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SPD-Vorsitzender will Vermögende stärker zur Kasse bitten

Angesichts der Wirtschaftskrise hat der SPD-Vorsitzende Franz Müntefering eine Stärkung der sozialen Marktwirtschaft gefordert. In der nächsten Legislaturperiode sei eine Steuerreform zu Gunsten einkommensschwacher Gruppen notwendig. Die Einnahmen des Staates dürften durch die Neuregelung nicht gemindert werden.

Franz Müntefering im Gespräch mit Wolfgang Labuhn |
    Wolfgang Labuhn: Herr Müntefering, Bundeskanzlerin Angela Merkel hat mehrere Kabinettsmitglieder und eine Reihe von Experten aus der Wirtschaft für heute Nachmittag zu einer Art Krisengipfel ins Kanzleramt eingeladen. Sind Sie auch dabei?

    Franz Müntefering: Nein, bin ich nicht. Das ist auch nicht eine Sache der Parteien. Das ist auch nicht ein Krisengipfel, sondern es geht schlichtweg darum, dass in der konkreten Situation die Politik sich bespricht mit den Fachleuten, mit den Betroffenen aus der Wirtschaft, aus der Wissenschaft. Ich halte das für eine vernünftige Veranstaltung, die jetzt zum Jahresende vor Weihnachten noch einmal über den Stand der Dinge sich gegenseitig informiert.

    Labuhn: Das heißt, Ihr Bedauern über Ihre Nichtteilnahme - das scheint sich in Grenzen zu halten?

    Müntefering: Ja, ich bedaure das gar nicht. Ich habe ein paar Stunden frei an der Stelle, das ist auch mal ganz vernünftig. Das ist auch keine Parteisache, keine Koalitionssache, sondern es ist ein Regierungshandeln.

    Labuhn: Mit wem spricht denn die SPD unterdessen über Krisenbewältigung?

    Müntefering: Wir sprechen zum Beispiel mit den Ländern und den Kommunen, mit unseren, Frank Walter Steinmeier hat in der vergangenen Woche die Kommunalpolitiker eingeladen. Das ist ja ganz wichtig, dass wir Wege finden, wie wir ohne viel Bürokratie Arbeit in Deutschland heben und Arbeitsplätze schaffen. Und daran arbeiten wir, weil wir schon glauben, dass über das hinaus, was jetzt Gott sei Dank schon beschlossen ist, und zwar ziemlich schnell beschlossen ist, noch weitere Dinge nötig sind, um Arbeit zu schaffen und zu sichern in Deutschland.

    Labuhn: Die weltweite Finanzkrise ist inzwischen zu einer globalen Wirtschaftskrise geworden, die auch in Deutschland ganze Wirtschaftszweige bedroht. Sie selbst haben in der vergangenen Woche von einer Zeitenwende gesprochen, andere sehen jetzt sogar das deutsche Erfolgsmodell der sozialen Marktwirtschaft in Gefahr. Mit welchen Gefühlen geht eigentlich der oberste Sozialdemokrat ins neue Jahr?

    Müntefering: Es wird ein anstrengendes Jahr werden - 2009. Ich bleibe bei dem Begriff der Zeitenwende, das heißt, wir müssen lernen und begreifen auf der Welt, dass die Finanzindustrie - das Geld - Regeln braucht, nach denen das funktioniert, und zwar solche Regeln, die den Ansprüchen des Sozialen und des Demokratischen auch genügen.

    Das war in den vergangenen Jahren nicht so und deshalb haben wir jetzt das Dilemma, was wir haben. Da ist hoch leichtfertig, zum Teil auch unfähig umgegangen worden mit den Dingen. Und das muss besser werden. Wir müssen das, was wir im Nationalstaat als soziale Marktwirtschaft gekannt haben und gehabt haben, und was bei allen Schwächen, die es hat, alles in allem gut war in den vergangenen Jahrzehnten - wir müssen dieses System auch haben für Europa und für die Welt insgesamt. Und darum geht es, also soziale Marktwirtschaft muss neu fixiert werden als die Idee für das Zusammenleben in Europa und in der Welt.

