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Spanische Literaturgeschichte

Der kunstlose Titel - "Spanische Literaturgeschichte" - sagt, was es ist. Wer allerdings vom Titel auf einen eher trocken konventionellen Lehrtext schließt, wird bereits beim Durchblättern von dem sich in den zahlreichen Abbildungen manifestierenden inhaltlichen Spektrum überrascht. Es ergibt sich aus der Zeitspanne; das Buch umschließt die Geschichts- und Literaturepochen von rund neunhundert Jahren, und reicht, wie der erste Blick zeigt, vom Kreuzgang auf der ersten bis zu den "Frauen am Rande des Nervenzusammenbruchs" auf der vorletzten Seite. Vom bildlichen Hinweis auf eines der frühen sogenannten Denkmäler der spanischen Literatur also - dem Kreuzgang eines der Klöster, wo im 10. Jahrhundert die nicht mehr lateinisch, sondern spanisch geschriebenen Texte entstanden - bis zum zeitgenössischen Film. Im vorliegenden Fall dem Film im Spiegel der Werbung. Denn es ist Spaniens international bekanntester Filmregisseur, Pedro Almodovar höchstselbst, der auf einem Werbefoto zusammen mit seinen "Frauen am Rande..." zwecks Propagierung des genannten Films posiert. Die Abbildungen, die man auf den Lesepfaden zwischen Kloster und Nervenzusammenbruch findet, sind intelligent ausgewählt, sehr verschiedenartig, immer erhellend und nicht selten überraschend erheiternd. Wie zum Beispiel jene Miniatur aus dem 13. Jahrhundert, dem Zeitalter Alfons des Weisen, die aufs Anschaulichste eine "Cántiga" illustriert. Einen Gesang, in dem erzählt wird, wie Christus vom Kreuz steigt, um eine Nonne zu ohrfeigen, die mit einem Ritter durchbrennen will. Unter den modernen Dichtern haben insbesondere Ezra Pound sowie auch der nicaraguanische Dichter-Priester Ernesto Cardenal dies uralte lyrisch epische Genre wieder aufgegriffen.

Rosemarie Bollinger |
    Die hier vorgestellte "Spanische Literaturgeschichte" hat fünf Autoren. Es sind an der Seite des Herausgebers, Hans-Jörg Neuschäfer: Sebastian Neumeister und Gerhard Poppenberg,Berlin; Manfred Tietz, Bochum; sowie Jutta Schütz, Saarbrücken. Neuschäfer, seit langen Jahren Professor an der Universität des Saarlands, eröffnet sie unorthodox; mit einer Liebeserklärung: "1932 schrieb Juan Ramón Jiménez, den die Lyriker der Generation von 1927 als ihren Meister verehrten, für Gerardo Diegos berühmte Anthologie eine Selbstcharakteristik, die in dem schönen Satz gipfelte: "Ich halte in meiner Wohnung - weil sie es wollte und ich auch - die Poesie versteckt. Und unsere Beziehung ist die der Leidenschaftlichen."

    Der Stoff ist, der historischen Chronologie folgend, in fünf Sektionen gegliedert: Mittelalter, Goldenes Zeitalter, 18.,19. und 20. Jahrhundert. Das Hauptgewicht der Darstellung liegt auf dem 19. und 20. Jahrhundert. Wobei das unsrige das sogenannte Silberne Zeitalter, die Künstlergruppe der "Generation von 1927" einschließt, der der Dichter Federico Garcia Lorca,der Maler Salvador Dali und der Filmregisseur Luis Bunuel angehörten, um nur drei zu nennen. Ferner: die Jahre des Spanischen Bürgerkriegs, die Ära der Franco-Diktatur sowie die Entwicklungen und Strömungen in der heutigen spanischen Demokratie.

    Es versteht sich von selbst, daß in seiner "Spanischen Literaturgeschichte" die Stärken - die ihr eigene Lebendigkeit, Dynamik und geistige Sprengkraft - erst dann wirklich zutagetreten, wenn man sie nicht als Nachschlagewerk benutzt, sondern wenigstens längere Abschnitte kontinuierlich liest. Die Stärken ergeben sich im Wesentlichen aus dem Umstand, daß der Herausgeber und seine Co-Autoren aus einer entschiedenen Perspektive zählen und daß ihre Narration auf einem Geschichts- sowie einem Literaturbegriff basiert.

