Mein Name ist Moon. Fletcher Moon.
Das klingt schwer danach, als wollte jemand in Bonds Fußstapfen treten. Aber weit gefehlt - zumindest, was den Erzählton angeht:
" Mein Name ist Moon. Fletcher Moon. Und ich bin Privatdetektiv. In den zwölf Jahren, die ich auf dieser rotierenden Kugel verbracht habe, die wir Erde nennen, habe ich viele Dinge zu Gesicht bekommen, für die normale Menschen keinen Blick haben. Ich habe Frühstücksdosen gesehen, die geplündert waren bis auf das Obst, Hausaufgaben-Fälscherringe, die landesweit operieren, und Lastwagenladungen von Lollis, die man kleinen Kindern aus der Hand gerissen hatte. Ich dachte, ich hätte schon alles gesehen. Doch ich hatte mich geirrt. Und wie ich mich geirrt hatte. Vor einem Monat klopfte ein Fall an meine Tür, der mich tatsächlich auf den Gedanken brachte, das Detektivgeschäft ein für alle Mal an den Nagel zu hängen. "
Philip Marlowe lässt grüßen. Raymond Chandlers berühmter Privatdetektiv stand Pate, als der Ire Eoin Colfer, Erfinder des Meisterdiebs Artemis Fowl, die Seiten wechselte und mit dem zwölfjährigen Fletcher Moon eine Figur geschaffen hat, die Verbrechen nicht begeht, sondern mit unbeirrbarer Spürnase und lässigen Sprüchen aufklärt. Eine Serie mysteriöser Diebstähle erschüttert das friedliche Städtchen Lock. Und wer, wenn nicht "Fletcher Moon. Privatdetektiv" - so der Titel von Eoin Colfers Kinderkrimi - würde es schaffen, den Übeltätern auf die Schliche zu kommen. Eoin Colfer erzählt rasant, mit viel Spaß an seinen liebenswürdig überzeichneten Figuren. Und selbst der krimierfahrene Leser weiß nicht schon nach der Hälfte des Buchs, wie es ausgeht. Was für die heute vorgestellten Titel insgesamt gilt: Sie sind spannend, weisen am Ende oft eine oder gar mehrere überraschende Wendungen auf, und man kann lustig mitraten, ohne aber zu schnell auf die Lösung zu kommen. Was will man von einem gut gebauten Krimi mehr? Egal, für welches Alter.
Ohnehin orientieren sich die heute vorgestellten Krimis und Thriller für junge Leser genauso an den Vorbildern und Konventionen des Genres wie die so genannten Erwachsenenbücher. Und sie stehen ihnen auch sonst in nichts nach: Weder was die Vielfältigkeit der Plots noch die der Subgenres betrifft, denn vom historischen Schmöker bis zum Science Fiction wird alles geboten. Wie eine Lektüre quer durch das, was der aktuelle Büchermarkt hergibt, deutlich macht.
Fletcher Moon mag zwar manchmal wie Bond sprechen, verlässt sich jedoch ansonsten - ganz Privatdetektiv alter Schule - lieber auf Logik und Intuition. Bei Agententhrillern für Jugendliche dagegen ist der britische Gentleman-Spion schon wegen seines Waffen- und Zubehörarsenals allgegenwärtig. Man nehme das zweite Abenteuer des Jungspions Alex Rider von Anthony Horowitz: "Gemini-Project", das jetzt auch als Hörbuch vorliegt. Ein gewisser Mr Smithers vom britischen Geheimnisdienst - das Pendant zu James Bonds berühmtem Q - versorgt den vierzehnjährigen Alex vor seiner neuen Mission mit der notwendigen Ausrüstung.
"Der Discman verwandelt sich in eine elektrische Säge. Die CD ist eine diamantene Trennscheibe, kann alles durchsägen. Ich habe auch einen Alarmknopf eingebaut. Wenn die Bombe platzt und du Hilfe benötigst, dann drück dreimal darauf. Es wird dann ein Signal ausgesendet, das von unserem Satelliten empfangen wird. Und dann können wir dich herausholen."
"Danke, Mr Smithers", sagte Alex. Aber es war nicht zu übersehen, dass er etwas enttäuscht war.
Smithers verstand sofort. "Ich weiß, was du willst, aber du weißt, es geht nicht. Keine Waffen! Mr Blunt ist darin absolut unerbittlich. Er findet, du bist zu jung dafür."
Ohne Waffen geht in Krimis normalerweise gar nichts. Aber Joe, der sechzehnjährige Protagonist unserer zweiten Agentenstory heute - "Mein Bruder, der Spion" von Ken Roycroft -, sieht das im Gegensatz zu Alex Rider so:
Die Pistole, die sie erbeutet hatten, ließ Joe allerdings im Wagen. Er verabscheute solche Mordinstrumente. Er und seine Freunde würden sich auf ihre Cleverness und Schnelligkeit verlassen müssen.
Egal, ob Joe in "Mein Bruder, der Spion" Freundin Kimmy und Bruder Pete aus den Fängen finsterer nordkoreanischer Agenten befreit, oder ob Alex Rider in "Gemini Project" die Machenschaften eines skrupellosen Wissenschaftlers aufdeckt - gab es da nicht auch mal einen gewissen Dr. No? - die Abenteuer der minderjährigen Agenten sind genauso actionlastig wie die ihrer erwachsenen Kollegen und wollen vor allem eins: mit den bekannten Versatzstücken so gut wie möglich unterhalten.
Zu Waffen greifen die heute vorgestellten Jungdetektive nicht; sie verlassen sich lieber auf ihr Köpfchen und die modernen Hilfsmittel, die jedem Schüler ohnehin zur Verfügung stehen: Handy und PC. Es wird gegooglet und gehackt, was das Zeug hält. Und auch, wer sich in die Niederungen der Detektivarbeit begibt - sprich: viel nachts zu Fuß gehen oder an zugigen Ecken warten muss -, verzichtet nicht auf Technik. So wie Kiffo und seine Freundin Calma, die in dem wunderbar durchgeknallten Roman des in Australien lebenden Briten Barry Jonsberg "Die Sache mit Kiffo und mir" ihre geliebte Englischlehrerin - Spitzname Pitbull - beschatten müssen.
"Wir sollten das Telefon vom Pitbull abhören", sagte Kiffo.
"Genial", entgegnete ich. "Und wie stellen wir das an?"
"Keine Ahnung, Calma. In den Filmen klettern sie einfach die Telefonmasten hoch. Vielleicht können wir ihre Leitung ja an eins von unseren Telefonen anschließen und dann mithören."
"Bei deinem Glück würdest du garantiert die Starkstromleitung erwischen und gegrillt werden."