    Labuhn: Was muss jetzt eigentlich nach Ihrer Ansicht vordringlich geschehen, um die soziale Marktwirtschaft hier in Deutschland zu bewahren, um Schaden von Menschen abzuwenden, die nun hilflose Opfer von Entwicklungen sind, für die sie ja überhaupt nichts können. Welche Rolle muss da beispielsweise künftig für uns der Staat spielen im Verhältnis zur Privatwirtschaft?

    Müntefering: Der Staat hat die Aufgabe, auch die demokratisch legitimierte Macht umzusetzen, und das muss er auch. Sozialstaat und soziale Gesellschaft und Sozialpartnerschaft sind unverzichtbare Größen in der sozialen Marktwirtschaft. Es ist nötig, diese Privatisierungsideologie aufzugeben, die auch tief in die Kommunen hineingegangen ist.

    Ich glaube, dass die Städte ihre besondere Verantwortung haben in dieser Situation, aber dass wir ihnen dazu auch die nötigen Mittel zur Verfügung stellen müssen. Ich glaube, dass unsere klassischen Sparkassen und Genossenschaftsbanken eine große vertrauensbildende Maßnahme sind in dieser schwierigen Situation für die Menschen, für die Städte und Gemeinden, für die kleinen und mittleren Unternehmen, und sie müssen auch neue Bestätigung und Unterstützung finden.

    Der Staat darf nicht die Illusion erwecken, er könne alles mal eben lösen. Natürlich, die Wirtschaft ist ganz wichtig und die Finanzindustrie ist ganz wichtig, aber der Staat muss den Teil der Verantwortung, den er hat, auch annehmen. Und dazu sind wir auch bereit.

    Labuhn: Kann der Sozialstaat eigentlich im bisherigen Umfang weiter existieren angesichts dieser Krise?

    Müntefering: Ja, er hat sogar ein noch größeres Gewicht. Ich erinnere mich an manche junge Leute, die mir in den letzten Jahren gesagt haben: Muss man nicht lieber auf Aktien umsteigen oder auf Fonds? Ich erlebe zur Zeit keinen mehr, der das macht. Alle haben wieder begriffen: Menschen für Menschen, Generation für Generation. Das ist sinnvoll.

    Die, die gesund sind, helfen denen, die krank sind, die Arbeit haben denen, die keine Arbeit haben zurzeit und die, die schwach sind, die bekommen Hilfe von denen, die zurzeit stark sind. Und das ist - bei allen Schwierigkeiten des Sozialstaates, die es gibt, diese große Versicherung miteinander: Alle zahlen ein, alle haben ihre Pflichten, aber alle haben auch ihre Rechte, wenn sie in existenzielle Situationen kommen.

    Diese große Idee der organisierten Solidarität, die eng zu tun hat mit der Geschichte der Arbeiterbewegung und der Sozialdemokratie, das ist die Antwort, die in diese Zeit passt. Wir müssen füreinander einstehen, das ist bei allem, was es da auch an Schwierigkeiten gibt, die beste und größte Garantie dafür, dass es ein menschenwürdiges und sicheres Leben geben kann.

    Labuhn: Muss in diesem Kontext auch die Unternehmerverantwortung neu definiert werden?

    Müntefering: Neu definiert werden würde ich nicht sagen, aber doch eingehalten werden, sie muss wieder bewusster gemacht werden. Es gibt ganz viele gute Unternehmerinnen und Unternehmer in unserem Land, da gibt es keine Beschwernis und da bin ich voll auf deren Seite. Das sind Leute, die wollen in ihrem Laden Gewinn machen - ich sage auch das Wort Profit ausdrücklich dazu, ich habe nichts dagegen. Das sind Leute, die wissen sich aber auch mitverantwortlich für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die bei ihnen beschäftigt sind. Das sind Leute, die sind stolz darauf, wenn ihre Stadt oder ihre Region, wo sie zu Hause sind, auf sie stolz ist. Das ist alles okay so.

