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"SPD muss an Reformen festhalten"

Der stellvertretende SPD-Vorsitzende und Ministerpräsident von Rheinland-Pfalz Kurt Beck hat seiner Partei geraten, an der Reformpolitik von Bundeskanzler Schröder ohne Abstriche festzuhalten. Es gebe für die Sozialdemokraten keinen anderen Weg, als auf eigene Stärke zu setzen, sagte Beck. Im Wahlkampf müsse man klar machen, dass Reformen erforderlich seien, wenn die soziale Marktwirtschaft lebendig bleiben solle. Beck, räumte ein, dass Reformen auch mit Zumutungen verbunden seien. Mit Blick auf die für den Herbst geplanten Bundestagswahlen meinte er, die SPD habe zwar nur eine Außenseiterchance, sie sei aber kampfbereit.

    Lange: Herr Ministerpräsident Beck, am Freitag hat der Bundestag nun wie erwartet dem Bundeskanzler das Misstrauen ausgesprochen. Die erste Etappe auf dem Weg zu Neuwahlen, die ja von allen Parteien gewünscht werden, ist damit geschafft. Wie sicher sind Sie denn, dass es nun tatsächlich zu Neuwahlen kommt?

    Beck: Ziemlich sicher, weil ich glaube, dass der Bundeskanzler eine sehr ehrliche Begründung abgegeben hat für seine Vertrauensfrage. Er hat klar herausgearbeitet, wie die Situation im Bundesrat ist, er hat aber auch klar herausgearbeitet, dass er bei der knappen Kanzlermehrheit, die ihm noch zur Verfügung steht, und bei der mehrfach bekundeten kritischen Haltung einiger Abgeordneter seiner Koalition im deutschen Bundestag die verlässliche Mehrheit nicht hat, um den Weg dauerhaft fortsetzen zu können. Ich glaube, das ist das, was das Bundesverfassungsgericht 1982 in seinen Zusatzbemerkungen zur Entscheidung auch gefordert hat an Begründung.

    Lange: Er hat sich sehr nah an diese Leitlinien gehalten, wenn er vom stetigen Vertrauen sprach, das er braucht. Können wir davon ausgehen, dass es vorher Signale aus dem Bundespräsidialamt gab: Das ist die Linie, die Richtung, die wir mittragen könnten?

    Beck: Ich möchte darüber nicht spekulieren, weil meine Informationen da auch nur indirekter Art sind. Und ich glaube, es wäre nicht anständig gegenüber dem Bundespräsidenten, wenn wir jetzt in solche Spekulationen einträten. Ich bin allerdings nach meiner gründlichen Betrachtung der Dinge und Beurteilung ziemlich sicher, dass das verfassungsrechtlich auf der sicheren Seite ist.

    Lange: Gleichwohl bleibt ja bei dieser Staatspraxis, die sich da herausgebildet hat, nun zum fünften Mal, immer ein merkwürdiges Gefühl. Am Donnerstag verabschiedet man noch Gesetze, am Freitag versagt die SPD-Fraktion dem Kanzler das Vertauen, und im Herbst will die SPD mit ihm als Spitzenkandidat wieder in die Wahl gehen. Verstehen Sie, dass da die Verfassungsrechtler, ein Großteil von denen, dann doch auch Probleme hat mit dieser Art von Doppelbödigkeit?

    Beck: Ich sehe da keine Doppelbödigkeit. Ich glaube, dass man nach dem Sinn der Verfassung fragen muss. Es ist ja nicht so, dass die Sozialdemokraten jetzt gegenüber Gerhard Schröder kein Vertrauen mehr hätten. Aber es sind einige dabei, die ihre Zweifel an diesem Kurs doch mehrfach deutlich gemacht haben. Und wenn man einen solchen großen Reformkurs gegen eine so starke Mehrheit im Bundesrat fortsetzen wollte, dann ginge dies nur, wenn man sich der Kanzlermehrheit auch in schwierigen und schwierigsten Fragen absolut sicher ist. Und diese Sicherheit besteht nicht mehr. Also, ich glaube, man darf da nicht an dem Wort kleben, sondern man muss den Geist der Verfassung prüfen. Und der ist getroffen.

