Montag, 06. Mai 2024

Archiv


Spiegel-Bestsellerliste Sachbuch

Zeit für den literarischen Menschenversuch im Deutschlandfunk: Was geschieht mit einem Gehirn, das Monat für Monat abwechselnd die zehn in Deutschland meistverkauften Romane und Sachbücher von der ersten bis zur letzten Seite tatsächlich liest?

Von Denis Scheck | 29.07.2011
    Sagen wir so: Die gefühlte Temperatur dieses Literatursommers entspricht auch im Sachbuch voll und ganz jenen Werten, die sich republikweit auf unseren Quecksilbersäulen ablesen lassen.

    Die aktuelle Spiegel-Bestseller-Liste Sachbuch:

    diesmal mit Aufgüssen von Aposteln, Altkanzlern und Aufklärern, Argumenten mit Aspisvipern, Altbackenem von Abgehalfterten, Agitationen gegen dass Anti-Aging sowie ach, ach, albern alliterierenden Aphoristikern.

    In diesem Monat bringen die zehn meistgelesenen Sachbücher der Deutschen 3986 Gramm auf die Waage: zusammen 2798 Seiten.


    10) Martin Wehrle: "Ich arbeite in einem Irrenhaus" (Econ, 284 S., 14,99 Euro)

    Extrem plakativ und als Ratgeber schlicht unbrauchbar, immerhin aber recht kurzweilig – insbesondere aufgrund der angeblich realen, aber allein schon stilistisch das Rüchlein des Erfundenen ausdünstenden Fallgeschichten. Nur: Den Wahnsinn, die Familie mit der Firma zu verwechseln, machen große Romanciers wie Martin Walser in "Seelenarbeit" oder William Gaddis in "J.R." tausendmal eindringlicher erlebbar.

    9) Andreas Kieling und Sabine Wünsch: "Ein deutscher Wandersommer" (Malik, 304 S., 22.95 Euro)

    Ein Fernsehbegleitbuch, das mich verblüfft: die Schilderung einer Wanderung mit Hunde Cleo entlang der früheren innerdeutschen Grenze schlägt in Bann, weil sie sensible Natureindrücke mit spannenden Reportagen über Ursachen und Nachwirkungen der deutschen Teilung vermischt. Am Ende weiß man, dass die Kreuzotter neben der Aspisviper die einzige in Deutschland heimische Giftschlange ist -

    "Ihre Hauptnahrung sind Mäuse, Eidechsen und Frösche"

    - und was die Mauer für Menschen bedeutet hat.

    8) Helmut Schmidt: "Religion in der Verantwortung" (Propyläen, 256 S., 19,99 Seiten)

    Interessant wird dieses Buch durch den auf jeder Seite spürbaren Streit zwischen dem Realpolitiker Schmidt und dem gläubigen Christen Schmidt, empfehlenswert machen es Sätze wie:

    "Die meisten der heutigen Christen halten ihre Religion für eine Religion der Versöhnung und des Friedens, tatsächlich aber haben sich ihre christlichen Vorfahren seit bald zweitausend Jahren fast ohne Ausnahme an unendlichen Kriegen beteiligt."

    7) Richard David Precht "Wer bin ich, und wenn ja wie viele" (Goldmann, 400 S., 14,95 Euro)

    Schwer vorstellbar, dass es nach 183 Wochen auf der Bestsellerliste noch irgendeinen Leser geben könnte, der diese anregende Einführung in zentrale Fragen von Philosophie und Hirnforschung noch nicht im Regal hat. Ich glaube, dieses Buch steht inzwischen auf der Bestsellerliste, weil viele Menschen eingesehen haben, dass sie ihre verliehenen Exemplare nie wieder zurückbekommen werden.
    6) Joachim Fuchsberger: "Altwerden ist nichts für Feiglinge" (Gütersloher Verlagshaus, 224 S., 19,99 Euro)

    Wie 80 Millionen Deutsche mag auch ich Joachim Fuchsberger, aber bei aller Liebe: Dieses Buch des 84-Jährigen macht mich auf eine unbequeme Wahrheit aufmerksam: Joachim Fuchsberger hat es sich als Schauspieler vermutlich zu leicht gemacht, als Autor macht es sich Fuchsberger aber leider viel zu leicht.

    5) Sven Kuntze: Altern wie ein Gentleman (C. Bertelsmann, 256 S., 19,99 Euro)

    So dicht nebeneinander erringen Sven Kuntzes Reflexionen übers Altern gegen Fuchsbergers Aging-Aphorismen natürlich einen Kantersieg: Kuntzes Buch ist um Längen besser geschrieben und schärfer gedacht. Andererseits heißt es den Wellness-Kult doch ein wenig zu übertreiben, wenn Kuntze schreibt:

    "Ich meide Bücher, die schwer in der Hand liegen, und Orte, die voller Menschen sind."

    4) Walter Kohl: "Leben oder gelebt werden" (Integral, 274 S., 18,99 Euro)

    Lesenswert allein schon aufgrund der Passagen, die beschreiben, wie Helmut Kohl vom

    "innerparteilichen Problemfall zum umjubelten ‚Kanzler der Einheit' wird",

    ist dieses Buch über einen Vater, der sich von der Familie entfernt und der deutschen Wiedervereinigung widmet, einsichtsreich und nicht peinlich. Immerhin.

    3) Margot Kässmann: Sehnsucht nach Leben (Adeo, 176 S. , 17,99 Euro)

    Immer der erste Gedanke, immer das nächstliegende Bild, immer die flachste und schnarchlangweiligste Conclusio. Das liest sich dann so:

    "Wer die Sehnsucht nach Frieden kennt, wird auf die Taube vertrauen."

    Und wer auch nur ein Fitzelchen von Stilempfinden kennt, der wird darauf vertrauen, dass binnen weniger Jahre nach solchen Plastik-Evangelien kein Hahn mehr krähen wird.

    2) Dieter Nuhr: "Der ultimative Ratgeber für alles" (Lübbe, 304 S., 12.99 Euro)

    Wahrlich gelogen wäre die Behauptung, dieses Buch lohnte wiederholte Lektüre. Aber eine Runde auf Nuhrs Karussell einfacher Wahrheiten –

    "Vergessen Sie ihre finanziellen Ambitionen, legen Sie sich auf die Couch, schließen Sie die Augen und kraulen Sie sich im Schritt!"

    – eine solche Runde besitzt durchaus Unterhaltungswert.

    Platz eines der aktuellen Spiegel-Bestselleriste Sachbuch:

    1) Heribert Schwan: "Die Frau an seiner Seite" (Heyne, 320 S. 19,99 Euro)

    Ein Buch, aus dem ich erfahre, welche Folgen die Vergewaltigung der zwölfjährigen Hannelore Kohl durch russische Soldaten hatte und ob ihr Suizid weniger durch eine Lichtallergie als durch schwere Depressionen ausgelöst wurde, ein solches Buch klingt nach Boulevard. Verdienst von Heribert Schwan ist es, aus solchem "News of the World"-Stoff ein sauber recherchiertes und klar argumentierendes Buch gemacht zu haben. Mitunter aber gehen diesem Autor in meinem Augen die Gäule durch.

    "Hannelore weigerte sich, die Wahrheit anzuerkennen, sich therapieren zu lassen und verwehrte auch ihrem Mann letztendlich den Einblick in ihr Seelenleben."

    Für solche Behauptungen müsste sich ein Biograf an jener Stelle eines Ehelebens aufhalten, die man im Schwäbischen das "Gräbele" nennt. Dort aber hat er nichts verloren – und nichts zu gewinnen.