    Aber es gibt eben auch das andere Bild. Das sind die "Hopper", die ohne Rücksicht auf Verlust und ohne Rücksicht auf die langfristigen Strukturen von Unternehmen von einem Ort zum anderen springen, schnell das Geld abschöpfen, weiter ziehen auf das nächste Feld und auch das abgrasen.

    Das ist eine Mentalität, die mit dem, was unsere Überzeugung von Politik und Gesellschaft angeht, nicht überein stimmt. Wirtschaft ist für die Menschen da und nicht umgekehrt, und das muss in all dem zum Ausdruck kommen. Und deshalb wäre es schon gut, wenn die Wirtschaft, die Finanzindustrie vorne an, einen eigenen Ehrenkodex entwickeln könnte und auch mal laut wieder sagen würde, wo ein paar Dinge klargemacht werden - übrigens auch die Begrenzung der Gehälter der Manager an der Spitze.

    Labuhn: Deutschland, Herr Müntefering, ist zwar weiß Gott kein armes Land, aber tatsächlich konzentriert sich das Vermögen doch zum großen Teil auf den privaten Konten verhältnismäßig weniger Menschen. Das heißt, es wird nicht in die Volkswirtschaft reinvestiert, und auch die Erbschaftssteuerreform, die jetzt verabschiedet worden ist, ändert daran wohl kaum etwas. Will sich die SPD damit zufrieden geben?

    Müntefering: Die Erbschaftssteuer war wichtig, dass wir sie durchgesetzt haben gegen viele Widerstände - bei der CSU vor allem. Aber richtig ist natürlich auch, dass nur etwa zwei Prozent des Erbes insgesamt dann auch in die Kassen der Allgemeinheit fließen. Wir werden in der nächsten Legislaturperiode sicher eine Steuerreform haben müssen, das gab es noch in jeder Legislaturperiode, um die Dinge auszupendeln.

    Es wird aber eine Steuerreform sein, die nicht dazu führen darf, dass es weniger Geld in den Kassen des Staates gibt, denn der wird ja große Aufgaben behalten. Sondern es wird etwas sein, wo man auspendeln muss zwischen denen, die ganz viel haben und die diese Gewinne, diese Einkommen, die sie haben, auf die hohe Kante legen und einfach von ihren Zinsen leben, da an dieser Stelle. Es muss etwas sein, das zu Gunsten derer geht, die weiter unten hängen in der Einkommensgruppierung.

    Da wird es sicher was zu korrigieren geben, aber das wird man im einzelnen genau in der nächsten Legislaturperiode zu machen haben - nachzudenken über das, was mit den wirklich Vermögenden da eigentlich steuerpolitisch gemacht werden muss.

    Labuhn: Viele Menschen halten ja unser Steuersystem ohnehin für höchst ungerecht. Sie haben gerade angedeutet, was die Ursache dafür sein könnte. Können Sie etwas genauer sagen, welche Schwerpunkte eine Steuerreform in der nächsten Legislaturperiode setzen müsste?

    Müntefering: Nein, da würde ich mich jetzt nicht ins Detail reinbewegen. Das ist nicht auf der Höhe der Zeit und das würde auch ein bisschen ablenken von dem, was wir jetzt im Augenblick machen müssen. Denn im Moment geht es im Jahr 2009 um die Frage, wie schaffen wir Arbeit, wie schaffen wir Arbeitsplätze. Und dazu wird sich in der Steuer jedenfalls nichts tun.

    Alle, die das jetzt fordern, die CSU ganz vorne an, die lenken nur ab von dem, was jetzt erforderlich ist. Es geht jetzt nicht um eine Steuerreform, es geht nicht um Steuersenkung. Wir haben eine hohe Sparquote von elf Prozent in Deutschland, das heißt, alle Wahrscheinlichkeit spräche dafür, dass - wenn wir jetzt eine entlastende Steuerreform machen würden, das Geld auf den Banken läge und nicht realisiert wird am Arbeitsmarkt, am Binnenmarkt. Und das gilt auch für eine Senkung der Mehrwertsteuer.

