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Sphären

Der Dichter Samuel Beckett behauptete, daß er über Erinnerungen an seine frühe, uterine Existenz verfügte. Diese Reminiszenzen an das amniotische Wohlbehagen und an den Kälteschrecken der Geburt scheinen sein gesamtes Werk geprägt zu haben, das man unter die Formel bringen könnte: Postuterine Verhängnisse. Becketts Helden sind in einem Katastrophensinne nicht zu Ende geboren. Bewegungsunfähig, eingepfählt in stinkende amorphe Substanzen, krank und psychotisch, von Halluzinationen heimgesucht, zu Zwangsallianzen mit anderen verflucht, lösen sie sich in Obsessionen auf. Am Rande der Sprache, halb ins Schweigen getaucht, streben sie kriechend einem Ende zu, das sie ihrem seligen Anfang wieder zurückgeben soll.

Manfred Schneider |
    Suchte man nach dem Theoriekorrelat oder nach einem anthropologischen Kommentar zu den Roman- und Dramenhelden des großen Samuel Beckett, so böte sich heute das Werk Peter Sloterdijks an. Das ist, verehrte Hörerinnen und Hörer, ein etwas vergiftetes Lob. Denn - um mit offenen Karten zu spielen - Sloterdijks Bücher sind leider nicht für mich geschrieben. Sein Werk, das ein wenig mit seiner Unzeitgemäßheit kokettiert, bietet mir keine Erkenntnisse, seine Gedankenwelt möchte ich nicht bewohnen. Becketts monomanisch-erhabene Schrecklichkeit gibt uns immerhin das Gefühl, daß hier etwas über unser Sein gesagt wird. Doch Sloterdijk wartet mit einem viel subtileren Schrecken auf. Zwar sieht und beschreibt auch er uns in einer trostlosen Beckett-Befindlichkeit; aber er will uns aus allen diesen Übeln wieder hinausführen. Er will uns retten, indem er uns sagt, warum wir in dieser Hölle der modernen Welt gebraten werden. Aber wollen wir wirklich gerettet werden? Wollen wir das Glück? Wollen wir die laue mittlere Temperatur im Paradies, die sich Nietzsche auf elf Grad wünschte, zugunsten unserer komfortablen Kälteschauer tauschen? Sloterdijks Evangelium läßt sich freilich nicht einfach abtun. Seine Schrecken und Zumutungen, seine Anmaßungen und Verirrungen, die Gorgonenblicke und der Erlöserton dieses Werkes wollen erkannt und nicht gleich geschmälert werden.

