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SPD arbeitet an Comeback in Hessen

Vor gut vier Jahren wäre Andrea Ypsilanti fast hessische Ministerpräsidentin geworden. Was macht eigentlich die Frau, die dann doch – anders als vorher versprochen - mit Duldung der Linkspartei regieren wollte? Sie ist alles andere als untätig. Denn auch in Hessen wird im Herbst 2013 gewählt - die SPD geht auf Wählerfang.

Von Anke Petermann | 23.08.2012
    SPD-Programmprozess, Thema Bildungspolitik, in Hessen immer höchst umstritten. Nicht-Genossen sind ausdrücklich willkommen. Doch die Menschenmassen strömen an diesem schwülen Sommerabend im Frankfurter Nordwesten Richtung Schwimmbad, nicht in den etwas abseits gelegenen Klubraum des Shoppingcenters. An die 40 Grad - das ist auch politisch Interessierten zu heiß, um die sozialdemokratische Revolution hessischer Schulpolitik in Gang zu bringen. Umso erstaunlicher, dass die erste Diskutantin schon eine halbe Stunde vorm offiziellen Beginn eintrifft. Und gleich in medias res geht. Was für ein Glück, dass Kolja Müller vom SPD-Wahlkreisbüro schon da ist, Rede und Antwort stehen kann.

    "Ich könnte jetzt nicht genau sagen, was jetzt verstärkt SPD-Bildungspolitik ist und was verstärkt CDU-Bildungspolitik ist, das wüsste ich nicht."

    "Also, ganz kontrovers wird im Moment diskutiert das verkürzte Abitur G8 und G9."

    "Genau, und die versuchen doch wieder das zu verlängern – viele."

    "Na ja, die SPD ist eigentlich von Anfang an dafür eingetreten zu sagen, wir brauchen ein G9-Abitur, das heißt, das Abitur in neun Jahren zu machen."

    "Ist das wirklich wahr, hat das die SPD immer schon gesagt. Das ist ja sympathisch."

    "Ja, das war ein wesentlicher Punkt der Bildungspolitik."

    "Und wer hat dies G8 durchgesetzt? Die CDU?"

    "Die schwarzgelbe Landesregierung ja, ja hier in Hessen."

    Aha, Dagmar von Garnier geht ein Licht auf. In Trainingskleidung mit Handtuch um den Hals entspricht sie nicht ganz dem Klischee der politischen Diskutantin. Sie will auch gleich wieder weg. Im Nebenraum warten junge Leute darauf, dass von Garnier mit dem Folklore-Tanzunterricht beginnt. Vom Tanz-Nachwuchs kennt sie die Klagen über die verkürzte Gymnasialzeit G8:

    "... und alle stöhnen darunter."

    "Also, ich würde jetzt nicht sagen, dass alle darunter stöhnen, aber sicher sehr viele ..."

    "Doch ich hab mit ganz vielen jungen Leuten zu tun, die bei mir im Tanz-Ensemble sind, und ich merke ja, wie viel Zeit die nebenbei haben, um noch was zu machen oder nicht mehr zu machen, und das verkürzt ihnen total ihre Entwicklung, wenn die so wenig Zeit haben."

    "Genau, genau."

    "Und bei mir sind ein paar Leute drin von der Waldorfschule, und die machen in neun Jahren ihr Abitur, die haben Gott sei Dank ein bisschen mehr Luft."

    "So, und das ist jetzt der neue Punkt der CDU, die jetzt auf einmal sagt, es soll eine Wahlfreiheit geben, die Schulen sollen selbst entscheiden, gibt's das Abitur in acht oder neun Jahren und wollen das wieder ein bisschen zurückdrehen. Aber da sagt die SPD natürlich, also, das sind jetzt halbe Sachen, wir fordern ganz klar, G9 muss es sein."

    Mit pubertätsschonend verlängerter Mittelstufe und Wahlfreiheit in der Oberstufe: Turbo-Abitur in zwei oder gemächlicher in drei Jahren. So das SPD-Modell. Eigentlich aber wollen die Sozialdemokraten langfristig weg von der Fixierung auf die gymnasiale Bildung. In Hessen wollen sie den Gymnasien freistellen, sich in Gemeinschaftsschulen umzuwandeln und alle Abschlüsse anzubieten. Im Trainingsraum nebenan wird es lauter.

    "Sind das ihre?"

    Dagmar von Garnier muss los, ihr Tanz-Ensemble Slawia ist ihr jetzt wichtiger als das SPD-Wahlprogramm. Nur eine Frage noch:

    "Und die Frau Ypsilanti haben sie auch?"
    "Die kommt."

    Als hessische Fast-Ministerpräsidentin hat Andrea Ypsilanti immer noch Anhänger. Programmatisch ist die SPD-Linke auf vielen Baustellen unterwegs. Mit Grünen, Linken und Parteilosen strickt die Landtagsabgeordnete an ihrem Kasseler Institut für Solidarische Moderne überregionale Netzwerke und Expertenpools. Unter anderem, um den erstrebten Machtwechsel im Bund inhaltlich vorzubereiten. Die Führung der Hessen-SPD ignoriert das geflissentlich. Nach dem Scheitern der geplanten rot-grünen Minderheitsregierung mit Linkstolerierung vor vier Jahren suchen viele, die Ypsilanti in guten Zeiten nicht nah genug sein konnten, immer noch Distanz. Die Frontfrau von einst beschränkt sich heute aufs Konzipieren und Moderieren. Berührungsängste von Parteilosen abzubauen, ist in den kommenden vier Wochen Ziel der Frankfurter Mitmach-Reihe.

    "Es soll vor allem ein Angebot sein, mit uns kann man diskutieren, mit uns kann man reden, und wir sind offen für Ideen, die auch außerhalb der Parteien entstehen."


    20 Interessenten nehmen das Angebot an diesem heißen Abend wahr, hauptsächlich Genossen, aber auch Parteilose: eine langjährige Schülervertreterin und Mitglieder des Verbandes alleinerziehender Mütter und Väter. Seit Ende der 90er-Jahre lauert die Hessen-SPD auf den Sprung an die Macht, scheiterte immer wieder an der straff organisierten CDU unter Roland Koch, wittert nun 2013 gegen Kochs schwächeren Nachfolger Volker Bouffier eine Chance. Könnten die Genossen nicht einfach das Wahlprogramm recyceln, mit dem sie 2008 fast an die Macht gekommen wäre? Inzwischen aber habe die regierende CDU Kernbegriffe sozialdemokratischer Bildungspolitik besetzt und verzerrt, so meint die ehrenamtliche Elternberaterin Hannah de Grauww-Rusch. Da müsse man gegenhalten.

    "Wenn du mit Eltern über Ganztagsschule argumentierst, das ist verdammt schwierig, denn G8 ist keine Ganztagsschule, zumindest nicht die Ganztagsschule, die uns vorschwebt, aber das macht es verdammt schwierig. Und dann gibt es diese Ganztagsschulen, wo es an drei Nachmittagen ein bisschen Betreuung gibt, das sind keine Ganztagsschulen."

    So wie Sozialdemokraten sie wollen. Genossen auf Rückeroberungs-Mission – auch das ist der SPD-Programmprozess.