    Das macht keinen Sinn. Keiner kann überhaupt wissen, ob eine solche Steuersenkung oder eine Mehrwertsteuersenkung sich in Preisreduktionen oder Initiativen auf dem Binnenmarkt niederschlagen würde. Das ist kein Thema für das Jahr 2009.

    Labuhn: Es gibt da noch einige andere Ideen, um die Konjunktur zu beleben, etwa die Idee von Konsumgutscheinen, die verteilt werden sollen. Was halten Sie davon?

    Müntefering: Ich glaube, dass wir eine Gruppe noch mal besonders in den Blick nehmen müssen. 24 Millionen Haushalte zahlen in Deutschland keine Steuern. Das sind die mit dem ganz wenigen Einkommen, das sind die Arbeitslosen, aber das sind auch Rentnerinnen und Rentner in hohem Maße. Und ich glaube, dass das eine Gruppe ist, die durchaus auch Interesse haben könnte, mindestens im Bereich der Rentnerinnen und Rentner, ihre Wohnungen zu verbessern, zu modernisieren, sie ökologisch vernünftig auszugestalten, sie alten- und behindertengerecht auszugestalten.

    Wenn einer, der Steuern zahlt, in seiner Wohnung Arbeiten durchführen lässt, ökologisch vernünftige, 6000 Euro Arbeitskosten, dann bekommt er bei vom Finanzamt 1200 Euro wieder. Der, der keine Steuern zahlt, der Rentner, hat davon nichts. Und da war mein Gedanke, dass man sich überlegen könnte, ob man nicht auch dort eine Hilfestellung gibt, damit auch dort privates Geld investiert wird, Arbeitsplätze geschaffen werden für das Handwerk vor Ort, was Vernünftiges getan wird für die Umwelt, weniger Energieverbrauch. Und das Ganze amortisiert sich auch in den nächsten sieben bis acht Jahren, denn die Energiepreise sind hoch. Da gibt es eine ganze Menge Arbeit, die getan werden könnte. Das ist aber nicht die Idee des pauschalen Gutscheins.

    Labuhn: Das war jetzt ein Detailbeispiel. Blicken wir einmal auf das Ganze. Ist Deutschland eigentlich richtig aufgestellt, um das zu bewältigen, was im kommenden Jahr wohl auf uns zukommen wird? Reicht das, was bisher beschlossen worden ist aus, also das Finanzmarktstabilisierungsgesetz und das Konjunkturpaket, oder muss da nachgebessert werden?

    Müntefering: Es ist eine ganze Menge geschehen, übrigens mehr als in den meisten anderen europäischen Ländern. Ich verstehe die Diskussion nicht, da es das Ganze auf europäischer Ebene gibt. Aber wir gehen gleichwohl davon aus, dass noch etwas kommen muss, und zwar ganz konkret unter der Fragestellung: Wie schaffen wir Arbeit? Gibt es Arbeit in Deutschland, die gehoben werden kann? Und die gibt es natürlich im Bereich der Infrastruktur und im Bereich der privaten Häuser und Wohnungen. Und da müssen wir prüfen, was können wir noch zusätzlich tun, was müssen wir tun, und zwar immer solches, was ökologisch vernünftig ist und was gesellschaftspolitisch vernünftig ist, und wie kann man das in Bewegung setzen mit möglichst wenig öffentlichem Geld.

    Denn wir haben Geld. Der Finanzminister Peer Steinbrück hat natürlich Recht, wenn er sagt, ihr dürft mir die Kassen nicht räubern, sondern es muss auch eine Linie bleiben, sparsam mit Geld umzugehen und die Neuverschuldung zu reduzieren. Aber mit dem wenigen öffentlichen Geld, das wir haben - wie kann man damit möglichst viel Arbeit vor Ort organisieren und beschleunigen, so dass es Arbeitsplätze vor Ort in den Städten und Gemeinden gibt?