"Was ist mit dem Baumarkt?", fragte Kiffo, nachdem er sich eine Weile am Hinterkopf gekratzt hatte. "Vielleicht haben die ja was zum Selberbasteln?"
"Einen Wie-zapfe-ich-ein-Telefon-an-Baukasten? Neben dem Bau-dir-deine-eigene-Maschinenpistole und Denk-dir-deinen-eigenen-Sprengkörper-aus? Ah ja, ich glaube, der ist gerade im Sonderangebot."
"Ja klar. Klugscheißer."
Rauh, aber herzlich der Ton zwischen Kiffo und Calma, einem auf krimi-klassische Art ungleichen Ermittlerduo: Calma, Klassenbeste, die mit einer hart arbeitenden, alleinerziehenden Mutter in einer netten Vorstadt wohnt. Dagegen Kiffo aus dem Schmuddelviertel, der Asi der Schule mit dem Säufervater. Klingt nach Klischee, wird aber von Barry Jonsberg mit soviel Liebe zu den Figuren ausgefüllt, dass man "Die Sache mit Kiffo und mir" nicht mehr aus der Hand legen will: Wegen der geistreichen Beobachtungen über Lehrer, Schüler und Eltern; wegen der bittersüßen Geschichte zweier ungleicher Freunde, die bei aller Flapsigkeit ans Herz geht; und nicht zuletzt wegen der temporeichen Handlung, in der Kiffo und Calma den Drogendealern auf die Spur kommen, die indirekt den Tod von Kiffos Bruder verschuldet haben.
Ein Toter, der genauso wenig ermordet wurde wie Kiffos älterer Bruder - auch in Tim Wynne-Jones poetischem Jugendroman "Dieb im Haus der Erinnerung" stellt sich am Ende heraus, dass der Mann, dessen Leiche der sechzehnjährige Dec Steeples in der Bibliothek des alten Familiensitzes findet, Opfer eines tragischen Unfalls und seiner eigenen Gier geworden ist. Doch bis dahin begibt Dec sich auf die Suche nach seiner vor Jahren spurlos verschwundenen Mutter und muss sogar seinen eigenen Vater verdächtigen. Trotzdem kann und will Dec die Augen nicht länger vor der Vergangenheit verschließen. Wieder und wieder macht er sich auf den Weg nach Steeples Manor, zum "Haus der Erinnerung". Ein düsteres, schlossartiges Gebäude, das verlassen und einsam auf einem bewaldeten Hügel liegt - Hitchcock lässt grüßen. In Decs intensiv auflebenden Erinnerungen ist seine schmerzlich vermisste Mutter dort immer noch so gegenwärtig, dass man meinen könnte, sie wäre auch in der Realität zurückgekehrt. Ein fesselndes Buch, auch wegen der dezenten Anleihen aus dem Horrorgenre.
Dec ging durchs Haus und machte im Gehen die Lichter an. Durch das Esszimmer - klick. Durch den gewölbten, schmalen Flur, der in die geräumige Küche führte - klick. Links zur Speisekammer - klick. Wieder links zum Dienstboteneingang - klick. Ein drittes Mal nach links zur Kellertür. Klick.
Die Treppe war steil und knarrte unter seinem Gewicht. Unten angekommen, zog er an einer Kordel, und eine nackte Glühbirne leuchtete auf, allerdings nicht annähernd hell genug in der geballten Dunkelheit.
Dec ging geduckt unter den Rohrleitungen durch einen Korridor, den breite Regale säumten, auf denen trübe Gurkengläser und uralte dunkle Gläser mit eingewecktem Obst standen. Hier musste er lang. Klick. Je weiter er vordrang, umso dürftiger kam ihm das Licht vor. Die Decke wurde niedriger, Wände und Schränke schienen ihm bedrohlich nahe zu kommen. Es roch nach Feuchtigkeit und Fäulnis.
Mit angehaltenem Atem ging Dec auf die Werkbank zu und spähte in jede dunkle Ecke. Dann tastete er nach der Kordel, die darüber hing. Klick.
Auch in "Was geschah in Echo Falls", dem ersten Jugendroman des amerikanischen Autors Peter Abrahams, deckt ein unerschrockener junger Mensch mutig die dunklen Seiten der Vergangenheit auf. Nur dass die dreizehnjährige Ingrid es mit einem echten Mord zu tun bekommt, der quasi vor ihrer Nase geschieht - im Stockwerk über ihr, als sie im heruntergekommenen Haus einer stadtbekannten Ekzentrikerin darauf wartet, dass der Regen aufhört und sie zum Fußballtraining kann. Ein Zufall also, ein alltäglicher Moment, der allerdings dazu führt, dass die Hauptfigur unfreiwillig in die gefährlichsten Situationen verwickelt wird - wie Cary Grant in "Der unsichtbare Dritte". Auf typische Hitchcock-Art nutzt "Was geschah in Echo Falls" die Technik des Suspense: Wir, die Leser, sind der Ermittlerin einen halben Schritt voraus und spüren dadurch umso stärker die Gefahr, in die Ingrid sich begibt. Aber auch, dass man recht früh ahnt, wer der Mörder ist, tut dem Lesevergnügen keinen Abbruch. Dafür macht es zuviel Spaß, Ingrid dabei zu beobachten, wie sie trotz ihres Scharfsinns in Sackgassen tappt.
Ingrids Unterbewusstsein brodelte und schmiss in einem Höllentempo die Sachen durcheinander. Turnschuhe - rote Pumas und mit Farbe bekleckste Adidas -, den erhängten Tonband-Mann; den Abschiedsbrief, den Philipp Prescott geschrieben hatte, das fehlende Bei Anruf Mord-Programm mit der ängstlichen Katie und der Männersilhouette drauf. All das drehte sich um sie herum wie ein Albtraum in einem schlechten Film.
Ingrids großes Vorbild ist Sherlock Holmes, der im Übrigen häufiger durch die hier erwähnten Krimis und Thriller geistert als James Bond, Alfred Hitchcock oder alle anderen Helden der Zunft zusammen.
Ingrid ermittelt allein, bildet damit eine Ausnahme. Fast immer haben die jugendlichen Detektive einen Partner - den besten Freund, die Lieblingsfeindin... Wobei sich im Hintergrund häufig ein erwachsener Profi tummelt, vor dem man sein Treiben tunlichst verbirgt. Oder den man, wenn es brenzlig wird, eben doch um Hilfe bitten kann. Das mag ein Chief Inspector sein, eine Kriminalkommissarin oder ein Constable - je nachdem, wo und wann der Roman spielt. Constable Avory im "Maskenmörder von London", Nina Blazons historischem Jugendkrimi, bringt uns zurück ins 18. Jahrhundert, ins London Georg Friedrich Händels, als die Menschen das Theater noch so blutig ernst nahmen, dass wahre Fans in ihrer Begeisterung buchstäblich über Leichen gingen. Vorhang auf!