    Peter Sloterdijk hat sich daran begeben, eine Morphologie des Sphärischen, ja eine Anthropologie, eine Kultur- und Weltgeschichte des vergessenen, entseelten, durch Technikprothesen ersetzten Sphärischen zu schreiben. Das Kugelförmig-Sphärische ist - in einem psychologischen, existenziellen, kosmischen Sinne - die seit der Aufklärung verlassene, verlorene, verdrängte natürliche Seelenheimat des Menschen. Sloterdijks auf drei Bände angelegtes Werk trägt daher den Titel "Sphären", und der eben erschienene erste Band behandelt die Sphärensorte "Blasen". Im Untertitel kündigt dieser erste Band eine "Archäologie des Intimen" an. Was ist unter solchen Intim-Blasen, unter den verlassenen Kugel-Heimaten der Menschen zu verstehen? Blasen sind zunächst im Sinne der "Poetik des Raumes", die der französische Philosoph Gaston Bachelard entworfen hat, poetische Klein- und Großräume, die sich aus der Beobachtung von Kunstwerken, von Hermann Hesses "Glasperlenspiel" etwa, erschließen. Für Sloterdijk nun bilden Blasen die spatiale Struktur menschlichen Seins schlechthin. Eine solche Blase, geradezu eine Fundamentalblase, ist nach Sloterdijk der das Embryo umfangende uterale Raum. Aber nicht der Uterus in einem organisch-anatomischen Sinne. Denn was Sloterdijk über diese uterine Blase schreibt, ist ausdrücklich und tatsächlich weit entfernt von aller physiologisch-gynäkologischen Beobachtung. Darum gibt er seiner Meditation über die amniotische Kugelbehausung des Fötus auch im Anklang an Adornos "Negative Dialektik" den klangvollen Titel "Negative Gynäkologie". In dieser Blase, in einem Fluidum vielfältiger sensorischer, vor allem auditiver, vokaler Reize bildet sich eine erste Psychoform heraus. Die Kräfte zur allmählichen Reifung bezieht der fötale Keimling nun aber daher, daß er seine "uterine Sphärennacht" mit einem organischen Partner teilt, der ihn von allem Anfang an in eine Art konstitutiver Zweisamkeit hineinzieht. Allen Prägungen durch Objektbeziehungen, die die Psychoanalyse beschreibt, geht diese duale Fundierung im Amnion voraus. Wer aber ist dieser Partner der primären Zweisamkeit? Es ist die Plazenta. Zwischen Plazenta und Fötus, die Sloterdijk das "Mit" und das "Auch" nennt, um sie aller Begriffsgewalt zu entrücken und als Konjunktionsgeschwister zu kennzeichnen, findet nun ein Spiel räumlicher, nutritiver, akustischer, taktiler Blasenbelebung statt, die der Autor in schönster Philosophenweise als den absoluten Anfang, als die allesentscheidende formative Phase eines jeden Menschen bezeichnet. Das Aufklärungsverhängnis, die Verfehlung unserer kulturellen Vernunft und der modernen klinischen Medizin besteht nun darin, diese Plazenta, die Nachgeburt, gedankenlos zu beseitigen. Selbst die europäische Kultur kannte bis in die Neuzeit hinein Rituale, Mythen und magische Verwendungsweisen, die der Plazenta, dem uterinen Double eines jeden Menschen, eine besondere symbolische Bedeutung zuschrieben. Die Verwandlung der Plazenta, der Nachgeburt, in Müll ist ein Verbrechen, das daher jeder von uns zu büßen hat. Hören wir nur zu:

    "In der Tat: Seit das intime Mit nicht mehr im Haus oder unter Bäumen und Rosenstöcken begraben wird, sind alle Individuen latent Verräter, die eine unermeßliche Schuld zu leugnen haben; mit ihrem resoluten Eigenleben streiten sie ab, daß sie in ihrem reuelos autonomen Sein ihren Verrat an ihrem intimsten Begleiter fortwährend wiederholen. Manchmal glauben sie, eine eigene Tiefe zu entdecken, wenn sie sich einsam fühlen; doch selbst hierbei verkennen sie, daß auch ihre Einsamkeit nur halb ihre eigene ist, die kleinere Hälfte einer Einsamkeit, von der das im Müll verschwundene Mit den größeren Teil auf sich genommen hat. Das einsame moderne Subjekt ist nicht das Ergebnis einer Selbstwahl, sondern das Spaltprodukt aus der formlosen Trennung von Geburt und Nachgeburt. Seinem positiv eigensinnigen Sein haftet der nie zu gestehende Makel an, daß es auf der Vernichtung des innigsten Prä-Objekts beruht. Sein eigener singulärer Wert ist mit dem Abstieg des Zweiten in den Urabfall erkauft. Weil der Verbündete im Müll verschwand, ist das Subjekt ein Ich ohne Doppel: ein unabhängiger, unwiederholbarer Meteor. Seinem Nabel gegenüber findet der freigesetzte Einzelne anstelle des Mit-Raums nicht das ansprechbare Offene, sondern neurotische Geschäfte und das Nichts. Betriebe das Subjekt das, was man im Westen verächtlich Nabelschau nennt, so fände es nur den eigenen unbezüglichen Knoten. Nie würde es begreifen, daß der durchtrennte Faden im Imaginären wie im Psycho-Sonoren unweigerlich zeitlebens in einen Mit-Raum hinüberzeigt. Von seiner psychodynamischen Quelle her ist der neuzeitliche Individualismus ein plazentaler Nihilismus."