    Lange: Aber ein Restrisiko bleibt. Wir wissen nicht, wie der Bundespräsident darüber denkt. Der ist politisch gewissermaßen ein unbeschriebenes Blatt.

    Beck: Nein, man weiß das natürlich nicht. Und es ist sein gutes Recht, das des Bundespräsidenten, eine eigene Beurteilung zu haben. Und das Bundesverfassungsgericht wird auch seine eigene Entscheidung treffen. So will es die Verfassung und so ist es in Ordnung. Aber ich glaube, wenn man die Dinge nüchtern betrachtet, wenn man den Sinn und Zweck der Möglichkeit, den Bundestag aufzulösen, einmal prüft, dann darf man doch sagen: Das Grundgesetz wollte Handlungsfähigkeit und Stabilität. Und beides ist mit Neuwahlen zu erreichen.

    Lange: Gibt es einen "Plan B" für den Fall, dass der Bundespräsident doch nicht mitzieht?

    Beck: Nein, den gibt es nicht. Und es gibt ihn aus gutem Grunde nicht, denn ich würde es dann wirklich für unehrlich erachten, wenn man nur taktisch mit unterschiedlichen Verfassungsmöglichkeiten umginge. Es gibt allerdings, und so weit glaube ich, hätte die Opposition ja auch einen Schlüssel in der Hand, wenn sie wollte, die Möglichkeit des Misstrauensvotums. Die Tatsache, dass man diesen Weg nicht gewählt hat, zeugt davon, dass der Kanzler so schief nicht liegt mit der Vertrauensfrage.

    Lange: Herr Beck, nun sind die Diskussionen in den letzten Wochen ja durchaus schmerzhaft gewesen für die SPD. Man konnte ein bisschen zu dem Schluss kommen, dass der Vertrauenszerfall eigentlich erst danach begonnen hat, nach der Ankündigung des Bundeskanzlers, dass er Neuwahlen anstrebt. Mit dem Wissen, das Sie und wir heute haben, würden Sie ihm noch mal zuraten, diesen Weg zu gehen?

    Beck: Ja, ich würde es wieder tun. Ich muss sagen, ich habe mich mehrfach mit der Frage beschäftigt und bin am Ende – ich will nicht sagen, ohne Zweifel zwischendurch, aber ich bin am Ende zu dem Schluss gekommen: Ja, es ist auch heute noch richtig. Es ist noch richtig, weil es für diese Republik kaum zu ertragen wäre, wenn wir noch eineinhalb Jahre in einer solchen Situation der faktischen Handlungsunfähigkeit verharrt hätten. Und man muss ja sehen, es gab auch zu anderen Zeiten Blockaden im Bundesrat gegenüber anderen Regierungen. Ich muss sagen, ich war auch eine Phase dabei. Heute würde ich manches anders entscheiden, als ich es damals entschieden habe. Das will ich ganz offen sagen. Aber eine so totale Blockade von fast allem gab es nicht. Es hat in den letzten drei Jahren fast so viele Ablehnungen von Vermittlungsvorschlägen gegeben wie in den zwölf Legislaturperioden zuvor. Das zeugt schon davon, dass in der Tat sehr parteitaktisch mit dem Bundesrat umgegangen wird.

    Lange: Aber schlimmer kann doch die Ausgangslage der SPD vor Neuwahlen im Grunde doch gar nicht sein. Im Bund sind Sie jetzt eingeklemmt demnächst zwischen einer Linkspartei, wie immer sie ausschauen mag und wie immer sie ins Parlament kommt, und den Grünen, dem schwarz-gelben Lager auf der anderen Seite. Sie haben nur noch einen potentiellen Koalitionspartner, von dem Gerhard Schröder gesagt hat: Rot-Grün war ein Zeitgeistbündnis zur Unzeit. Wo wollen Sie also mit wem hin im September?