Eine Winde begann zu quietschen, Ferrantes Sicherungsseil spannte sich. Dann ging ein bewunderndes Murmeln durch den Bühnenraum. Mit ausgebreiteten Flügeln erhob sich Ferrante und flog. Eine Schiene führte das Seil im Halbkreis über das Publikum und das Orchester. Ferrante war Ikarus und flog singend übers Meer, der Sonne entgegen. Bis er schließlich programmgemäß abstürzte. Das geschah allerdings so abrupt, dass die Zuschauer erschrocken herumfuhren. Lucius sprang auf. Im Hintergrund sah er gerade noch, wie ein loses Seil über den Boden schleifte und zwischen zwei azurblau bemalten Wellen aus Holz verschwand.
Das Ermittlerpärchen besteht in "Der Maskenmörder von London" aus der Schleifenmacherin Célestine sowie dem jungen Adeligen Lucius, auch er - wie Ingrid in "Echo Falls" - Zeuge des Mordes; denn natürlich ist das lose Seil nicht gerissen, sondern wurde in tödlicher Absicht durchgeschnitten. Célestine und Lucius müssen sich allerdings schwer zusammenraufen, bevor sie Constable Avory den Täter zuführen können. Nina Blazon entwirft für ihre reizvoll verwickelte Geschichte um den begnadeten italienischen Tenor Amorelli, der zu Unrecht des Mordes an seinem Konkurrenten Ferrante beschuldigt wird, eine prachtvolle, gut recherchierte Kulisse. Beim Lesen lernt man auf angenehme Weise so einiges über das Londoner Leben vor zweihundertfünfzig Jahren oder die Oper des Barock.
Von der Vergangenheit in die Zukunft: Ein beängstigendes Bild unseres Planeten zeichnet die Britin Gwyneth Jones, die unter dem Pseudonym Ann Halam Jugendbücher veröffentlicht. In ihrem Science-Fiction-Thriller "Siberia" herrscht auf der Welt eine neue Eiszeit - auch politisch. Das Mädchen Rosita wird mit ihrer Mutter in einen fiktiven Gulag verbannt, weil die Eltern verbotene Forschungen betrieben haben: Sie haben Samen entwickelt, so genannte Lindquists, die das Erbgut ausgestorbener Wildtiere in sich tragen. Niemals würde Rosita dieses Geheimnis freiwillig verraten. Doch als die sonst so strenge Direktorin ihres Internats sie mit Süßig- und Freundlichkeiten einlullt, erzählt Rosita arglos, was die Mutter ihr alles Interessantes beigebracht hat. Mit grausamen Konsequenzen.
Die Direktorin teilte mir mit, Naturwissenschaften zu unterrichten sei, ein schweres Verbrechen und meine Mama würde angemessen dafür bestraft werden. Aber ich bräuchte keine Angst zu haben, ich würde keinen Ärger bekommen. Das Morgenrot sei stolz, die Tochter solch hervorragender Forscher zu unterrichten, auch wenn meine Eltern einem gefährlichen Irrtum erlegen seien. Wahrscheinlich habe ich mich sogar bedankt. Man muss laut und vernehmlich Danke sagen. Es genügt nicht, wenn man nur nickt und auf den Boden schaut. Man darf nichts für sich behalten, nicht einmal seine Wut. Sie wollen alles. Und sie wollen es ganz.
Die Direktorin sagte mir nicht, wo meine Mutter war. Ich fragte nicht danach.
Sie wurde weggebracht.
Sie wurde weggebracht.
Weggebracht wie mein Vater und erhängt oder erschossen.
Und ich wusste, wer schuld daran war. Nicht die Polizei und auch nicht die Frau Direktorin. Ich war schuld. Ich war elf Jahre alt und hatte meine Mutter umgebracht. Sie musste sterben für zwei Stück Kuchen und den süßen Geschmack künstlicher Marmelade.
Rosita flieht aus dem Internat; nach abenteuerlichen Irrfahrten gelingt es ihr, die Lindquists in Sicherheit zu bringen. Allerdings ist Ann Halam eine viel zu seriöse Erzählerin, um diesem beklemmenden Thriller ein ungebrochenes Happy-end aufzupropfen. Dazu ist der Autorin der Realismusfaktor ihrer Vision zu wichtig. Und das bei einer Handlung, die in einer unbestimmbaren Zukunft spielt. Bei einer Heldin, die noch ein Kind ist und doch Erfahrungen machen muss, die den meisten Erwachsenen ein Leben lang erspart bleiben.
Ähnlich ergeht es Hannah in Tore Tungoddens originellem Politthriller für Kinder, "Die Ministerpräsidentin". Der norwegische Journalist entwirft in seinem Debütroman ebenfalls eine plausible Utopie, allerdings eine, die in der Gegenwart spielt: Die zehnjährige Hannah wird von einer ominösen Partei namens "Stimme der Zukunft" bei der Wahl zum Ministerpräsidenten als Kandidatin aufgestellt, gewinnt tatsächlich und regiert mit ihrem Kinderkabinett das Land so gescheit, wie man es sich von den realen Politikern dieser Welt nur wünschen kann. Bis Hannah den enigmatischen Gründer ihrer Partei kennenlernt. Und dahinterkommt, wie ihr unglaublicher Aufstieg zustande kam.
"Und worum ging es bei dieser Wette?"
Der kleine dicke Mann drückte seinen Zigarrenstummel im Aschenbecher aus. "Ganz einfach: Wenn ich ein Kind an die Spitze der norwegischen Regierung bringen könnte, würde ich hundert Millionen Kronen und eine Kiste allerfeinster kubanischer Zigarren bekommen."
"Aber wie hast du das geschafft?"
Fredrik Rekk zog eine neue Zigarre hervor und ließ sie zwischen Mittelfinger und Zeigefinger auf und ab wippen.
"Das reine Kinderspiel. Du musst nur wissen, was eine Partei ist und wie eine Regierung gewählt wird. Danach brauchst du bloß noch auf die richtigen Knöpfe zu drücken. Ich hatte das Gefühl, dass ein Kind als Spitzenkandidatin garantiert noch besser ankommen würde als das genialste Spielzeug, das jemals erfunden werden kann."
Obwohl ich vor dem warmen Kamin saß, lief es mir eiskalt den Rücken runter.
Doch bis zu dieser Szene ist Tore Tungoddens "Ministerpräsidentin" eine unbekümmerte Lektion über die Gesetze der Politik - vergnüglich nicht nur für Kinder, denen spielerisch der Ernst des Regierens nahe gebracht wird.
