Samstag, 27. April 2024

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"Spiegel"-Berichte zu Beginn der Aids-Pandemie
Viel Angstmache, wenig Aufklärung

Vor 40 Jahren, im Juni 1981, gelangten die ersten Aids-Erkrankungen an die Öffentlichkeit. Der "Spiegel" berichtete schon früh über medizinische Befunde, aber auch über homosexuelle Ausschweifungen. Betroffene von damals erinnern sich bis heute an die Stigmatisierung.

Von Annika Schneider | 16.06.2021
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"Tödliche Seuche AIDS" - eine "Spiegel"-Titelseite aus dem Jahr 1983 (Der Spiegel)
Elmar Kraushaar lebt in den 80er-Jahren in einer Berliner WG, als die Aids-Epidemie seinen Freundeskreis erreicht:
"Wir waren alle damals in einem Alter von Mitte 20 bis Mitte 30. Wir waren Jugend, wir waren junge Leute. Wir hatten keine Vorstellung davon, dass plötzlich da der Tod hinlangen könnte. Und plötzlich war er ganz nah. Ich weiß, nicht auf wie vielen Beerdigungen ich plötzlich sein musste, wie viele Nachrufe ich geschrieben habe."
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Medikamente machten HIV-Infizierten virusfrei
AIDS-Medikamente halten das HI-Virus in Schach - eigentlich. Auf der Welt-AIDS-Konferenz wurde nun ein HIV-Patient vorgestellt, bei dem das Virus allein durch ihre Einnahme verschwand.
Auch als Redakteur der Berliner Schwulenzeitschrift "Siegessäule" ist Elmar Kraushaar nah dran am Thema. Für die Mehrheitsgesellschaft bleibt Aids hingegen eine abstrakte Bedrohung.

"Spiegel" bringt mehrere Titelgeschichten

Vor allem der "Spiegel" berichtet schon früh über die Infektionen und die Gefahr, die davon ausgeht. Zum Beispiel am 5. Juni 1983 in einer Titelgeschichte:
"Droht eine Pest? Wird Aids wie ein apokalyptischer Reiter auf schwarzem Roß über die Menschheit kommen? Ist eine moderne Seuche in Sicht, die sich zu Tod, Hunger und Krieg gesellen wird, wie einst im Mittelalter? Oder werden nur die homosexuellen Männer daran glauben müssen? Vielleicht (wie es Bakteriologe Fehrenbach formuliert) weil »der Herr für die Homosexuellen immer eine Peitsche bereit hat«?"

Medienjournalist: "Schauergeschichten von der Promiskuität von Schwulen"

Die Wortwahl ist drastisch, aber kein Einzelfall. Die "Spiegel"-Berichterstattung sei damals außerordentlich apokalyptisch gewesen, sagt der Medienjournalist Stefan Niggemeier: Beschrieben worden sei eine Krankheit, die mit Sicherheit zum Tod führe und gegen die nichts helfe.
"Und das in Kombination mit Geschichten, auch wirklich mit einer merkwürdigen Lust erzählten Geschichten, Schauergeschichten von der Promiskuität von Schwulen, die diese Seuche verbreiten. Und in der Kombination war das natürlich verheerend, weil es wirklich die Aussage war, damit, dass sie sich die ganze Zeit in Bars und Saunen rumtreiben und wild mit vielen verschiedenen Männern Geschlechtsverkehr haben, dadurch sind die Schwulen schuld daran, dass im Grunde die halbe Menschheit irgendwann ausgerottet wird."

Zweifel am Nutzen von Kondomen

Viele der großen Aids-Geschichten schreibt damals Hans Halter, Medizinreporter beim "Spiegel". Er berichtet immer wieder über die neuesten Studien aus den USA, warnt, fordert politische Maßnahmen. Der "Spiegel"-Journalist habe seine Mission darin gesehen, die Ausbreitung der Krankheit zu verhindern, erinnert sich Elmar Kraushaar – und mit seinem medizinischen Fachwissen komplexe wissenschaftliche Erkenntnisse verständlich erklärt.
"Das hat aber dann zur Folge auch gehabt, dass er natürlich dann auch viele andere Sachen erklärt hat. Zum Beispiel, wie homosexuelles Leben aussieht. Und da ist er natürlich ordentlich dazwischengehauen und hat da wiederum seinen Vorurteilen freien Lauf gelassen und hat da Szenen aus der Subkultur geschildert – also wenn man selbst Teil dieser Subkultur war wie ich, dann sind einem nur noch die Haare zu Berge gestanden, was da für ein Unsinn drinstand."
Dass schwules Leben nicht nur in Saunen und Clubs stattfindet, spielt in den Schilderungen kaum eine Rolle, den Nutzen von Kondomen zweifelt Halter an. Für viele homosexuelle Männer wird der Journalist zur Hassfigur, dem im Berliner Schwulenbuchladen die Tür gewiesen worden sei, wenn er dort aktuelle Literatur kaufen wollte, erinnert sich Elmar Kraushaar.

Heftige Diskussionen auch in der Redaktion

Dabei sei die Berichterstattung des "Spiegels" damals durchaus vielstimmig gewesen, sagt Markus Verbeet, der 2003 in die Redaktion kam und heute das Ressort Deutschland/Panorama leitet.
"Ich habe mir angeschaut, wie das damals bei uns in der Redaktion war. Und es war mitnichten so, dass es die eine Position gab oder gar, dass man entschieden hätte, eine Kampagne zu fahren. Ganz im Gegenteil. Bei uns ist damals in der Redaktion sehr heftig über dieses Thema diskutiert worden, sehr kontrovers über dieses Thema diskutiert worden. Und aus heutiger Sicht muss man natürlich sagen, dass wir nicht immer richtig lagen. Und ich kann verstehen, dass einzelne Texte heute sehr, sehr kritisch gesehen werden."

"Spiegel" entschuldigte sich öffentlich

Hans Halter selbst ist für eine Stellungnahme nicht mehr ausfindig zu machen. In den 90er-Jahren ändert sich die Aidsberichterstattung des "Spiegels", unter anderem schreibt auch Elmar Kraushaar für das Blatt. 2013 wird das Magazin vom Schwulen Netzwerk NRW für seine Berichterstattung über Homosexuelle sogar ausgezeichnet – Markus Verbeet nahm das zum Anlass, um sich öffentlich für die früheren Aids-Texte zu entschuldigen.
Aktuell denke man darüber nach, wie man diese Zeit noch einmal aufarbeiten könne, sagt er gegenüber dem Deutschlandfunk. Elmar Kraushaar erinnert sich bis heute daran, wie schlimm es sich für ihn anfühlte, öffentlich auf ein vermeintlich wildes Sexualleben reduziert zu werden, während um ihn herum seine Freunde starben.
33D-Modell des Coronavirus SARS-CoV2