    Beck: Zunächst einmal: Es gibt in dieser Situation keinen anderen Weg, als auf die eigene Stärke zu setzen. Und die SPD hat Stärken. Sie hat ihre Kampfbereitschaft, sie hat ihren Zukunftswillen und ich glaube auch am Ende die richtigen Rezepte. Denn wir können natürlich den Illusionsweg von PDS und dieser Wählerinitiative gehen und den Leuten vormachen, man müsse nichts ändern. Oder wir gehen einen anderen Weg, den große Teile der Union – die ist ja in sich auch in all den wichtigen Fragen tief zerstritten, aber den Teile der Union und der FDP gehen wollen, einer starken Privatisierung der großen Sozialsysteme. Ich glaube, beide Wege sind nicht richtig. Der eine ist unverantwortlich aus meiner Sicht unter sozialen Gesichtspunkten und der andere ist eine Illusion, die zum Zerschellen der großen Sozialsysteme führte. Also, ich glaube, dass wir durchaus in diesen Fragen gut aufgestellt sind. In der Wirtschaftspolitik, der Ankurbelung der Binnennachfrage, haben wir neue Antworten entwickelt. Im Wahlmanifest, das derzeit in der Schlussberatung ist, und in der Außenpolitik, glaube ich, gibt es zu Gerhard Schröders klarem, mutigen Weg, auch gegenüber den Vereinigten Staaten mutigen Weg, keine Alternative. Wir haben uns engagiert. Wir sind im internationalen Engagement, was die militärischen Anstrengungen angeht, aber auch was zivile, was Entwicklungsanstrengungen angeht, nach den USA an zweiter Stelle, bei den Entwicklungsfragen deutlich vor denen, immer in%en gerechnet. Und wir haben allerdings auch immer deutlich gemacht, für uns gibt es Maßstäbe und ohne Auftrag der Vereinten Nationen keine Beteiligung an Kriegshandlungen oder kriegsähnlichen Handlungen. Das wird auch gelten, und die Iranfrage könnte zum nächsten Lackmustest werden.

    Lange: In der Außenpolitik gibt es sicherlich am wenigsten Differenzen zwischen Rot-Grün und Schwarz-Gelb . . .

    Beck: . . . das sehe ich völlig anders. Wenn Frau Merkel Bundeskanzlerin gewesen wäre, wären jetzt deutsche Truppen in Bagdad. Wenn das keine unterschiedliche Position ist, dann kenne ich keine.

    Lange: Ich meinte verhältnismäßig geringe Abstände, gemessen an den Abständen in der Wirtschafts- und Sozialpolitik.

    Beck: Entschuldigen Sie bitte, ich muss noch mal sagen: Krieg zu führen oder nicht Krieg zu führen, mit oder ohne UNO-Mandat, das ist der größte und gravierendste Unterschied, den man in der Politik haben kann. Deshalb – ich bitte um Pardon – kann ich diese Annäherung nicht akzeptieren als Feststellung.

    Lange: Bleiben wir mal bei der Wirtschafts- und Sozialpolitik. Wenn es Neuwahlen geben wird, gehen wir mal davon aus, Sie gelten als Kämpfer, Sie wollen den Stier bei den Hörnern packen, haben Sie selbst gesagt – welche SPD hat der Wähler dann zur Wahl? Diejenige, die weitere Reformen anpacken will, auch mit Zumutungen an die Wähler, vielleicht eine Art Hartz V bis Hartz IX, oder eine, die sich ein Stück weit zurück orientiert zur traditionellen Vorstellung von sozialer Gerechtigkeit, Solidarität, um vielleicht der Linkspartei das Wasser abzugraben?

    Beck: Eindeutig aus meiner Sicht einer Partei, die sieht, dass wir Reformen brauchen, wenn wir eine soziale Marktwirtschaft lebendig halten wollen, wenn wir nicht alles dem Markt unterordnen wollen. Das heißt, dass wir die großen Sozialsysteme reformieren wollen, um den Weg weiter zu gehen, den wir begonnen haben, nämlich neben die solidarischen Systeme auch eigenfinanzierte Absicherungen zu schaffen. Dass man den Schwächeren in der Gesellschaft dabei helfen muss, füge ich ausdrücklich hinzu. Also, wir können uns nicht leisten, so zu tun, als könnten wir uns wie das berühmte Kaninchen in die Furche ducken und der Wind würde uns über die Ohren weg wehen. Er wird uns dann wegwehen insgesamt, denn die internationale Konkurrenz, die Herausforderung ist da. Wir können sie nur mit hohem Wissen und Investieren in Wissen, aber auch mit den notwendigen Reformen, der Demografie, der Alterszusammensetzung wegen und der Konkurrenzfähigkeit wegen bewältigen. Deshalb gibt es nicht den Weg, nichts zu tun, den Leuten nach dem Mund zu reden, was sie vielleicht gerne im Moment hören, aber in kurzer Zeit dann auch entlarven werden als unwahr, oder eben einer Individualisierung in der Gesellschaft. Beides ist nicht richtig. Deshalb: Reformbetont und sozial verantwortlich, das muss der Maßstab sein. Und ich halte das für einen Spagat, der geht.