Überwiegend heiter geht es auch in "Anne, Bankräuberkurt und der Plastiktütenschatz" von Erwin Grosche zu. Im klassischen Kinderkrimi-Ton erzählt der bekannte Kabarettist die Geschichte eines Banküberfalls mit Hindernissen.
Brat-Kurt schob zwei gefaltete Marktkauftüten durch den Glasschlitz. "Pa... pa... packen Sie alles ein, was wertvoll ist", sagte er unruhig, "aber dalli!"
Herr Brönner überlegte nicht lange hinter seinem Schalter und packte als Erstes seinen aktuellen Jahreskalender in die Marktkauftüte, steckte hastig vier Parkscheiben dazu und holte aus einer Schachtel fünf Sparkassenkugelschreiber, um sie dem Räuber zu überlassen.
"He, Sie... Sie... Sie Scherzkeks", zischte Brat-Kurt, "ich will Ihr Geld."
Wie der Bilderbuchganove Brat-Kurt und sein Komplize Auto-Meier ihre Beute verlieren und wieder gewinnen und was die kleine Anne Kleine damit zu tun hat, die das Geld zufällig in dem rostigen VW-Bus ihres Bruders Berti entdeckt, wird locker-flockig erzählt, wobei die Spannung nicht auf der Strecke bleibt. Zumal auch dieses Kinderbuch die gängigen Krimi-Ingredienzien beinhaltet: Täter, Opfer und Ermittler, Geheimnis und Motiv.
Die Gesetze des Handwerks beherrscht natürlich auch Krimispezialistin Susanne Mischke, die mit "Nixenjagd" ihr erstes Jugendbuch vorgelegt hat. Die Spannung ihrer Geschichte über den tragischen Ausgang eines nächtlichen Badeausflugs, von dem die sechzehnjährige Katrin nicht zurückkehrt, baut sich von Seite zu Seite stärker auf. Das fängt bei der Beschreibung von Katrins letzten lebenden Momenten an - Gänsehaut garantiert.
Wie wohltuend die Stille unter Wasser war. Als befände man sich auf einem anderen Planeten. Vielleicht auf dem hellen Stern direkt über ihr. Als sich etwas um ihre Taille schlang, erschrak Katrin fürchterlich. Ihr Aufschrei ging buchstäblich unter. Sie schluckte Wasser. Verzweifelt versuchte Katrin, sich aus dieser eiskalten Umklammerung zu winden. Sie stieß und strampelte mit den Beinen, ihre Hände krallten sich in die Arme, die sie nun an Hals und Brustkorb festhielten. Doch es war keine menschliche Haut, die sie berührte. Unaufhaltsam wurde sie in die Tiefe gezogen, dorthin, wo das Wasser eiskalt war.
In "Nixenjagd" sind die Jugendlichen Opfer und gar potentielle Täter, aber nicht die Ermittler. Das besorgt ein Trio "richtiger" Kriminalbeamter, was aber der Nähe der Autorin zu ihren jugendlichen Protagonisten keinen Abbruch tut. "Nixenjagd" ist ein klassisches Whodunnit, dessen Hauptfigur Franziska, die beste Freundin der getöteten Katrin, in einem zünftigen Showdown gegen den Mörder antreten muss.
Franziska rannte. Sie rannte, wie sie noch nie gerannt war, sprang über Steine und junge Bäume hinweg, Zweige schlugen ihr ins Gesicht. Der keuchende Atem hinter ihr kam trotzdem immer näher. Sie schrie auf, als eine Hand nach ihrer Schulter griff.
Und uff - wenn der Showdown heil überstanden und der Verbrecher entlarvt ist, dürfen auch die Ermittler endlich entspannen und dem Leser in bester Hercule Poirot-Manier auf den letzten Seiten noch die Erklärungen für alle offen gebliebenen Fragen liefern. Wieder mal wird eine Konvention des Genres bedient. Wie überhaupt Krimis für junge Leser sich strukturell sowie im Variationsreichtum der Milieus, Plots und Charaktere kaum von denen für Erwachsene unterscheiden. Nur: Die Hauptpersonen sind unter zwanzig. Und dann manchmal doch ein wenig überwältigt von der Schlechtigkeit der Welt, die sie bei ihren riskanten Unternehmungen aufgedeckt haben.
Mein Name ist Moon. Fletcher Moon. Und ich bin mir nicht sicher, ob ich noch Detektiv sein will.
Doch Fletcher hat die Rechnung ohne seinen Partner Red Sharkey gemacht.
"Wir sollten einen Namen finden für unsere Agentur", meinte Red. "Du kannst der Boss sein, Fletcher, der mit dem Hirn. Und ich bin der Gutaussehende, der die größeren Risiken eingeht."
Ich spürte, wie so etwas wie Leben in mich zurückkehrte. Wir würden den Ball flach halten müssen. Unter dem Siegel der Verschwiegenheit ermitteln, bis Mom und Dad reif waren für die Idee. Aber wir würden ein gutes Team abgeben. Wir hatten ja schon einen Fall geknackt.
Das klingt schwer danach, als wollte jemand in Bonds Fußstapfen treten. Aber weit gefehlt - zumindest, was den Erzählton angeht:
" Mein Name ist Moon. Fletcher Moon. Und ich bin Privatdetektiv. In den zwölf Jahren, die ich auf dieser rotierenden Kugel verbracht habe, die wir Erde nennen, habe ich viele Dinge zu Gesicht bekommen, für die normale Menschen keinen Blick haben. Ich habe Frühstücksdosen gesehen, die geplündert waren bis auf das Obst, Hausaufgaben-Fälscherringe, die landesweit operieren, und Lastwagenladungen von Lollis, die man kleinen Kindern aus der Hand gerissen hatte. Ich dachte, ich hätte schon alles gesehen. Doch ich hatte mich geirrt. Und wie ich mich geirrt hatte. Vor einem Monat klopfte ein Fall an meine Tür, der mich tatsächlich auf den Gedanken brachte, das Detektivgeschäft ein für alle Mal an den Nagel zu hängen. "
Philip Marlowe lässt grüßen. Raymond Chandlers berühmter Privatdetektiv stand Pate, als der Ire Eoin Colfer, Erfinder des Meisterdiebs Artemis Fowl, die Seiten wechselte und mit dem zwölfjährigen Fletcher Moon eine Figur geschaffen hat, die Verbrechen nicht begeht, sondern mit unbeirrbarer Spürnase und lässigen Sprüchen aufklärt. Eine Serie mysteriöser Diebstähle erschüttert das friedliche Städtchen Lock. Und wer, wenn nicht "Fletcher Moon. Privatdetektiv" - so der Titel von Eoin Colfers Kinderkrimi - würde es schaffen, den Übeltätern auf die Schliche zu kommen. Eoin Colfer erzählt rasant, mit viel Spaß an seinen liebenswürdig überzeichneten Figuren. Und selbst der krimierfahrene Leser weiß nicht schon nach der Hälfte des Buchs, wie es ausgeht. Was für die heute vorgestellten Titel insgesamt gilt: Sie sind spannend, weisen am Ende oft eine oder gar mehrere überraschende Wendungen auf, und man kann lustig mitraten, ohne aber zu schnell auf die Lösung zu kommen. Was will man von einem gut gebauten Krimi mehr? Egal, für welches Alter.
