Schossig: Viele Schritte hat diese über hundert Jahre alte Partei getan, Herr Klönne, man denkt zum Beispiel an das berühmte Godesberger Programm nach dem Krieg. Ist denn die derzeitige Reformpolitik und die damit verbundenen, ja durchaus zum Teil antisozialen Entscheidungen der Agenda 2010 vergleichbar mit diesem damaligen Schritt der Abwendung vom Sozialismus? Oder, anders gefragt, ist die SPD erst seit den weithin als Zumutung empfundenen Sozialreformen in der Krise oder gibt es da eine längere Entwicklung?
Klönne: Der Vergleich mit dem Godesberger Programm liegt nahe, aber ich glaube, er trifft nicht zu, denn das Godesberger Programm bedeutete, dass die Sozialdemokratie sich damals getrennt hat von ganz bestimmten ideologischen Positionen, die mit sozialistischen Vergangenheiten zusammenhingen. Sie hat aber nicht ihre Identität verloren in Sachen Umgestaltung der Wirtschafts- und Sozialverhältnisse zugunsten der Masse der Arbeitnehmerbevölkerung, das war ja nicht etwa die Wende von Godesberg. Während jetzt in der Tat eine ganz andere Veränderung geschieht. Die SPD, wenn man das auf die üblichen Formeln bringen will, hat sich im Wesentlichen angeschlossen in ihrer Regierungspolitik und in der Politik ihrer Führung dem, was so als neoliberaler Trend bezeichnet wird.
Schossig: Die SPD war doch aber immer eine programmatisch, um nicht zu sagen ideologisch fest umgrenzte Partei. Vielleicht ist sie es ja heute nicht mehr, sagen sie. Aber sie war auch immer eine Mitgliederpartei, vielleicht gerade deswegen. Der anhaltende Mitgliederschwund und die inhaltlichen Positionskämpfe, denen wir jetzt zuschauen, die werden besonders in Hochburgen der Sozialdemokratie, etwa in Hamburg, da scheint ja der Kampf schon verloren, vielleicht bewegt sich noch etwas oder jetzt in Nordrhein-Westfalen spürbar. Da kriselt es und zusätzlich ist die Partei im Stimmungstief bei den Umfragen. Wie lange kann eigentlich eine solche Partei, die ja auf ihre Mitglieder angewiesen ist im Gegensatz zur Honoratiorenpartei der Union, wie lange kann sie das noch aushalten Ihrer Ansicht nach?
Klönne: Man wird nicht annehmen können, dass die Sozialdemokratie jetzt in kurzer Zeit aus der Parteienlandschaft, der deutschen, verschwindet. Das ist nicht anzunehmen, aber das, was ja für die SPD außerordentlich schwierig ist, ist, dass ihr im längerfristigen Trend Mitglieder und auch Wählerinnen und Wähler davonlaufen und dass es sich weitgehend um solche Menschen handelt, die zu der eigentlichen Stammlandschaft der SPD gehören.
Schossig: Was ist das, diese Stammlandschaft? Können Sie das etwas konkretisieren? Wie sieht die aus, wie ist die eingerichtet, wie ist die möbliert?
Klönne: Das ist so, dass die Mehrheitsrichtung innerhalb der, in Anführungszeichen, ganz normalen Arbeitnehmerschaft, also der Teil der Arbeitnehmerschaft, den man früher, die Bezeichnungen sind ja inzwischen nicht mehr so ganz eindeutig, als Facharbeiterschaft bezeichnet hätte. Das ist eigentlich immer die Substanz der Sozialdemokratie gewesen und war es bis vor einigen Jahren auch noch und da bröckelt das nun ab. Interessant ist ja, dass bei der Austrittsbewegung der SPD es gerade langjährige und eigentlich in ihrer Mentalität sehr stark auf die SPD fixierte, bisher fixierte Mitglieder sind, die die Partei verlassen.
Schossig: Die sagen ja, unsere Führung verscherbelt unser Tafelsilber unser ideologisches. Aber ist es nicht so, um noch mal in dem Bild der Wohnstube zu bleiben, diese sozialdemokratische Wohnstube, die ja auch etwas sehr geschlossenes, um nicht zu sagen miefiges manchmal gehabt hat, da pfeift ja jetzt der Wind der Globalisierung durch, dem kann man ja nicht einfach so zusehen, als ob nichts wäre?