    Die Archäologie des Intimen setzt mit einer Poesie der uterinen Zweisamkeit ein, wonach ein jeder Mensch auf diese Struktur festgelegt ist. Die unheilvolle Säkularisierung der Plazenta zu Müll markiert den historischen Augenblick, wo die moderne Sphärenlosigkeit, der Heimatverlust, die Störung aller Beziehungen zum anderen einsetzt. Um noch einmal auf unseren Vergleich zur Becketthaftigkeit Sloterdijks oder zur Sloterdijkhaftigkeit Becketts zurückzukommen: Eine Romanfigur wie Becketts Molloy, der bewegungsunfähig und ohne zu wissen, wie er dort hingelangt ist, im Bett seiner Mutter seine Vergangenheit resümiert, ist nichts anderes als ein fötal zurückentwickelter Solist. Gerade weil er sich daran erinnert, daß ihn seine Mutter durch den Anus zur Welt gebracht hat, ist er von der Müllhaftigkeit seiner Existenz durchdrungen. Und Malone, sein Double, der nach ihm sucht und ihm so ähnlich ist und der gleichfalls ans Bett gefesselt ist, bildet unweigerlich seinen Zwilling. Nun mögen wir mit diesem Gedanken dem Werk des Intellektuellen Sloterdijk vielleicht gerecht werden. Aber wie weit reicht diese Gerechtigkeit? In den vergangenen Jahrzehnten wurde der Aufklärung so oft der Prozeß gemacht, und es gingen so viele Schuldsprüche über die arme Vernunft des 18. Jahrhunderts nieder, von Horkheimers/Adornos "Dialektik der Aufklärung" bis zu Deleuze/Guattaris "Anti-Ödipus", daß wir allmählich nicht umhin kommen, unseren Ausgang aus der Unmündigkeit zu bereuen. Aber können wir nun glauben, daß das ganze Unheil einsetzte, weil unsere Urgroßväter die Plazenta nicht mehr unter dem Apfelbaum vergruben? Diesen Schuldspruch werden wir so schnell nicht unterschreiben.

    Fahren wir aber erst einmal fort, uns mit Molloy in unsere unzugängliche Vergangenheit zurückzutasten. Sloterdijk weiß selbst, daß seine Inspektion der pränatalen Intimität reine Fiktion ist. Seine Argumentation, daß es einen ursprünglichen Verlust an Zugewandtheit, an Zweisamkeit, ein Verlust des Sinnes für die Widergänger des archaischen Plazenta- Gefährten gibt, beruft sich auf die Mythologie der Genien, der Schattenwesen, der Schutzengel und anderer hilfreicher alter egos, von denen Märchen, Mythen und vielleicht auch manche Krankengeschichte raunen. Dieses märchenhafte Gewimmel der guten Geister dient zur Evidenzsicherung einer ganzheitlichen Vorstellung des Seelenraums, dessen uranfängliche Zweiteilung sich nach der Geburt allmählich in das Drei-, Vier- und Fünffache erweitert. Nur in Begleitung dieser Genien und Engel, der imaginären Kopien des uteralen Prototyps, vermag ein Mensch in der Welt zu bestehen. Eine solch völlig neue Version über die psychische Geburt des Menschen kann sich freilich nicht mit einer suggestiven Darstellung und mit der großen Helferschar literarischer und mythischer Halbwesen allein begnügen. So begibt sich Sloterdijk furchtlos, wie er ist, an die Auseinandersetzung mit Freud, Lacan und anderen Vätern der Theoriemoderne, die das pränatale Erfahrungs- und Prägeuniversum nicht beachteten. Wir wollen die Argumente hier nicht im einzelnen wiedergeben, sondern zwei Beispiele für Sloterdijks neue Diagnosen klassisch-moderner Seelenerkrankungen zitieren. Die Psychotiker, bei denen Kant ein "Rasen der Vernunft" beobachtete, zu denen also auch eine Reihe von Beckett-Figuren gehören, leiden nach Sloterdijks Lesart an den Folgen früher Sphärenkatastrophen. Die Psychose bildet darum das Urthema der Moderne, sagt unser Philosoph, weil diese Moderne die Menschheit aus ihrem Schalenzuhause ins unwirtliche Außen gestoßen hat. Und gegen Freuds klinische Erfahrung, wonach die Melancholie als unterlassene Trauer, als Verdrängung eines erlittenen Objektverlustes aufgefaßt werden kann, setzt der Sphärentheoretiker und Plazentamelancholiker die Ansicht, daß die schwarze Trauer an dem Verlust des Glaubens an einen fortlebenden uterinen Partner krankt. Vernehmen Sie es in den Worten des Autors selbst:

    "In diesem Sinne wäre der melancholische Mensch ein Häretiker des Glaubens an seinen guten Stern - ein Atheist in bezug auf den eigenen Genius oder den unsichtbaren Doppelgänger, der ihn von dem unüberbietbaren Vorteil, er selbst und niemand sonst zu sein, hätte überzeugen sollen. Melancholie ist somit die massive Form des Glaubens, von dem intimen Ergänzungsgott, oder der Göttin, verlassen zu sein, durch dessen oder deren anfängliche Gegenwart das eigene Dasein seine geburtliche Bewegung begonnen hatte. Mit tiefster Verstimmung antwortet das verlassene Subjekt auf die Erfahrung eines metaphysischen Betrugs: von dem intimen großen Anderen zum Leben verführt worden zu sein, um dann auf halbem Wege von ihm aufgegeben zu sein."

    Meine sehr verehrten Zuhörer: Man kann, um sich in der Welt der unsterblichen Gedanken zu orientieren, zwei Arten von Philosophen unterscheiden. Der eine sagt: "So ist die Welt! Mach’ Dir keine Illusionen!" Der andere sagt: "Da die Menschen die Welt so entstellt haben, müßt ihr die Welt und Euer Leben ändern!" Zur ersteren Art zählen etwa Aristoteles oder Immanuel Kant. Ebenso Hegel oder heute Niklas Luhmann. Es sind die Philosophen, die nach dem verhängnisvollen Wort von Marx die Welt nur verschieden interpretiert haben. Zur zweiten Art zählen die Veränderer und Erlöser: Außer Marx gehören hierzu der Kirchenvater Augustinus oder Arthur Schopenhauer, Nietzsche oder Heidegger. Die Welterklärer bringen keinen Tropfen Blut in Wallung. Wohl aber die Änderer. Kein Zweifel: Sloterdijk gehört zur zweiten Gruppe, zu den Erziehern des Menschengeschlechts, die entweder aus radikalem Pessimismus oder aus radikalem Optimismus heraus sprechen. Mehr noch: Sloterdijk möchte die Menschheit, die durch die Aufklärung in das kalte Außen, in das schalenlose Nichts des Unglaubens und der mechanisch funktionierenden Welt getrieben wurde, wieder einsammeln. Er möchte ihr die zarten Hüllen ihrer urtümlichen Sphärenexistenz wieder zurückschenken und die Moderne aus ihren mit Surrogaten aufgefüllten Milieus, aus ihrem Evolutionsglauben, ihrem verzweifelten Ökonomismus und Globalismus herausführen.

