnte, wenn auch nur auf lokaler Ebene. Ihre These, hier sei ein Teil jener Zivilgesellschaft entstanden, die später so erfolgreich den Übergang in die Demokratie bewältigte, klang kühn, aber dennoch plausibel.

    Cristina Palomares von der London School of Economics hat das vielfältige Spektrum der Gesprächskreise und Reformzirkel untersucht, in denen über politische Alternativen debattiert wurde. Auch hier ist der zweite Blick überaus aufschlussreich: Getarnt als kommerzielle, religiöse oder kulturelle Vereinigungen, wurden diese Organisationen durchaus nicht nur von linken Gegnern des Regimes betrieben. Unter ihren Gründern und Vordenkern finden sich selbst Minister aus der Regierung des Diktators.

    Manche der hier vorgestellten Untersuchungen sind mit Vorsicht zu genießen, und es waren die Historiker selbst, die darauf immer wieder hingewiesen haben. Wo man - weil anderes Material nicht zur Verfügung steht - auf Daten und Quellen des Regimes zurückgreifen musste, sind Zweifel an deren Verlässlichkeit angebracht. Aber es ging auch nicht um Endgültiges und um die Formulierung neuer Mythen. Die Tür zu einem "vergessenen" Kapitel der jüngsten spanischen Geschichte hat diese Tagung allemal aufgestoßen.