Ohnehin orientieren sich die heute vorgestellten Krimis und Thriller für junge Leser genauso an den Vorbildern und Konventionen des Genres wie die so genannten Erwachsenenbücher. Und sie stehen ihnen auch sonst in nichts nach: Weder was die Vielfältigkeit der Plots noch die der Subgenres betrifft, denn vom historischen Schmöker bis zum Science Fiction wird alles geboten. Wie eine Lektüre quer durch das, was der aktuelle Büchermarkt hergibt, deutlich macht.
Fletcher Moon mag zwar manchmal wie Bond sprechen, verlässt sich jedoch ansonsten - ganz Privatdetektiv alter Schule - lieber auf Logik und Intuition. Bei Agententhrillern für Jugendliche dagegen ist der britische Gentleman-Spion schon wegen seines Waffen- und Zubehörarsenals allgegenwärtig. Man nehme das zweite Abenteuer des Jungspions Alex Rider von Anthony Horowitz: "Gemini-Project", das jetzt auch als Hörbuch vorliegt. Ein gewisser Mr Smithers vom britischen Geheimnisdienst - das Pendant zu James Bonds berühmtem Q - versorgt den vierzehnjährigen Alex vor seiner neuen Mission mit der notwendigen Ausrüstung.
"Der Discman verwandelt sich in eine elektrische Säge. Die CD ist eine diamantene Trennscheibe, kann alles durchsägen. Ich habe auch einen Alarmknopf eingebaut. Wenn die Bombe platzt und du Hilfe benötigst, dann drück dreimal darauf. Es wird dann ein Signal ausgesendet, das von unserem Satelliten empfangen wird. Und dann können wir dich herausholen."
"Danke, Mr Smithers", sagte Alex. Aber es war nicht zu übersehen, dass er etwas enttäuscht war.
Smithers verstand sofort. "Ich weiß, was du willst, aber du weißt, es geht nicht. Keine Waffen! Mr Blunt ist darin absolut unerbittlich. Er findet, du bist zu jung dafür."
Ohne Waffen geht in Krimis normalerweise gar nichts. Aber Joe, der sechzehnjährige Protagonist unserer zweiten Agentenstory heute - "Mein Bruder, der Spion" von Ken Roycroft -, sieht das im Gegensatz zu Alex Rider so:
Die Pistole, die sie erbeutet hatten, ließ Joe allerdings im Wagen. Er verabscheute solche Mordinstrumente. Er und seine Freunde würden sich auf ihre Cleverness und Schnelligkeit verlassen müssen.
Egal, ob Joe in "Mein Bruder, der Spion" Freundin Kimmy und Bruder Pete aus den Fängen finsterer nordkoreanischer Agenten befreit, oder ob Alex Rider in "Gemini Project" die Machenschaften eines skrupellosen Wissenschaftlers aufdeckt - gab es da nicht auch mal einen gewissen Dr. No? - die Abenteuer der minderjährigen Agenten sind genauso actionlastig wie die ihrer erwachsenen Kollegen und wollen vor allem eins: mit den bekannten Versatzstücken so gut wie möglich unterhalten.
Zu Waffen greifen die heute vorgestellten Jungdetektive nicht; sie verlassen sich lieber auf ihr Köpfchen und die modernen Hilfsmittel, die jedem Schüler ohnehin zur Verfügung stehen: Handy und PC. Es wird gegooglet und gehackt, was das Zeug hält. Und auch, wer sich in die Niederungen der Detektivarbeit begibt - sprich: viel nachts zu Fuß gehen oder an zugigen Ecken warten muss -, verzichtet nicht auf Technik. So wie Kiffo und seine Freundin Calma, die in dem wunderbar durchgeknallten Roman des in Australien lebenden Briten Barry Jonsberg "Die Sache mit Kiffo und mir" ihre geliebte Englischlehrerin - Spitzname Pitbull - beschatten müssen.
"Wir sollten das Telefon vom Pitbull abhören", sagte Kiffo.
"Genial", entgegnete ich. "Und wie stellen wir das an?"
"Keine Ahnung, Calma. In den Filmen klettern sie einfach die Telefonmasten hoch. Vielleicht können wir ihre Leitung ja an eins von unseren Telefonen anschließen und dann mithören."
"Bei deinem Glück würdest du garantiert die Starkstromleitung erwischen und gegrillt werden."
"Was ist mit dem Baumarkt?", fragte Kiffo, nachdem er sich eine Weile am Hinterkopf gekratzt hatte. "Vielleicht haben die ja was zum Selberbasteln?"
"Einen Wie-zapfe-ich-ein-Telefon-an-Baukasten? Neben dem Bau-dir-deine-eigene-Maschinenpistole und Denk-dir-deinen-eigenen-Sprengkörper-aus? Ah ja, ich glaube, der ist gerade im Sonderangebot."
"Ja klar. Klugscheißer."
Rauh, aber herzlich der Ton zwischen Kiffo und Calma, einem auf krimi-klassische Art ungleichen Ermittlerduo: Calma, Klassenbeste, die mit einer hart arbeitenden, alleinerziehenden Mutter in einer netten Vorstadt wohnt. Dagegen Kiffo aus dem Schmuddelviertel, der Asi der Schule mit dem Säufervater. Klingt nach Klischee, wird aber von Barry Jonsberg mit soviel Liebe zu den Figuren ausgefüllt, dass man "Die Sache mit Kiffo und mir" nicht mehr aus der Hand legen will: Wegen der geistreichen Beobachtungen über Lehrer, Schüler und Eltern; wegen der bittersüßen Geschichte zweier ungleicher Freunde, die bei aller Flapsigkeit ans Herz geht; und nicht zuletzt wegen der temporeichen Handlung, in der Kiffo und Calma den Drogendealern auf die Spur kommen, die indirekt den Tod von Kiffos Bruder verschuldet haben.