    Labuhn: Was bedeutet eigentlich die sich abzeichnende Konjunkturkrise für die anstehenden Tarifverhandlungen? Müssen sich die Arbeitnehmer hierzulande erneut mit ganz geringen oder überhaupt keinen Lohnzuwächsen begnügen?

    Müntefering: Ich habe denen nicht da reinzureden. Das wissen die sehr gut und besser, als Politiker das sagen können. Aber wenn man einfach aufs Ganze guckt, die Unternehmen haben in den vergangenen Jahren hohe Gewinne gemacht, große Gewinne gemacht, manche exorbitant hohe Gewinne. Die Arbeitnehmer haben sich zurück gehalten. Ich finde, dass eine doch hinreichende Lohnerhöhung ansteht in vielen Bereichen und dass die Gewerkschaften mit Recht darauf auch ausgerichtet sind.

    Labuhn: Herr Müntefering, die obersten Krisenmanager Deutschlands, die heißen Angela Merkel und Peer Steinbrück im Moment, wobei die Richtlinienkompetenz bei der Kanzlerin liegt. Hat sie nach Ihrem Eindruck in dieser Situation die nötige Führungsstärke gezeigt, auch innerhalb ihrer eigenen Union, auch gegenüber der Schwesterpartei CSU in Bayern?

    Müntefering: Ich glaube, dass Deutschland insgesamt vernünftig reagiert hat, nicht hysterisch, aber doch zielgerichtet. Wir haben zunächst einmal die Spareinlagen der kleinen Leute gesichert, die zehn-, zwanzig-, dreißigtausend hoch liegen haben, damit die keine Angst haben müssen. Wir haben den Bankenschutzschirm angeboten, also die Kreditfähigkeit der Unternehmen und der Banken wieder verbessert, auch die Kreditvergabebereitschaft - da hakt es noch, da muss noch etwas besser werden. Deshalb ist ja das Gespräch auch im Kanzleramt. Und wir haben dann angefangen, Arbeitsplätze zu schaffen und zu sichern.

    Das war gut. Wenn ich auf die Regierung insgesamt gucke, da sage ich, es ist gut, dass die Sozialdemokraten dabei sind. Wenn ich mir vorstelle, in der Regierung wäre Frank-Walter Steinmeier nicht dabei und Peer Steinbrück, Olaf Scholz und andere, und die ganze Regierung bestünde aus Frau Merkel und Herrn Glos, dann wäre mir ein bisschen blümeranter. Also, ich bin ganz froh und auch ein bisschen stolz, dass die Sozialdemokraten dabei sind und dass wir eine so gute, bedächtige, solide, kompetente Rolle spielen wie insbesondere Frank-Walter Steinmeier und Peer Steinbrück.

    Labuhn: Das klingt ja fast so, als ob die große Koalition die richtige sei für eine große Krise?

    Müntefering: Nein, aber wir sind da, und wir müssen uns dieser Situation stellen. Wir können uns das nicht aussuchen. Als die Koalition begann, wussten wir noch nicht, dass es diese Situation geben würde, diese Fundamentalkrise, wie man es wohl bezeichnen muss. Und das ist auch alles keine Aussage zu dem, was 2009 nach der Bundeswahl nötig ist. Da habe ich ganz andere Dinge, die ich favorisiere. Aber diese große Koalition muss sich auch nicht schlechter machen als sie ist. Und wir müssen uns auch nicht bücken angesichts dessen, was andere europäische Länder tun, sondern wir können sagen, im Rahmen dessen, was möglich ist und nötig ist, ist bisher das Wichtige getan. Und nun müssen wir aber auch daran arbeiten, zu prüfen, was die nächsten Schritte sind.

    Labuhn: Beim Amtsantritt dieser großen Koalition vor drei Jahren hieß das gemeinsame Regierungsmotto ja - unter ganz anderen Vorzeichen natürlich - sanieren, reformieren, investieren. Wie muss dieses Motto heutzutage lauten, nach Ihrer Meinung?