    Lange: Noch einmal nachgefragt: Reformen heißt auch weitere Zumutungen?

    Beck: Reformen heißt auch weitere Zumutungen. Wir können den Menschen nicht versprechen, dass wir Zusätzliches umzuverteilen haben. Wir müssen alles daransetzen, dass wir im Bereich Bildung und Wissenschaft die Fortschritte machen, wir haben ja damit begonnen, die wir brauchen, um die hochwertigen Dienstleistungen und Produkte zu haben, um unseren Lebensstandard auch in Zukunft halten zu können und konkurrenzfähig zu bleiben. Beides bedingt sich ja ein Stück weit gegeneinander. Senkt man den Lebensstandard zu sehr ab, dann sackt uns die Binnennachfrage noch weiter weg, sind wir nicht konkurrenzfähig, dann stolpern wir mit dem Export rein. Beides können wir uns nicht leisten. Deshalb sehe ich zu einem weiteren vernünftigen Reformweg keine Alternative. Freilich müssen alle ihren Beitrag leisten.

    Lange: Aber ein Teil der SPD, der linke Flügel überwiegend, und die Gewerkschafter sagen, wir können ja schlecht mit Hartz IV jetzt Wahlkampf machen. Das ist nichts, was man offensiv nach außen tragen kann. Wir müssen sozialer werden. Das wäre ja dann fast das Gegenteil.

    Beck: Mit Hartz IV kann man sicher auch nicht allein Wahlkampf machen, aber mit der gesamten Agenda 2010 und den Ergänzungen, die wir im Wahlprogramm am morgigen Tag sicher verabschieden werden, schon, da wird gesehen, dass manches bei den Arbeitsmarktreformen nicht so voran gekommen ist, wie man es sich wünscht. Und ich kann älteren Menschen nicht sagen, eure Leistungen werden nur kurzfristig bezahlt, wenn ich ihnen nicht ein Angebot machen kann. Da wir die Angebote noch nicht machen können, halte ich es für schlüssig, die Kürzungen auch noch nicht zu machen, ohne dass man generell diesen Weg aufgibt. Wir dürfen nicht wieder zurückfallen in Zeiten, wo die ganze Republik sich einig war, möglichst sollte ein 52jähriger nicht mehr in einer Fabrik zu sehen sein. Das muss rum sein, das darf auch nicht wieder aufleben. Und umgekehrt müssen wir uns darum bemühen, dass die Jugendlichen eben nicht einfach vergessen werden. Wir müssen sie mit Fordern und Fördern heranführen. Da gibt es Nachentscheidungen aus der Erfahrung heraus zu der Arbeitsmarktpolitik. Es gibt Ansätze der Förderung der Binnennachfrage. Das ist leider unser schwaches Bein derzeit. Deshalb: Teilabsetzungsmöglichkeiten für Handwerkerrechnungen, Initiativen steuerlich zu begünstigen, wenn im Haushalt oder zur Pflege von Menschen jemand beschäftigt wird. Das alles sind sicher Impulse, die helfen können . . .

    Lange: Aber muss sich, Herr Beck, die SPD nicht fragen lassen: Warum macht ihr das erst jetzt? Ihr ward sieben Jahre an der Regierung und habt das unterlassen. Die Geschichte mit dem Arbeitslosengeld I, wo die Gewerkschaften immer gesagt haben, das ist nicht sozial gerecht, wenn derjenige, der 30 Jahre eingezahlt hat, nach einem Jahr genau so da steht wie jemand, der überhaupt noch nicht eingezahlt hat. Das war ein Herzensanliegen der Gewerkschaften. Sie sind damals nicht darauf eingegangen, jetzt steht es im Wahlmanifest. Ist das nicht widersprüchlich?