    Im Zusammenhang mit dem eingangs bereits erwähnten Literaturbegriff, dem Faktum, daß das Buch u.a. auch die neuen Medien berücksichtigt - die Kolportageliteratur im 18. und 19., das Studententheater und den Film in unserem Jahrhundert - weist Neuschäfer im Vorwort daraufhin, "daß unsere Darstellung keinen engen Literaturbegriff (der in Spanien ohnehin nie so maßgebend wurde wie in Deutschland) verpflichtet ist, zumal wir die Literatur als 'Lebensäußerung' betrachten,die nicht losgelöst von den historischen Umständen zu verstehen ist, aus denen sie hervorgegangen ist und auf die sie zurückwirkt."

    Den Geschichtsbegriff klärt Manfred Tietz, Autor des Beitrags über das Mittelalter. Am konkreten Beispiel: dem "Cantar de Mio Cid" bzw. den erst Mitte dieses Jahrhunderts wiederentdeckten "jarchas"; lyrischen Texten, die in einer spanisch-arabischen und spanisch-hebräischen Mischsprache geschrieben worden sind. Darüber grenzt er sich von einer durch Nationalismus und Positivismus geprägten Literaturgeschichtsschreibung ab. Ideologien, die ihm in zweifacher Hinsicht nicht geeignet erscheinen, eine geistige Kultur zu erfassen. Er konstatiert: "Zum einen werden die frühen Denkmäler in einer positivistischen Hochschätzung der 'Schriftlichkeit' überbewertet. Die überlieferten lyrischen und epischen Texte sind aber zufällig erhaltener Rest einer umfassenden 'oralen Literatur', Niederschriften von Dichtungen, die lange zuvor in der 'Mündlichkeit' existiert haben ... Zum andern ist es wichtig, die frühen Denkmäler eingebettet in ihren historischen Kontext zu sehen und zu bewerten. Sie dürfen nicht als ‘creatio ex nilo’ in einem gänzlich kultur- und literaturleeren Raum verstanden werden, als prometheische Leistungen, in denen sich die Nationalliteratur selbst gebiert ..."

    Durch diese Geschichtsauffassung, die es, bezogen auf das Mittelalter, u.a. erlaubt, die in Spanien entstandenen lateinisch, arabisch und hebräisch geschriebenen Texte mit einzubeziehen, bringt Tietz dem Leser scheinbar fernliegende Zeiten und viele der sogenannten Denkmäler sehr nahe. Die Epoche der vorigen Jahrtausendwende, zum Beispiel. Oder das in der Geschichte der Menschheit einzigartige "Zeitalter der Toleranz"; die fast achthundert Jahre bis 1492, in denen auf spanischem Boden Christen, Juden und Muslime zusammen lebten. Die Religion der Toleranz war damals der Islam gewesen: "Zu den Grundideen gehörte die Vorstellung, daß es in der Religion keinen Zwang geben darf (Koran, 2. Sure,126), was zur Tolerierung von Juden und Christen als Angehörigen der beiden anderen Buchreligionen führte."

    Die fünf Autoren dieser Spanischen Literaturgeschichte geben durch ihr Fachwissen Denkanstöße, die, so man möchte, das Sujet transzendieren. Sie schärfen die Sicht für Strömungen unter der Oberfläche; für Wechselwirkungen, Kontinuitäten und Grenzüberschreitungen. So weist Manfred Tietz, um mit einem Blick auf das Mittelalter zu schließen, u.a. auf die fatalen Spuren des im Jahr 636 gestorbenen Isidor von Sevilla noch in der heute gültigen demokratischen Verfassung Spaniens hin. Den literarischen Spuren der aus Spanien vertriebenen Juden und Muslime nachgehend aber ebenso darauf, "daß überraschenderweise selbst Cervantes seinen "Don Quijote" als Werk des Arabers Cide Hamete Benengall und als Übersetzung aus dem Arabischen ausgibt, einer Sprache, deren Gebrauch seit Mitte des 16. Jahrhunderts verboten war."