    Sloterdijk ist seiner literarischen Kunst und seines Antimodernismus wegen bereits mit Arthur Schopenhauer verglichen worden. Schopenhauer verzweifelte bereits vor 150 Jahren am Lärm und Tempo der Eisenbahn. Mit dem Philosophen des verhängnisvollen Willens verbindet Sloterdijk aber nicht nur der Wunsch, die technische Moderne zu verlangsamen und stillzustellen, sondern außerdem der Glaube an die Erlöserweisheit aus dem Osten. In seinem vieldiskutierten Buch von 1989 "Eurotaoismus" hat er dies ausgesprochen. Weiter haben der Autor der Welt als "Wille und Vorstellung" und Sloterdijk ihre so prinzipielle, aus wenigen, ganz einfachen Grundelementen errichtete Philosophie jeweils zu einer Theorie der Musik fortgeschrieben. Was Schopenhauer für Wagner bedeutet hat, ist bekannt. Ob auch ein zeitgenössischer Komponist auf Sloterdijk hört, weiß ich nicht. Was aber kann man im Sphärenbuch über die Macht der Musik lesen? Wie der Musiktheoretiker Adorno in der "Dialektik der Aufklärung" so entwickelt auch Sloterdijk seine Musiktheorie aus einer Interpretation der Sirenenepisode in der "Odyssee". Homer wußte nicht, worin die Macht der Sirenen liegt. Kafka vermutete, daß ihre Macht das Schweigen ist. Adorno wußte, daß Odysseus - als Parademensch auf dem Wege zur naturfremden Vernunft - die archaische Stimme der Natur nicht mehr zu ertragen vermochte. Sloterdijk hingegen erfindet in Anlehnung an Lacans Spiegelstadium das "Sirenenstadium". Das ist gleichfalls eine uterine Prägung, wo das Embryo durch die Geräusche des mütterlichen Leibes in ein akustisches Medium eingetaucht ist, und wo - so die kühne Behauptung - im werdenden Kind auch bereits die Fähigkeit zum Weghören heranreift. Das ist - so fährt unser Philosoph in seiner unaufhörlichen Überbietung aller zeitgenössischen Theorie schwungvoll fort - die erste prägende Differenz, die später zur semiotischen Kompetenz führt. Aus dieser auditiven Aufgeschlossenheit und Abhängigkeit des werdenden Kindes erwächst nun für die Mutter die Pflicht, ausschließlich gute Nachrichten in ihr amniotisches Innen zu leiten. Schärfer und gesetzgeberischer noch verpflichtet Sloterdijk jede Schwangere zum Glücklichsein. Die Gründe dafür mögen Sie, liebe Lauscherinnen und Lauscher im Original-Ton des Autors vernehmen:

    "Verhalte dich so, daß deine eigene Stimmung jederzeit eine zumutbare Grundlage für ein geteiltes Leben werden könnte: Das ist der kategorische Imperativ, mütterlich. Das Gesetz der Teilhabe an Glück und Unglück des Intimsphärenpartners reicht tiefer als das Sittengesetz, das in der Befolgung allgemeinster Normen Fuß faßt. Daher ist die Pflicht, glücklich zu sein, sittlicher als jedes formale oder materiale Gebot. In ihr kommt die Ethik der Schöpfung selbst zum Ausdruck. Im günstigsten Fall werden die Schwangeren zu beschwingten Schauspielerinnen, die dem augenlosen Zeugen in ihnen das Dasein wie eine klingende Pantomime des Glücks vorführen. Hier werden Vorführung und Verführung eins. (...) Das Gemeintsein von der Erwartung der Mutter überträgt sich auf audiovokalen Wegen zum fötalen Ohr, das seinerseits, wenn der Begrüßungsklang zu hören ist, sich ganz entriegelt und der sonoren Einladung entgegengeht. Durch Aufrichtung ins Hinhören gibt sich das glückliche aktive Ohr an die willkommenheißende Ansprache hin. In diesem Sinn ist Hingabe die subjetbildende Tat par excellence. (...) Was wir in der Sprache unvordenklicher Traditionen Seele nennen, ist in seinem empfindlichen Kernbereich ein Resonanzsystem, das in der audiovokalen Kommunion der prä-natalen Mutter-Kind-Sphäre eingespielt wird. Hier beginnt im buchstäblichen Sinn des Menschen Hörigkeit, Hellhörigkeit, Schwerhörigkeit. Die Erreichbarkeit von Menschen für Intimappelle hat ihren Ursprung in der Synchronie zwischen Begrüßung und Hinhören; dieses Aufeinanderzu bildet die intimste zweipolige Seelenblase. Wenn die werdende Mutter nach innen redet, betritt sie die Urszene für die freie Kommunion mit dem innigen Anderen. Bei einer hinreichend guten Begrüßung filtert das fötale Ohr aus dem mütterlichen Milieu ein genügendes Maß an hohen belebenden Frequenzen heraus. (...) Dabei wird wie von selbst die ursprüngliche Einheit von Wachheit, Selbstregung, Intentionalität und Vorfreude eingeübt. In dieser Vierfaltigkeit entfalten sich die ersten Blütenblätter der Subjektivität."