    Beck: Es steht so nicht im Wahlmanifest, sondern das, was in Hartz IV stand, soll zeitlich geschoben werden, bis Arbeitsangebote gemacht werden können. Aber ich glaube, man darf auch daran erinnern: Wir sind dabei, eine der größten Reformen oder die größte Reform insgesamt gesehen in der Geschichte der Bundesrepublik zu machen. Und insoweit will ich gar nicht jeden einzelnen Schritt verteidigen. Natürlich werden da . . .

    Lange: . . . Sie hätten sich viel Ärger mit den Gewerkschaften ersparen können.

    Beck: Mag sein, aber ich glaube, wenn wir dem Schritt damals nachgegeben hätten, dann wäre der nächste gekommen aus Sicht der Gewerkschaften. Die dürfen das auch. Für die Interessenvertreter war natürlich das gesamte Fordern, das Fördern war schon akzeptiert, aber das Fordern natürlich wenig akzeptiert. Und wir müssen beides tun. Aber wir müssen den Menschen auch Arbeit anbieten. Das, was bisher die Bundesagentur für Arbeit leisten kann ist noch deutlich zu wenig an Vermittlungstätigkeit. Aber das alles ist, glaube ich, auch nach einem halben Jahr noch zu früh, um es endgültig zu beurteilen. Ich glaube nach wie vor, dass der Gesamtweg richtig ist. Und zu unseren Anstrengungen hat ja eben nicht nur die Arbeitsmarktpolitik gehört. Da sind über 56 Milliarden an Steuererleichterungen gegeben worden. Wir haben die Sozialausgaben immerhin um annähernd eineinhalb Prozent gekürzt, wir haben die Beiträge zur Rentenversicherung stabil gehalten, zum ersten Mal eine private zusätzliche kapitalgedeckte Altersversorgung eingeführt, die immerhin 20 Millionen, das ist noch nicht genug, aber 20 Millionen Menschen auf unterschiedliche Weise in Anspruch nehmen. Wir haben Stabilität bei den Krankenversicherungsbeiträgen, die ja übersetzt waren an Leistungen. So kommt es ja zustande, dass jetzt erst viele Krankenkassen ihre Milliardendefizite abbauen müssen. Wir hätten also deutliche Steigerungen ohne diese Politik der Krankenversicherungsbeiträge erlebt und so weiter. Also, ich glaube, da ist schon eine Menge bewegt worden in dieser Zeit. Ich hätte mir gewünscht, das sage ich offen, dass wir in der ersten Legislaturperiode dieser Koalition in Berlin angefangen hätten. Da ist auch zu spät begonnen worden.

    Lange: Das rächt sich.

    Beck: Das rächt sich. Aber es rächt sich natürlich mindestens genau so sehr, dass in der Kohlära die Schritte, die hätten gegangen werden müssen, nicht gegangen worden sind. Und das waren 18 Jahre.

    Lange: Aber ich erinnere mich an so Kleinigkeiten wie Karenztage im Krankheitsfall. Das ist damals am Widerstand der SPD gescheitert.

    Beck: Gut, das ist allerdings auch die Frage in solchen Punkten, ob man nicht überzieht und überzeichnet. Ich habe diese Diskussion auch mit Handwerksvertretern geführt. Wissen Sie, in einer Zeit, in der es immerhin so ist, dass die Menschen umdenken – wir haben die niedrigste Krankmeldungsquote in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland – und in einer solchen Zeit noch einen drauf zu setzen, das ist einfach das Stück zu viel, wo die Leute sagen: Die sind unersättlich, und egal, was wir tun, die werden immer noch mehr von uns verlangen, bis wir auf den Knien sind. Dieses Gefühl darf man den Menschen nicht vermitteln, wenn man die großen Reformen nicht kaputt machen will. Und für dieses Gefühl auch füreinander, für eine Sozialpartnerschaft, die nicht überzieht, nach beiden Seiten nicht - man muss sich in seinen Betrieb einbringen, man muss bereit sein, flexibel zu sein - da ist noch manches weiter zu entwickeln. Aber von der anderen Seite darf auch nicht immer noch einer drauf. Jetzt haben wir gerade zum 1.7. , vor zwei Tagen, eine neue Regelung, dass 0,9 Prozent Krankenversicherungsbeitrag gespart werden für die Arbeitgeber, die zur Hälfte von den Arbeitnehmern zu tragen sein werden über das bisherige Maß hinaus. Also, irgendwo muss man auch einmal wissen, wann es genug ist.