    Müntefering: Es muss erstens dabei bleiben, denn es beinhaltet ja den Gedanken, wir müssen verhindern, dass der Staat sich überschuldet. Wir haben im letzten Jahr 40 Milliarden etwa ausgegeben an Zinsen - an Zinsen, nicht an Schulden.

    Es heißt aber auch, es muss investiert werden. Und gerade Peer Steinbrück hat 2005/6 dazu beigetragen, dass wir öffentliches Geld zur Verfügung gestellt haben, um neue Arbeitsplätze zu schaffen. Und wir müssen auch reformieren. Wir müssen daran denken, dass Dinge verändert werden müssen. Und da ist ganz vorne an die Bildung zu nennen, die Ausbildung, die Qualifizierung.

    Die Wohlstandssicherung des Landes und die Alterssicherung für die Zukunft der nächsten Jahrzehnte hängt ganz entschieden davon ab, wie viel Geld wir in die Köpfe und in die Herzen der Kinder und der jungen Menschen investieren. Und deshalb fängt alles Denken der Politik vernünftigerweise da vorne an.

    Noch mal, ich bin an der Seite des Finanzministers, wenn es darum geht, sparsam mit dem Geld umzugehen, aber wir müssen jetzt auch die nötigen Entscheidungen treffen für das, was unmittelbar jetzt 2009 und für das, was mittelfristig bedeutsam ist für die Wohlstandssicherung des Landes insgesamt; denn Wohlstand für alle in einem sozialen und demokratischen Staat, das bleibt das Ziel sozialdemokratischer Politik.

    Labuhn: Herr Müntefering, im Zimmer des SPD-Vorsitzenden im Berliner Willy-Brandt-Haus, da war vor ungefähr zweieinhalb Jahren eine Zeichnung von Günter Grass zu sehen. Können Sie den Hörerinnen und Hörern dieses Interviews der Woche im Deutschlandfunk einmal beschreiben, was darauf zu sehen war?

    Müntefering: Ja. Das hat er mir geschenkt. Ein nettes Blatt. Als ich den Begriff der Heuschrecken geprägt habe, der Begriff der Heuschrecken für die Teile der Finanzindustrie, die unsozial und ohne Rücksicht auf Verluste durchs Land ziehen, durch die Welt ziehen und Unternehmen ausbeuten, Menschen auf die Straße schmeißen und die ohne soziale Verantwortung handeln. Und da hat der Grass mir ein nettes Bild geschenkt, wo eine große, große Heuschrecke jemandem über die Nase kriecht. Ich habe es jetzt nicht mehr hier hängen, sondern es ist in Bonn in meinem Privathaus. Aber es ist unverändert gültig.

    Labuhn: Inzwischen muss man aber ja feststellen, dass es dem Kapitalismus schon einmal besser ging. Kann er überhaupt in der bisherigen, global weitgehend ja unkontrollierten Form überleben, oder stehen wir vor einer ganz neuen Zeit, vor einer Zeit globaler staatlicher Regulierung der Finanzströme?

    Müntefering: Wir denken alle in nationalstaatlichen Kategorien. Und es gibt auf der europäischen Ebene und auf der Weltebene eben noch nicht die zwingende Regelung für die Wirtschaft und für die Finanzindustrie so, wie sie sie braucht, damit sie sich vernünftig sozial verhält. Und da muss man weiterkommen.

    Mein Ansatz ist, dass wir zunächst einmal ganz verstärkt darauf achten, dass wir in Europa eine gemeinsame Politik finden, die dichter ist und überzeugender als bisher. Wir brauchen eine Basis für eine gemeinsame Steuerpolitik in Europa. Es darf kein Steuerdumping geben in Europa. Die Steueroasen müssen weg, überhaupt keine Frage. Mit aller Radikalität muss dieses Piratentum da verboten werden und ausgemerzt werden. Das muss weg. Das darf nicht weiter möglich sein, dass Leute auf der Welt sich in solche Oasen flüchten und an den staatlichen Verantwortlichkeiten vorbei handeln.