    Wer also Ohren hat zu hören, der vernimmt in diesen Sätzen nicht nur den philosophischen Ton, der die kantische Ethik mit ihren Begriffen und Zumutungen übertrumpft, sondern auch die Sprache der Psychoanalyse und Leitbegriffe unserer religiösen Tradition: zum Beispiel Kommunion und - neuerliche Überbietung - Vierfaltigkeit. Aus diesem Mix hochkarätiger Begriffe unserer Überlieferung entfaltet nun der Sprachkünstler Sloterdijk selbst jenen Sirenengesang, von dem er spricht. Es sind Verführungen durch Psychoanalyse-Poesie, Philosophie-Märchen, Theologie-Science-Fiction und Medien-Legenden. In den angekündigten beiden folgenden Bänden will der Autor Geschichts- und Politikmythen nachliefern. Unter dem Zwang, die Theoriegötter unserer Zeit zugleich zu zitieren und zu stürzen, um auf ihren Trümmern zu tanzen, verspielt Sloterdijk freilich viel Kluges und Bedenkenswertes. Er ist ein scharfblickender Beobachter unserer Welt, unserer Verfallenheit an Mythen des Glücks, unseres antireligiösen Selbstbetrugs. Er zeigt: Man muß an etwas anderes glauben, um unserem Glauben nicht zu verfallen. Aber sein Buch will allzu hoch hinaus. Die Auszeichnung der uterinen Transzendenz, die Ode auf den sonoren Prägungsraum des pränatalen Subjekts ist kein Gedanke, sondern eine komplette Theoriereligion, auf die nun eine ganze welthistorische Story gegründet wird.

    Das Zu-hoch-Hinaus dieses Buches macht allerdings auch seinen Reiz aus. Was hier unseren staunenden Leseraugen geboten wird, ist nicht nur ein allen zeitgemäßen Tendenzen zuwiderlaufendes Gedankenmärchen, sondern eine völlig neue, umfassende Welterklärung. Es ist kaum zwanzig Jahre her, da verkündete François Lyotard in seinem Bericht "Das postmoderne Wissen" das Ende aller großen Erzählungen. Und zehn Jahre später brach die letzte von einer großen Emanzipationserzählung getragene Welt, der kommunistische Ostblock, zusammen. Peter Sloterdijks Sphärenbuch ist eine solche große Erzählung, die vielleicht auch nicht ganz zufällig aus dem historischen Archiv großer Erzählungen kommt: aus Deutschland. Deutschland ist nach wie vor eine Weltmacht der Gedankenverstiegenheiten. Sloterdijks Sphärenbuch ist ein deutsches Werk, das allem französisch-amerikanischen Dekonstruktionstalmudismus und aller amerikanisch-deutschen Systemernüchterung die Stirne bietet. Es scheint so, als wollte Sloterdijk nicht nur den aktuellen "pictorial turn", die Bildvergottung, zugunsten eines "auditorial turn" rückgängig machen, sondern auch den "linguistic turn" dieses Jahrhunderts. Aber es ist ja gerade das Kennzeichen der großen deutschen Gedankenverstiegenheiten, daß in ihnen die Sprache, die Macht der Sprache vergessen wird. Eine schöne Frau spricht nicht von Kosmetik. Sloterdijks Sphärenbuch ist nämlich auch darum ein deutsches Buch, weil es seinen intellektuellen Sirenenklang ganz aus den Verstärkereffekten überraschend-neuer Nominalkobimationen entfaltet. Das geht so in keiner anderen Sprache. Diese ungeheure, nie in Atemlosigkeit geratende Nominal-Beredsamkeit Sloterdijks ist der Sirenengesang, der vielleicht selbst die stummen, erstarrten, im Amöben-Glück zeitlos dahindämmernden Beckett-Figuren neu beseelt. Das ist jedenfalls die erklärte Absicht des Autors und Gedankensängers Peter Sloterdijk.

    Liebe Hörerin, lieber Hörer, wollt ihr erlöst werden von Melancholien und Kältegefühlen, von euren Psychoanalytikern und euren elektronischen Gadgets, vom Kontakt mit dem Nichts und von der Unerreichbarkeit der Wahrheit? So spreche ich zu Euch wie einst eine unbekannte Stimme zum Kirchenvater Augustinus auf dem Bekehrungsweg: "Nimm und lies, nimm und lies!"