Klönne: Dem kann man nicht zusehen, aber es wäre ja durchaus denkbar gewesen, dass die Sozialdemokratie versucht hätte, auf die Herausforderungen hin, die ja in der Tat bestehen, - also stärkere Internationalisierung der Wirtschaftsbeziehungen, auch selbstverständlich die demografischen Veränderungen -, darauf zu reagieren, indem sie ihr altes Grundkonzept, also das sozialpolitische, den Gegebenheiten anpasst, auch den Versuch macht, etwas auf Zukunft hin dieses Konzept tragfähig zu machen. Das hat sie aber nicht getan, sondern sie hat immer, man muss das schon so sagen, etwas opportunistisch reagiert auf jeweilige Situationen, auf Anforderungen, die so aus den Spitzen der unternehmerischen Wirtschaft kamen. Das heißt, sie hat eigentlich gar nicht versucht, für die Partei und für die Öffentlichkeit die Frage zu stellen, wie können wir denn den Kern unseres sozialpolitischen Programms erhalten und das an die neuen Gegebenheiten anpassen? Sondern sie hat reagiert und sie hat opportunistisch reagiert.
Schossig: Verloren gegangen sei auch die so genannte klassische Arbeitsteilung zwischen SPD und Gewerkschaften. Ein Thema, mit dem Sie sich in Ihrem wissenschaftlichen Leben intensiv beschäftigt haben, Herr Klönne. Das wird, sozusagen, auch von links sehr stark beklagt, dieses Auseinanderklaffen. Aber ist es denn eigentlich ein Naturgesetz, dass die Sozialdemokratie, sozusagen, die Creme der gewerkschaftlichen Bewegung darstellen muss? Reichen nicht einfach begrenzte Schnittmengen auch?
Klönne: Es muss keine völlige Übereinstimmung geben, das wäre sicherlich auch für die Gewerkschaften ja gar nicht unbedingt nützlich, aber es muss bestimmte Grundübereinstimmungen in den wichtigsten Fragen geben. Und das löst sich auf, es löst sich, das ist hier interessant, auch mentalitätsmäßig auf. Man konnte bisher davon ausgehen, dass die aktiv eingestellten Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter doch im Wesentlichen ganz eindeutig fixiert sind auf eine Sympathie für die Sozialdemokratie. Man muss auch sehen, dass sich ja nicht nur das Konzept der SPD in Schwierigkeiten befindet, sondern dass auch die Struktur, die Funktion der Partei anders geworden ist. Sie ist nach wie vor Mitgliederpartei, sie ist angewiesen, auch finanziell, auf die Beiträge der Mitglieder. Aber von ihrer Verfahrensweise her, von dem Prozess der Willensbildung her ist sie eben doch immer mehr so etwas geworden wie eine, ich nennen das mal Marketingorganisation, um politische Positionen besetzen zu können und dafür wahlpolitische Mehrheiten zu gewinnen. Das ist etwas anderes als die traditionelle Struktur der Partei.
Schossig: Zum Schluss noch ganz kurz Ihre Prognose, Herr Klönne. Sie sprechen von Politikmarketing. Wohin geht Ihrer Ansicht nach jetzt die Reise für die SPD? Vielleicht sollte sie doch zunächst in die Opposition gehen, um sich programmlich eventuell wieder zu regenerieren?
Klönne: Ich vermute, dass das nicht einfach so wieder aufzuholen ist. Ich denke erstens, dass die SPD eine regierungsfähige Mehrheit auf Bundesebene vorerst nicht mehr schaffen kann bei nächster Gelegenheit. Und ich denke allerdings zweitens, sie wird sich auch nicht einfach in der Opposition so erholen können, dass sie wieder ihre alte Funktion und ihre Stärke zurückgewinnt. Sondern ich vermute eher, dass das Parteienfeld in der Bundesrepublik insgesamt in Bewegung kommt. Auch übrigens auf Seiten der Union sobald diese wieder auf Bundesebene in der Regierung ist.
Schossig: Verscherbelt die SPD ihr ideologisches Tafelsilber? Das war Arno Klönne, der Soziologe, Mitglied des linken Flügels der SPD über die Zukunft dieser Partei. Vielen Dank nach Paderborn.