Archiv


Spannung zwischen den Polen Gemeinschaft und Gesellschaft

Ferdinand Tönnies geht es bei dem Begriff Gesellschaft um alles, was Menschen über sich und ihr Verhältnis untereinander denken und empfinden. Von den Nazis wurde er aus dem Amt gedrängt, deren demagogischen Gemeinschaftsbegriff er verachtete. Am 9. April 1936 verstarb er.

Von Jochen Stöckmann |
    Adolf Hitler: "Ich gehe dann weiter zum deutschen Arbeiter, den wir zurückführen wollen wieder in die Gemeinschaft unseres Volkes, für den wir die Tore aufsprengen werden, auf dass er mit einzieht in die deutsche Volksgemeinschaft."

    In der herausgebrüllten Parole von der "Volksgemeinschaft" gipfelte Adolf Hitlers Wahlkampfrede im Februar 1933. Mit dem Ruf nach "Gemeinschaft" war die NSDAP auf Stimmenfang gegangen - erfolgreich.

    Wenige Wochen nach der Machtergreifung schüttelte in Kiel, vor dem protzigen Amtssitz des Gauleiters, ein älterer, graubärtiger Herr seinen Eichenstock in stummer Wut. Es war der Soziologe Ferdinand Tönnies. Als Hochschulprofessor und Vorsitzender der "Deutschen Gesellschaft für Soziologie" von den Nazis aus seinen Ämtern gedrängt, erboste den international renommierten Wissenschaftler vor allem eines: Dass die rechtsextremen Demagogen ihm seine "Gemeinschaft" gestohlen hatten. Denn mit einer Studie über "Gemeinschaft und Gesellschaft" war der 1855 als Sohn eines nordfriesischen Landwirts auf der Halbinsel Eiderstedt geborene Philosoph und Archäologe bekannt geworden.

    Das Buch gilt als Gründungsurkunde der Soziologe: Tönnies betrachtet die Gesellschaft nicht unter dem Blickwinkel des Rechts, der Staatsverfassung oder der Geschichtsschreibung. Ihm geht es um alles, was Menschen über sich und ihr Verhältnis untereinander denken und empfinden.

    "Alles vertraute Zusammenleben wird als Leben in Gemeinschaft verstanden. Gesellschaft ist die Öffentlichkeit, ist die Welt. In Gemeinschaft mit den Seinen befindet man sich, von der Geburt an, mit allem Wohl und Wehe daran gebunden. Man geht in die Gesellschaft wie in die Fremde. Der Jüngling wird gewarnt vor schlechter Gesellschaft; aber schlechte Gemeinschaft ist dem Sprachsinne zuwider."

    Die positiven Seiten der Gemeinschaft im Gegensatz zu einer als anonym empfundenen Industrie-Gesellschaft hatte nach dem Ersten Weltkrieg die Wandervogel-Bewegung entdeckt - lange vor den Nazis. Aber diese Art von Romantik mit Klampfenmusik am Lagerfeuer war Tönnies fremd. Als Soziologe wusste er, dass die Moderne nicht mehr durch eine einzige Kategorie zu klassifizieren, mit einem einzigen Prinzip zu erklären war.

    Deshalb nutzte der Wissenschaftler das in sich widersprüchliche Begriffspaar, die Spannung zwischen den Polen "Gemeinschaft" und "Gesellschaft", um soziale Ereignisse en détail auszuleuchten, zu erklären - über die bloße Zahlenhuberei der Statistiker hinaus. Eine Methode, die lange nach Tönnies' Tod am 9. April 1936 im angelsächsischen Sprachraum prominente Nachahmer fand, etwa im Strukturfunktionalismus von Talcott Parsons.

    In Deutschland geriet der Sozialforscher nach 1945 in Vergessenheit, trotz seines Engagements gegen die heraufziehende Nazi-Diktatur: 1930 war Tönnies in die SPD eingetreten. Noch am 19. Februar 1933, eine Woche nach Hitlers Wahlkampfrede, ist er der Hauptredner auf dem Kongress "Das Freie Wort" in der Berliner Kroll-Oper und berichtet darüber:

    "In der Versammlung überwogen Proletarier. Nachdem ich ausgeredet hatte und während noch Heine über Freiheit der Kunst sprach, erschien ein strenger und hoher Mann, ein Polizeioffizier, und die Versammlung war aufgelöst."

    In der "Volksgemeinschaft" der Nazis hatten individuelle Rechte wie die Redefreiheit keinen Platz. Das Spannungsverhältnis zwischen Individuum und Gemeinschaft, wie es Tönnies als notwendigen Impuls sozialer Entwicklung beschrieben hatte, war später dann auch in der DDR kein Thema, das Kollektiv stand im Vordergrund:

    Erich Honecker: "Wer das Wohl der Gemeinschaft im Auge hat, der wirkt auch am besten für sein eigenes Wohl."

    Mit dieser Platitüde verschleierte Erich Honecker in seiner Rede zum 40. Jahrestag der Republik im Oktober 1989, was der von der SED mit Publikationsverbot belegte Philosoph Peter Ruben längst erkannt hatte:

    "Das kommunistische Experiment ist als Versuch, die soziale Frage dadurch zu lösen, dass die Gemeinschaft als Ersatz der Gesellschaft rekonstruiert wird, zu verstehen – und zu erklären, wenn man den theoretischen Rückgriff auf das Werk von Ferdinand Tönnies unternimmt. Mit ihm wird der Dualismus von Gemeinschaft und Gesellschaft als Prinzip menschlicher Entwicklung oder der Kulturentwicklung denkbar."