    Lange: Oskar Lafontane, Ihr ehemaliger Parteivorsitzender und Kanzlerkandidat, jetzt Galionsfigur der Linkspartei, sagt: Allein, dass es uns gibt, das führt dazu, dass die SPD jetzt wieder etwas sozialer wird. Ganz unrecht hat er da nicht, oder?

    Beck: Oskar Lafontane hat sich, glaube ich, schon so oft überschätzt und geirrt, und ich würde ihm einmal raten, seine Rede auf dem Parteitag, als er dann hinterher Finanzminister wurde, nachzulesen, wo er Forderungen gestellt hat nach einer Privatisierung der persönlichen Risiken. Wenn wir das jetzt machen würden, dann wäre das ungleich intensiver an Einschnitten, gerade für die kleinen Leute. Also, er scheint sein Fähnchen in den Wind zu hängen. Nein, ich kann ihn da nicht ernst nehmen. Ich rate allen, die es wissen wollen, mal nachzulesen, was er von Privatisierung von Risiken – auf einem Parteitag der SPD wohlgemerkt, nicht irgendwo im Hinterzimmer – schon gesagt hat. Er ist da als Zeuge unglaubwürdig. Außerdem: Lafontane und Gysi, beide haben schon einmal Regierungsverantwortung gehabt. Der eine hat es eineinhalb Jahre ausgehalten, und der andere ganze sieben Monate einschließlich der Sommerpause. Also, insoweit von solchen Leuten, die reden, aber wenn sie ans Handeln kommen, die Brocken hinschmeißen, lasse ich mich nicht gern belehren.

    Lange: Da spricht jetzt ein bisschen Geringschätzung heraus, Verachtung vielleicht auch. Wie wollen Sie mit denen im Wahlkampf umgehen? Ignorieren reicht ja wohl nicht, also Auseinandersetzung muss ja wohl sein. Wie soll die gehen?

    Beck: Ja sicher. Man muss klar sagen, dass, wer Illusionen verbreitet und wer den Menschen vormacht, man bräuchte im sozialen Bereich keine Einschnitte und keine Veränderung, man könnte durch Umverteilung das alles regeln zu Lasten der Staatskasse, der verbreitet eine Illusion, das muss man auch so deutlich sagen. Ich empfinde keine Geringschätzung oder Ähnliches, ich empfinde fast ein bisschen Mitleid. Wenn ein Mitsechziger, der schon einmal Parteivorsitzender der Sozialdemokraten war, dann noch einmal seinen Standpunkt verliert, da kann man in einzelnen Fragen unterschiedlicher Meinung sein, man kann sich auch einmal ärgern, wer tut das nicht über seine Partei? Aber wenn man so seinen Standpunkt verliert und wenn das persönliche Handeln und das öffentliche Sagen so auseinander klaffen – wie gesagt, da war schon einmal politische Verantwortung, da hätte man ja etwas verändern können, hätte man ja versuchen können. Statt dessen hat er uns die Brocken vor die Füße geschmissen, wochenlang nicht gesagt warum, und das alles hat mich eher tief enttäuscht, als dass ich jetzt irgendwelche sonstige negative Gefühle hege.

    Lange: Trotzdem könnte es sein, dass nach der nächsten Wahl Gysi und Lafontane fast so etwas wie eine Sperrminorität im Bundestag haben. Sie werden im Moment mit zehn bis elf Prozent gerechnet bei den Meinungsforschern. Irgendeine Strategie, damit im Bundestag umzugehen, müsste man doch trotzdem haben.

    Beck: Ich glaube, das geht nur, indem man sich der Sache stellt und fragt, wie soll es denn funktionieren, wenn heute auf vier Menschen im arbeitsfähigen Alter ein Rentner kommt. In 25 Jahren werden zwei Menschen im arbeitsfähigen Alter auf einen Rentner kommen. Erklärt mir mal, wie es nach eurem System gehen soll. Und da wird man sehr schnell merken entlang solcher sachlichen Fragen, dass da zwar ein rhetorischer Popanz ist, und viel Populismus und auch die Fähigkeit, populistisch rüber zu kommen, auch eine gewisse Eloquenz, die man ja beiden nicht absprechen kann, aber ansonsten doch nicht sehr viel. Im übrigen, wissen Sie, habe ich die alte Bauernregel im Kopf, dass zwei Gockel auf einem Mist selten im Hühnerhof lange gut gehen. Da wird meistens einer sehr bald vertrieben oder geschlachtet.

