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Spannung auf Spitzen

Der Australier Terence Kohler hat sich in den vergangenen acht Jahren in Deutschland den Ruf erworben, einer der bemerkenswertesten Nachwuchschoreografen des Landes zu sein. Mit "Série Noire", seiner ersten Inszenierung als freier Choreograf in München, überzeugt er erneut.

Von Wiebke Hüster |
    So gut wie in Terence Kohlers neu geschaffenem Handlungsballett "Série Noire" hat das Bayerische Staatsballett vielleicht noch nie getanzt. Und das liegt nicht allein an der aufregenden Ästhetik des auf der klassischen Sprache basierenden Stücks und der Atmosphäre, die das Wort Mord in eine Geschichte hineinträgt. Der Titel "Série Noire" - "Schwarze Serie" bezeichnet zwar ein Genre, das mit den amerikanischen Detektivfilmen der vierziger Jahre entstand und im Film Noir seine berühmtesten Beispiele finden sollte - und daher rührt die enorme Spannung, die über diesem Abend liegt zuerst. Die düstere Atmosphäre, die nächtlich verlassenen Straßen von Großstädten, die in Einsamkeit und Zynismus getauchten Detektivgestalten, deren Gesichter nach ihren schlaflosen Nächten so zerknittert aussehen wie ihre selten abgelegten Trenchcoats - all das überträgt Kohler auf die riesige leere Bühne des Münchner Prinzregententheaters. Alen Bottaini gibt den Detektiv, der versucht, den Tod einer Ballerina auf offener Bühne aufzuklären und dabei auf zwei weitere mysteriöse Todesfälle von Tänzerinnen stößt - 50 Jahre zuvor in Paris und um 1900 in St. Petersburg. Jedes Mal handelte es sich um dasselbe Ballett. Doch nicht nur Bottaini ist ein großartig undurchsichtiger, zergrübelter Detektiv. Mia Rudic als St. Petersburger Ballerina und Geliebte des Zaren spielt so traumhaft verloren, dass man glaubt, Marius Petipas Tänzerin Matilda Kschessinskaja in ihrem Verhältnis zu Zar Nikolaus II. zuzuschauen. Im Paris der 50er-Jahre ist es eine ganz neue, ganz unpathetische Lucia Lacarra, die ihrem wirklichen Ballettdirektor Ivan Liska begegnet, nur unterbrochen von ihrem eifersüchtigen Partner Cyril Pierre - im wirklichen Leben Lacarras Mann. Und auf der dritten Handlungsebene, den Vorgängen in einer zeitgenössischen Ballettcompagnie, die das mysteriöse Ballett neu einstudieren will, sind es gleich vier Protagonisten, deren Spiel man atemlos verfolgt. Vincent Loermans tanzt den charismatischen Choreografen, scheu, stolz, unnachgiebig, besessen von seiner Arbeit.

    Großartig sein Zusammenstoß mit der divenhaften Roberrta Fernandes. Sie sträubt sich gegen seine Schritte und scheitert an seinen Bewegungen.

    Über seiner wachsenden Ungeduld verliert der Choreograf schließlich das Interesse an ihr und besetzt die Rolle mit ihrer Rivalin Ekaterina Petina. Fernandes weiß ja nicht, dass ihre Ungeschicklichkeit ihr das Leben retten soll. Und Petinas Freund, herausragend getanzt von Nikita Korotkov, weiß noch nicht, dass seine Eifersucht bald von unermesslicher Trauer übertroffen werden wird, wenn seine Geliebte tot auf der Bühne liegt.

    Kohler verschränkt, zu verschiedenen Kompositionen von Philip Glass, diese verschiedenen Epochen und Schauplätze auf faszinierende Weise und verschränkt die Dreierkonstellationen von Ballerina, Liebhaber und Choreograf so miteinander, dass man begreift, hier geht es gar nicht um die konkrete Auflösung einer Detektivgeschichte, die Rätsel dreier Morde. Sondern um eine These über das romantische und klassische Ballett, dessen größte Rollen für die weiblichen Protagonisten immer tödlich ausgingen - ob in "Schwanensee", "La Sylphide" oder "Giselle".

    Sodass man, in die Gegenwart übertragen sagen könnte, die Tänzerin ist eine Projektionsfläche männlicher Fantasien, eine Figur, die zerrieben wird zwischen Realität und Bühne.

    Um das Unaufgelöste dieser Konstellation zu betonen, lässt Kohler wiederholt - auch nach dem Applaus noch einmal - auf einer großen Leinwand Filmaufnahmen des tödlichen Augenblicks einspielen: Mitten im Pas de deux strauchelt die Tänzerin, ihr Partner merkt, irgendetwas stimmt nicht mit ihr: Da kippt sie ihm auch schon weg, entgleitet tot seinen Händen. Entsetzt umsteht das Ensemble die Tote und den über sie hingeworfenen Tänzer. In "Série Noire" hat Kohler, mit 25 Jahren noch gar nicht dem Tänzeralter entwachsen seine Ideen über das Handlungsballett und seine historischen Wurzeln entscheidend weiterentwickelt. Die Münchner Tänzer konnten sich mit diesem Vorhaben von einem, der so jung ist wie sie, so leidenschaftlich identifizieren wie lange nicht.