    Es muss auch ein gemeinsames Handeln geben in Europa, das ist ganz klar. Aber das müssen wir intensiver als bisher organisieren. Und wenn dieses Europa, wenn 27 souveräne Staaten demokratisch legitimiert es schaffen, in Europa die Idee einer Sozialunion erkennbar zu machen und deutlich zu machen, wir sind in der Lage, ökonomisch erfolgreich zu arbeiten und sozial stabil zu sein, dann wird das ein großes leuchtendes Beispiel für die Welt insgesamt sein.

    500 Millionen Menschen, Frieden, Wohlstand in diesem Europa - das ist eine Riesenchance, die wir historisch haben. Und nur - anders gesagt - wenn dies gelingt, wird es auch in der Welt eine Zukunft für die Demokratie geben. Meine Sorge bei der ganzen Heuschreckendiskussion war 2005 und ist auch heute, dass die Leute mit dem vielen Geld die Demokratie eigentlich für Bürokratie halten, dass sie auch Kündigungsschutz und Arbeitnehmerrechte im allgemeinen für Bürokratie halten und dass sie uns augenzwinkernd sagen, ohne das alles geht es doch viel besser und schneller und kann man mehr Geld verdienen. Aber das kann es nicht sein.

    Wir müssen darauf bestehen, dass die Idee der Sozialmarktwirtschaft, des Sozialen und des Demokratischen die beherrschenden Maxime ist für die Politik in Deutschland, in Europa und weltweit. Und dafür müssen wir Sozialdemokraten in besonderer Weise streiten.

    Labuhn: Sie haben das Stichwort Steueroasen genannt. Wie wollen Sie diese Oasen knacken?

    Müntefering: Ich mache darauf aufmerksam, in den 14 Punkten, die Peer Steinbrück vorgelegt hat mit seiner Kommission für die Neuordnung der Finanzmärkte, gibt es auch einen Punkt 13, und der heißt, die Steueroasen müssen abgeschafft werden. Punkt. Und ich sage: Basta.

    Labuhn: Zurück nach Deutschland, Herr Müntefering. Hier stehen im kommenden Jahr 16 Wahlen an, Kommunalwahlen, Landtagswahlen, die Wahl zum europäischen Parlament, dann natürlich die Bundestagswahl und zwischendurch wird auch der Bundespräsident neu gewählt. Den Auftakt bildet die hessische Landtagswahl am 18. Januar. Welche Lehren hat die SPD aus dem Hessendebakel gezogen, das nun ja dazu führen könnte, blickt man auf die Umfragen, dass der CDU-Ministerpräsident Roland Koch doch im Amt bleibt?

    Müntefering: Na ja, warten wir mal ab. Ich finde, dass der Thorsten Schäfer-Gümbel da einen guten Start gehabt hat. Er ist noch relativ jung mit seinen 39 Jahren und er macht jetzt eine gute Figur, sowohl inhaltlich als auch als Person, als Mensch. Und er wird besser abschneiden, als mancher es noch gedacht hat, als es zu diesem Debakel dort gekommen ist.

    Ansonsten kommt es darauf an, dass wir uns auf dieses Wahljahr vorbereiten, wie es sich gebührt, nämlich der einzelnen Situation entsprechend, in den Städten und Gemeinden, in Europa und auf der Bundesebene natürlich das Ziel im Auge behalten, ganz klar. Und das ist das Entscheidende, dass der Frank-Walter Steinmeier im Kanzleramt ankommt in diesem Jahr. Und das wird uns gelingen.

    Labuhn: Das wird ein ungewöhnlicher Wahlkampf, wenn Frank-Walter Steinmeier tagsüber als Vizekanzler mitregiert, zumal in Krisenzeiten, und abends dann die Kanzlerin als politische Gegnerin zu kritisieren hat.

    Müntefering: Na ja, das ist nicht ungewöhnlicher, als wenn die Bundeskanzlerin als Bundeskanzlerin auftritt und abends als CDU-Vorsitzende auftritt. Das ist nun mal so. Das gehört zur Demokratie mit dazu.