    Lange: Die Grünen sind von der SPD seinerzeit auch für eine Zeiterscheinung gehalten worden. Da hat man sich auch geirrt.

    Beck: Das ist richtig, dass wir uns damals geirrt haben. Aber ich glaube, dass diese heterogene Gruppe, die ja jetzt auch noch bis ganz rechts außen fischt – man muss ja sehen, was Lafontane da gesagt hat über die atomare Bewaffnung des Iran, denen man das nicht untersagen dürfe, weil die Israelis ja auch so etwas hätten, das ist die gleiche Tour, wie sie Möllemann geritten hat bei den letzten Wahlen, nämlich ganz rechts außen zu fischen und die Fremdarbeiter und so weiter, das sind ja alles Zeichen – wer also so heterogen aufgestellt ist, von der kommunistischen Plattform bis nach ganz rechts außen fischen will, der wird nicht lange zusammen halten.

    Lange: Nun spricht ja im Moment einiges dafür, dass im September Union und FDP die Mehrheit bekommen, von denen im Grunde jeder weiß, der es wissen kann, dass sie dies als Mandat und als Legitimation wahrnehmen, noch stärker hinzulangen was Reformen am Arbeitsmarkt und in den Sozialsystemen angeht. Wenn sie diese Legitimation tatsächlich bekommen sollten, dann zeigt das doch einmal mehr, die SPD hätte viel weiter gehen können, wenn ihre interne Verfassung es zugelassen hätte, oder?

    Beck: Das glaube ich nicht, dass man die Schlussfolgerung ziehen darf. Ich will nicht bestreiten, dass die interne Breite der SPD auch einen Beitrag dazu geleistet hat, dass man nicht manchen Schritt konsequenter oder früher gegangen ist. Aber ich glaube, dass ohne die Vorarbeit, die jetzt gemacht worden ist, die Union sich erneut nicht an die Fragen trauen würde. Und das belegt aus meiner Sicht auch die Tatsache, dass Frau Merkel ja in keiner der wichtigen Fragen bisher Farbe bekannt hat. Es gibt allgemeine Bekenntnisse, die dann schnell wieder zurück genommen werden. Es gibt einen heftigen Streit um Inhalte und dann kapriziert man sich lieber darauf, darüber zu spekulieren, ob jetzt Herr Stoiber eine Funktion als Außenminister wahrnimmt, Herr Westerwelle Bauernminister wird. Das sind ja alles interessante Fragen, aber in Wirklichkeit geht es um etwas anderes, nämlich wie wollen denn diese Koalitionsfraktionen die Arbeitsmarkt- und sozialpolitischen Fragen wirklich angehen.

    Lange: Sie sind Optimist, Sie gelten als Realist und auch als Pragmatiker. Wie hoch schätzen Sie die Chancen ein, dass die SPD das noch mal herausholt im September?

    Beck: Wir haben eine Außenseiterchance, zugegebenermaßen nicht mehr. Aber ich bin Anhänger von Mainz 05 und vom 1. FC Kaiserslautern, und ich glaube jedes Jahr erneut wieder daran, dass wir gegen Bayern München gewinnen können. Und manchmal war es auch so.

    Lange: Angenommen, es kommt so, wie es jetzt den Anschein hat, es gäbe einen Machtwechsel im September. Wenn nach einer verlorenen Bundestagswahl Franz Müntefering anrufen würde und Ihnen sagen würde: Kurt, wir müssen einen personellen Neuanfang wagen, dazu brauchen wir dich als Parteivorsitzenden, zumindest für eine Übergangszeit. Dem würden Sie sich doch nicht entziehen?

    Beck: Ich bin sicher, dass Franz Müntefering mich weiterhin häufig anruft, so wie wir es jetzt auch tun, aber dass wir uns weiterhin darauf verständigen, dass er Parteivorsitzender bleibt und ich einer seiner Stellvertreter und ich loyal zu ihm stehe.

    Lange: Ich danke für das Gespräch.

    Beck: Ich danke Ihnen.