Ein Toter, der genauso wenig ermordet wurde wie Kiffos älterer Bruder - auch in Tim Wynne-Jones poetischem Jugendroman "Dieb im Haus der Erinnerung" stellt sich am Ende heraus, dass der Mann, dessen Leiche der sechzehnjährige Dec Steeples in der Bibliothek des alten Familiensitzes findet, Opfer eines tragischen Unfalls und seiner eigenen Gier geworden ist. Doch bis dahin begibt Dec sich auf die Suche nach seiner vor Jahren spurlos verschwundenen Mutter und muss sogar seinen eigenen Vater verdächtigen. Trotzdem kann und will Dec die Augen nicht länger vor der Vergangenheit verschließen. Wieder und wieder macht er sich auf den Weg nach Steeples Manor, zum "Haus der Erinnerung". Ein düsteres, schlossartiges Gebäude, das verlassen und einsam auf einem bewaldeten Hügel liegt - Hitchcock lässt grüßen. In Decs intensiv auflebenden Erinnerungen ist seine schmerzlich vermisste Mutter dort immer noch so gegenwärtig, dass man meinen könnte, sie wäre auch in der Realität zurückgekehrt. Ein fesselndes Buch, auch wegen der dezenten Anleihen aus dem Horrorgenre.
Dec ging durchs Haus und machte im Gehen die Lichter an. Durch das Esszimmer - klick. Durch den gewölbten, schmalen Flur, der in die geräumige Küche führte - klick. Links zur Speisekammer - klick. Wieder links zum Dienstboteneingang - klick. Ein drittes Mal nach links zur Kellertür. Klick.
Die Treppe war steil und knarrte unter seinem Gewicht. Unten angekommen, zog er an einer Kordel, und eine nackte Glühbirne leuchtete auf, allerdings nicht annähernd hell genug in der geballten Dunkelheit.
Dec ging geduckt unter den Rohrleitungen durch einen Korridor, den breite Regale säumten, auf denen trübe Gurkengläser und uralte dunkle Gläser mit eingewecktem Obst standen. Hier musste er lang. Klick. Je weiter er vordrang, umso dürftiger kam ihm das Licht vor. Die Decke wurde niedriger, Wände und Schränke schienen ihm bedrohlich nahe zu kommen. Es roch nach Feuchtigkeit und Fäulnis.
Mit angehaltenem Atem ging Dec auf die Werkbank zu und spähte in jede dunkle Ecke. Dann tastete er nach der Kordel, die darüber hing. Klick.
Auch in "Was geschah in Echo Falls", dem ersten Jugendroman des amerikanischen Autors Peter Abrahams, deckt ein unerschrockener junger Mensch mutig die dunklen Seiten der Vergangenheit auf. Nur dass die dreizehnjährige Ingrid es mit einem echten Mord zu tun bekommt, der quasi vor ihrer Nase geschieht - im Stockwerk über ihr, als sie im heruntergekommenen Haus einer stadtbekannten Ekzentrikerin darauf wartet, dass der Regen aufhört und sie zum Fußballtraining kann. Ein Zufall also, ein alltäglicher Moment, der allerdings dazu führt, dass die Hauptfigur unfreiwillig in die gefährlichsten Situationen verwickelt wird - wie Cary Grant in "Der unsichtbare Dritte". Auf typische Hitchcock-Art nutzt "Was geschah in Echo Falls" die Technik des Suspense: Wir, die Leser, sind der Ermittlerin einen halben Schritt voraus und spüren dadurch umso stärker die Gefahr, in die Ingrid sich begibt. Aber auch, dass man recht früh ahnt, wer der Mörder ist, tut dem Lesevergnügen keinen Abbruch. Dafür macht es zuviel Spaß, Ingrid dabei zu beobachten, wie sie trotz ihres Scharfsinns in Sackgassen tappt.
Ingrids Unterbewusstsein brodelte und schmiss in einem Höllentempo die Sachen durcheinander. Turnschuhe - rote Pumas und mit Farbe bekleckste Adidas -, den erhängten Tonband-Mann; den Abschiedsbrief, den Philipp Prescott geschrieben hatte, das fehlende Bei Anruf Mord-Programm mit der ängstlichen Katie und der Männersilhouette drauf. All das drehte sich um sie herum wie ein Albtraum in einem schlechten Film.
Ingrids großes Vorbild ist Sherlock Holmes, der im Übrigen häufiger durch die hier erwähnten Krimis und Thriller geistert als James Bond, Alfred Hitchcock oder alle anderen Helden der Zunft zusammen.
Ingrid ermittelt allein, bildet damit eine Ausnahme. Fast immer haben die jugendlichen Detektive einen Partner - den besten Freund, die Lieblingsfeindin... Wobei sich im Hintergrund häufig ein erwachsener Profi tummelt, vor dem man sein Treiben tunlichst verbirgt. Oder den man, wenn es brenzlig wird, eben doch um Hilfe bitten kann. Das mag ein Chief Inspector sein, eine Kriminalkommissarin oder ein Constable - je nachdem, wo und wann der Roman spielt. Constable Avory im "Maskenmörder von London", Nina Blazons historischem Jugendkrimi, bringt uns zurück ins 18. Jahrhundert, ins London Georg Friedrich Händels, als die Menschen das Theater noch so blutig ernst nahmen, dass wahre Fans in ihrer Begeisterung buchstäblich über Leichen gingen. Vorhang auf!
Eine Winde begann zu quietschen, Ferrantes Sicherungsseil spannte sich. Dann ging ein bewunderndes Murmeln durch den Bühnenraum. Mit ausgebreiteten Flügeln erhob sich Ferrante und flog. Eine Schiene führte das Seil im Halbkreis über das Publikum und das Orchester. Ferrante war Ikarus und flog singend übers Meer, der Sonne entgegen. Bis er schließlich programmgemäß abstürzte. Das geschah allerdings so abrupt, dass die Zuschauer erschrocken herumfuhren. Lucius sprang auf. Im Hintergrund sah er gerade noch, wie ein loses Seil über den Boden schleifte und zwischen zwei azurblau bemalten Wellen aus Holz verschwand.
Das Ermittlerpärchen besteht in "Der Maskenmörder von London" aus der Schleifenmacherin Célestine sowie dem jungen Adeligen Lucius, auch er - wie Ingrid in "Echo Falls" - Zeuge des Mordes; denn natürlich ist das lose Seil nicht gerissen, sondern wurde in tödlicher Absicht durchgeschnitten. Célestine und Lucius müssen sich allerdings schwer zusammenraufen, bevor sie Constable Avory den Täter zuführen können. Nina Blazon entwirft für ihre reizvoll verwickelte Geschichte um den begnadeten italienischen Tenor Amorelli, der zu Unrecht des Mordes an seinem Konkurrenten Ferrante beschuldigt wird, eine prachtvolle, gut recherchierte Kulisse. Beim Lesen lernt man auf angenehme Weise so einiges über das Londoner Leben vor zweihundertfünfzig Jahren oder die Oper des Barock.