    Ich glaube, da sind wir alle erwachsen genug und mitteleuropäisch zivilisiert genug, um damit vernünftig umgehen zu können. Trotzdem, wenn die Zeit des gemeinsamen Regierens zu Ende geht, und das wird im Sommer so sein, dann wird es auch einen harten und klaren Wahlkampf geben und dann wird man noch mal sich zu unterhalten haben darüber, was denn eigentlich die Himmelsrichtungen der Politik sind.

    Ich will daran erinnern, dass Frau Merkel vor nicht langer Zeit die neue soziale Marktwirtschaft propagiert hat. Das war ja wohl so was wie soziale Marktwirtschaft light, dass man die Entfesselung der Wirtschaft gefordert hat und den Wettbewerb total beschrieben hat und gefordert hat und wie man jetzt zurück rudert und wie auch jetzt das Adenauer-Haus dabei ist, die soziale Marktwirtschaft wieder aus dem Keller zu holen.

    Ich glaube, dass wir da an vielen Stellen überzeugend darstellen können, dass wir eine politische Linie haben, die konsistenter ist und die auch konzentrierter und zielgerichteter ist als das, was in der Union zurzeit stattfindet. Die CSU spielt da eine ganz besondere Rolle, die offensichtlich mit ihrem gebrochenen Größenwahn nach dieser Landtagswahl noch nicht so richtig fertig wird und die dann erkennbar der CDU und der Union erhebliche Schwierigkeiten macht. Die CSU ist das labile Bein in dieser großen Koalition, das ist so, nicht erst jetzt.

    Labuhn: Wenn der Mantel der Geschichte jetzt rot weht, wie Frank-Walter Steinmeier ja vor einigen Tagen meinte, hat sich das ja in den Meinungsumfragen bisher nicht niedergeschlagen. Die SPD liegt noch immer weit hinter der Union, die nach neuesten Zahlen sogar mit der FDP eine Koalitionsregierung bilden könnte. Warum profitiert die SPD ausgerechnet als Partei sozialer Gerechtigkeit eigentlich nicht stärker von dieser Finanz- und Wirtschaftskrise?

    Müntefering: Na ja, weil zur Zeit noch keine Wahl ist. Die Frage ist ja immer, wenn am nächsten Sonntag Bundestagswahl wäre, aber das ist nicht, am übernächsten Sonntag auch nicht und am Sonntag danach auch nicht. Und weil die Leute das wissen und weil man denen nicht Fragen stellen kann unter einer solchen Maxime, unter einer solchen Bedingung kommen immer Ergebnisse raus wie sie rauskommen.

    Das war aber 2005 nicht anders. 2005 in einer solchen Entfernung zur Bundestagswahl hatte die Union 48, 49 Prozent. Und die Frage war damals bei ihnen, kriegen die jetzt eine eigene absolute Mehrheit oder brauchen die noch die FDP. Und zum guten Schluss lagen wir dann um 0,5 Prozent nah beieinander. Und wenn wir noch drei Tage mehr Zeit gehabt hätten, hätte Gerhard Schröder noch Recht bekommen an dem Abend mit seiner Attacke im Fernsehen. Gar keine Frage.

    Also fangen wir diesmal früher an und machen intensiven Wahlkampf. Entschieden ist jedenfalls überhaupt nichts. Jeder Wahlkampf ist ein Unikat, jeder Wahlkampf läuft anders als die anderen. Aber so viel kann man schon sagen: Die Sozialdemokraten können auf ihre Leistung in dieser Regierung gut verweisen und bei der Union, die taucht manchmal links von uns auf und manchmal rechts von uns auf und manchmal habe ich den Eindruck, sie wird über die Außenlinie des Spielfelds hinausgetragen. Und die werden sich irgendwann auch wieder verhalten müssen und dann wird man noch mal über vieles miteinander sprechen, was die politischen Inhalte angeht.

    Wir sind nicht euphorisch, aber die Chance ist da, deutlich aufzuholen und letztlich auch die Nase vorne zu haben, und dafür kämpfen wir.

    Labuhn: Schönen Dank.

    Müntefering: Bitte schön.