Von der Vergangenheit in die Zukunft: Ein beängstigendes Bild unseres Planeten zeichnet die Britin Gwyneth Jones, die unter dem Pseudonym Ann Halam Jugendbücher veröffentlicht. In ihrem Science-Fiction-Thriller "Siberia" herrscht auf der Welt eine neue Eiszeit - auch politisch. Das Mädchen Rosita wird mit ihrer Mutter in einen fiktiven Gulag verbannt, weil die Eltern verbotene Forschungen betrieben haben: Sie haben Samen entwickelt, so genannte Lindquists, die das Erbgut ausgestorbener Wildtiere in sich tragen. Niemals würde Rosita dieses Geheimnis freiwillig verraten. Doch als die sonst so strenge Direktorin ihres Internats sie mit Süßig- und Freundlichkeiten einlullt, erzählt Rosita arglos, was die Mutter ihr alles Interessantes beigebracht hat. Mit grausamen Konsequenzen.
Die Direktorin teilte mir mit, Naturwissenschaften zu unterrichten sei, ein schweres Verbrechen und meine Mama würde angemessen dafür bestraft werden. Aber ich bräuchte keine Angst zu haben, ich würde keinen Ärger bekommen. Das Morgenrot sei stolz, die Tochter solch hervorragender Forscher zu unterrichten, auch wenn meine Eltern einem gefährlichen Irrtum erlegen seien. Wahrscheinlich habe ich mich sogar bedankt. Man muss laut und vernehmlich Danke sagen. Es genügt nicht, wenn man nur nickt und auf den Boden schaut. Man darf nichts für sich behalten, nicht einmal seine Wut. Sie wollen alles. Und sie wollen es ganz.
Die Direktorin sagte mir nicht, wo meine Mutter war. Ich fragte nicht danach.
Sie wurde weggebracht.
Sie wurde weggebracht.
Weggebracht wie mein Vater und erhängt oder erschossen.
Und ich wusste, wer schuld daran war. Nicht die Polizei und auch nicht die Frau Direktorin. Ich war schuld. Ich war elf Jahre alt und hatte meine Mutter umgebracht. Sie musste sterben für zwei Stück Kuchen und den süßen Geschmack künstlicher Marmelade.
Rosita flieht aus dem Internat; nach abenteuerlichen Irrfahrten gelingt es ihr, die Lindquists in Sicherheit zu bringen. Allerdings ist Ann Halam eine viel zu seriöse Erzählerin, um diesem beklemmenden Thriller ein ungebrochenes Happy-end aufzupropfen. Dazu ist der Autorin der Realismusfaktor ihrer Vision zu wichtig. Und das bei einer Handlung, die in einer unbestimmbaren Zukunft spielt. Bei einer Heldin, die noch ein Kind ist und doch Erfahrungen machen muss, die den meisten Erwachsenen ein Leben lang erspart bleiben.
Ähnlich ergeht es Hannah in Tore Tungoddens originellem Politthriller für Kinder, "Die Ministerpräsidentin". Der norwegische Journalist entwirft in seinem Debütroman ebenfalls eine plausible Utopie, allerdings eine, die in der Gegenwart spielt: Die zehnjährige Hannah wird von einer ominösen Partei namens "Stimme der Zukunft" bei der Wahl zum Ministerpräsidenten als Kandidatin aufgestellt, gewinnt tatsächlich und regiert mit ihrem Kinderkabinett das Land so gescheit, wie man es sich von den realen Politikern dieser Welt nur wünschen kann. Bis Hannah den enigmatischen Gründer ihrer Partei kennenlernt. Und dahinterkommt, wie ihr unglaublicher Aufstieg zustande kam.
"Und worum ging es bei dieser Wette?"
Der kleine dicke Mann drückte seinen Zigarrenstummel im Aschenbecher aus. "Ganz einfach: Wenn ich ein Kind an die Spitze der norwegischen Regierung bringen könnte, würde ich hundert Millionen Kronen und eine Kiste allerfeinster kubanischer Zigarren bekommen."
"Aber wie hast du das geschafft?"
Fredrik Rekk zog eine neue Zigarre hervor und ließ sie zwischen Mittelfinger und Zeigefinger auf und ab wippen.
"Das reine Kinderspiel. Du musst nur wissen, was eine Partei ist und wie eine Regierung gewählt wird. Danach brauchst du bloß noch auf die richtigen Knöpfe zu drücken. Ich hatte das Gefühl, dass ein Kind als Spitzenkandidatin garantiert noch besser ankommen würde als das genialste Spielzeug, das jemals erfunden werden kann."
Obwohl ich vor dem warmen Kamin saß, lief es mir eiskalt den Rücken runter.
Doch bis zu dieser Szene ist Tore Tungoddens "Ministerpräsidentin" eine unbekümmerte Lektion über die Gesetze der Politik - vergnüglich nicht nur für Kinder, denen spielerisch der Ernst des Regierens nahe gebracht wird.
Überwiegend heiter geht es auch in "Anne, Bankräuberkurt und der Plastiktütenschatz" von Erwin Grosche zu. Im klassischen Kinderkrimi-Ton erzählt der bekannte Kabarettist die Geschichte eines Banküberfalls mit Hindernissen.
Brat-Kurt schob zwei gefaltete Marktkauftüten durch den Glasschlitz. "Pa... pa... packen Sie alles ein, was wertvoll ist", sagte er unruhig, "aber dalli!"
Herr Brönner überlegte nicht lange hinter seinem Schalter und packte als Erstes seinen aktuellen Jahreskalender in die Marktkauftüte, steckte hastig vier Parkscheiben dazu und holte aus einer Schachtel fünf Sparkassenkugelschreiber, um sie dem Räuber zu überlassen.
"He, Sie... Sie... Sie Scherzkeks", zischte Brat-Kurt, "ich will Ihr Geld."
Wie der Bilderbuchganove Brat-Kurt und sein Komplize Auto-Meier ihre Beute verlieren und wieder gewinnen und was die kleine Anne Kleine damit zu tun hat, die das Geld zufällig in dem rostigen VW-Bus ihres Bruders Berti entdeckt, wird locker-flockig erzählt, wobei die Spannung nicht auf der Strecke bleibt. Zumal auch dieses Kinderbuch die gängigen Krimi-Ingredienzien beinhaltet: Täter, Opfer und Ermittler, Geheimnis und Motiv.
Die Gesetze des Handwerks beherrscht natürlich auch Krimispezialistin Susanne Mischke, die mit "Nixenjagd" ihr erstes Jugendbuch vorgelegt hat. Die Spannung ihrer Geschichte über den tragischen Ausgang eines nächtlichen Badeausflugs, von dem die sechzehnjährige Katrin nicht zurückkehrt, baut sich von Seite zu Seite stärker auf. Das fängt bei der Beschreibung von Katrins letzten lebenden Momenten an - Gänsehaut garantiert.
Wie wohltuend die Stille unter Wasser war. Als befände man sich auf einem anderen Planeten. Vielleicht auf dem hellen Stern direkt über ihr. Als sich etwas um ihre Taille schlang, erschrak Katrin fürchterlich. Ihr Aufschrei ging buchstäblich unter. Sie schluckte Wasser. Verzweifelt versuchte Katrin, sich aus dieser eiskalten Umklammerung zu winden. Sie stieß und strampelte mit den Beinen, ihre Hände krallten sich in die Arme, die sie nun an Hals und Brustkorb festhielten. Doch es war keine menschliche Haut, die sie berührte. Unaufhaltsam wurde sie in die Tiefe gezogen, dorthin, wo das Wasser eiskalt war.
In "Nixenjagd" sind die Jugendlichen Opfer und gar potentielle Täter, aber nicht die Ermittler. Das besorgt ein Trio "richtiger" Kriminalbeamter, was aber der Nähe der Autorin zu ihren jugendlichen Protagonisten keinen Abbruch tut. "Nixenjagd" ist ein klassisches Whodunnit, dessen Hauptfigur Franziska, die beste Freundin der getöteten Katrin, in einem zünftigen Showdown gegen den Mörder antreten muss.
Franziska rannte. Sie rannte, wie sie noch nie gerannt war, sprang über Steine und junge Bäume hinweg, Zweige schlugen ihr ins Gesicht. Der keuchende Atem hinter ihr kam trotzdem immer näher. Sie schrie auf, als eine Hand nach ihrer Schulter griff.
Und uff - wenn der Showdown heil überstanden und der Verbrecher entlarvt ist, dürfen auch die Ermittler endlich entspannen und dem Leser in bester Hercule Poirot-Manier auf den letzten Seiten noch die Erklärungen für alle offen gebliebenen Fragen liefern. Wieder mal wird eine Konvention des Genres bedient. Wie überhaupt Krimis für junge Leser sich strukturell sowie im Variationsreichtum der Milieus, Plots und Charaktere kaum von denen für Erwachsene unterscheiden. Nur: Die Hauptpersonen sind unter zwanzig. Und dann manchmal doch ein wenig überwältigt von der Schlechtigkeit der Welt, die sie bei ihren riskanten Unternehmungen aufgedeckt haben.
Mein Name ist Moon. Fletcher Moon. Und ich bin mir nicht sicher, ob ich noch Detektiv sein will.
Doch Fletcher hat die Rechnung ohne seinen Partner Red Sharkey gemacht.
"Wir sollten einen Namen finden für unsere Agentur", meinte Red. "Du kannst der Boss sein, Fletcher, der mit dem Hirn. Und ich bin der Gutaussehende, der die größeren Risiken eingeht."
Ich spürte, wie so etwas wie Leben in mich zurückkehrte. Wir würden den Ball flach halten müssen. Unter dem Siegel der Verschwiegenheit ermitteln, bis Mom und Dad reif waren für die Idee. Aber wir würden ein gutes Team abgeben. Wir hatten ja schon einen Fall geknackt.
Die besprochenen Bücher
Eoin Colfer, Fletcher Moon. Privatdetektiv
Aus dem Englischen von Catrin Frischer, Carlsen, 317 S., Euro 14,90, ab 11
Anthony Horowitz, Gemini-Projekt
Aus dem Englischen von Antoinette Gittinger, nach dem gleichnamigen Buch aus dem Ravensburger Verlag. Jumbo Neue Medien, gesprochen von Bernd Stephan, 2 CDs, Gesamtlaufzeit ca. 156 Min., Euro 12,95, ab 12
Ken Roycroft, Mein Bruder, der Spion
Ueberreuter, 138 S., Euro 4,95, ab 12
Barry Jonsberg, Die Sache mit Kiffo und mir
Deutsch von Janka Panskus, Oetinger, 282 S., Euro 12,90, ab 12
Tim Wynne-Jones, Dieb im Haus der Erinnerung
Aus dem kanadischen Englisch von Brigitte Jakobeit, Hanser, 202 S., Euro 14,90, ab 13
Peter Abrahams, Was geschah in Echo Falls
Deutsch von Anne Wilsberg, Bloomsbury, 350 S., Euro 16,90, ab 12
Nina Blazon, der Maskenmörder von London
Sauerländer, 237 S., Euro 14,90, ab 12
Ann Halam, Siberia
Aus dem Englischen von Ulla Höfker, Sauerländer, 282 S., Euro 15,90, ab 13
Tore Tungodden, Die Ministerpräsidentin
Aus dem Norwegischen von Gabriele Haefs, Gerstenberg, 158 S., Euro 11,90, ab 9
Erwin Grosche, Anne, Bankräuberkurt und der Plastiktütenschatz
cbj, 158 S., Euro 8,95, ab 9
Susanne Mischke, Nixenjagd
Arena, 194 S., Euro 8,96, ab 12
Aus dem Englischen von Catrin Frischer, Carlsen, 317 S., Euro 14,90, ab 11
Anthony Horowitz, Gemini-Projekt
Aus dem Englischen von Antoinette Gittinger, nach dem gleichnamigen Buch aus dem Ravensburger Verlag. Jumbo Neue Medien, gesprochen von Bernd Stephan, 2 CDs, Gesamtlaufzeit ca. 156 Min., Euro 12,95, ab 12
Ken Roycroft, Mein Bruder, der Spion
Ueberreuter, 138 S., Euro 4,95, ab 12
Barry Jonsberg, Die Sache mit Kiffo und mir
Deutsch von Janka Panskus, Oetinger, 282 S., Euro 12,90, ab 12
Tim Wynne-Jones, Dieb im Haus der Erinnerung
Aus dem kanadischen Englisch von Brigitte Jakobeit, Hanser, 202 S., Euro 14,90, ab 13
Peter Abrahams, Was geschah in Echo Falls
Deutsch von Anne Wilsberg, Bloomsbury, 350 S., Euro 16,90, ab 12
Nina Blazon, der Maskenmörder von London
Sauerländer, 237 S., Euro 14,90, ab 12
Ann Halam, Siberia
Aus dem Englischen von Ulla Höfker, Sauerländer, 282 S., Euro 15,90, ab 13
Tore Tungodden, Die Ministerpräsidentin
Aus dem Norwegischen von Gabriele Haefs, Gerstenberg, 158 S., Euro 11,90, ab 9
Erwin Grosche, Anne, Bankräuberkurt und der Plastiktütenschatz
cbj, 158 S., Euro 8,95, ab 9
Susanne Mischke, Nixenjagd
Arena, 194 S., Euro 8,96, ab 12