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Spiegel-Bestsellerliste Sachbuch

Zeit für den literarischen Menschenversuch im Deutschlandfunk: Was geschieht mit einem Gehirn, das Monat für Monat abwechselnd die zehn in Deutschland meistverkauften Romane und Sachbücher von der ersten bis zur letzten Seite tatsächlich liest?

Von Denis Scheck | 23.09.2011
    Dieser Gehirn fragt sich, warum urplötzlich wieder Gedankenleser, Mentalisten und andere Hannussen-Spökenkieker aller Art en vogue sind. Ein Endzeitphänomen? Oder einfach die zyklische Wiederkehr der immer dreisten Beutelschneider?

    "Pulp Fiction: 'You will know my name is the Lord when I lay my vengeance upon thee'":

    Die aktuelle Spiegel-Bestsellerliste Sachbuch:

    Diesmal mit sehr deutschen Überlegungen zum Abwehrverhalten deutscher Nationalspieler, zum Anlehnungsbedürfnis deutscher Kanzlergattinnen, zum Faktenhunger der deutschen Öffentlichkeit und zum Elend der deutschen Comedy sowie einer radikalen Ablehnung des Scheindeutschen.
    In diesem Monat bringen die zehn meistgelesenen Sachbücher der Deutschen magere 3889 Gramm auf die Waage: zusammen 2543 Seiten.

    10) Richard David Precht: "Wer bin ich und wenn ja wie viele" (Goldmann Verlag, 398 Seiten, 14,95 Euro)

    Wie konnte aus diesem anspruchsvollen Überblick über zentrale Probleme von Philosophie und Hirnforschung einer der größten deutschen Sachbuch-Bestseller der letzten Jahrzehnte werden? Zum einen liegt es an Richard David Prechts Fähigkeit, die moralischen Kernfragen unserer Zeit bündig zu formulieren. Zum anderen aber auch an dem durch die allgegenwärtige schamlose Oberflächlichkeit und Seichtheit ausgelösten Brüllhunger der deutschen Öffentlichkeit nach Substanz.
    9) Joachim Fuchsberger: "Altwerden ist nichts für Feiglinge" (Gütersloher Verlagshaus, 224 Seiten, 19,99 Euro)

    Zwar fällt es schwer, einer grundsympathischen Entertainerlegende wie Fuchsberger etwas übel zu nehmen, aber dies ist kein klar konzipiertes, durchgearbeitetes Buch, sondern ein ölig und anekdotenseelig angemachter Seniorenteller altbackenster Binsenweisheiten.
    8) Kevin Dutton: "Gehirnflüsterer" (Angeblich deutsch von Klaus Binder und Bernd Leineweber, dtv, 352 Seiten, 14,90 Euro)

    Dies ist der seltene Fall eines guten und interessanten Sachbuchs darüber, was bei einer gelingenden Überredung in unserem Gehirn genau abläuft. Aber leider ist dieses Buchs durch eine misslungene Übersetzung seltsam verschwommen, thematisch unscharf, ja unverständlich geworden. Und das liest sich dann so:

    "Gab es tief im Urgestein der Überzeugungskunst verborgen, ein Elixier der Beeinflussung? Eine geheime Kunst, Menschen in eine Art ‚Flipnosis' zu versetzen, sie quasi zu hypnotisieren und ausflippen zu lassen, sie um ihren Verstand zu bringen."

    Alles klar? Sobald dieses Buch auf Deutsch vorliegt, lasse ich mich gern überreden, es noch mal zu lesen.
    7) Margot Kässmann: "Sehnsucht nach Leben" (Adeo, 176 Seiten, 17,99 Euro)

    Zwölf Aufsätzlein der Ex-EKD-Vorsitzenden zu Themen wie Mut, Trost, Liebe und Geborgenheit versammelt dieses leider illustrierte Büchlein, das Sätze enthält wie:

    "Ich denke, jeder Mensch muss für sich selbst herausfinden, wo die eigenen Kraftquellen liegen."

    Aus dem Mund einer FDP-Vorsitzenden klänge das akzeptabel, für eine protestantische Theologin aber ist das bis zur Selbstaufgabe lasch und opportunistisch: ein Offenbarungseid.
    6) Thorsten Havener: "Denk doch, was du willst" (Wunderlich, 256 Seiten, 17,95 Euro)

    Wie Kevin Dutton schreibt auch Thorsten Havener über Methoden, andere Menschen tun zu lassen, was man will, und wie man sich gegen solche Manipulationsversuche durch Aufklärung schützt. Dabei ist Havener ganz klar im Vorteil, denn der studierte Dolmetscher schreibt auf Deutsch – und das auch noch meistens ziemlich witzig. Auch wenn nicht zu übersehen ist, dass dies schon das dritte und deshalb etwas aufgeblähte Buch zum Thema aus der Feder Haveners ist, habe ich daraus eine Menge gelernt.
    5) Martin Wehrle: "Ich arbeite in einem Irrenhaus" (Econ, 284 Seiten, 14,99 Euro)

    Das Beste an diesem Buch ist sein Titel, allerdings sind Wehrles ausgedacht wirkende Fallgeschichten himmelweit entfernt von der schlagenden Eindringlichkeit der großen Romane zum selben Thema – zum Beispiel Joseph Hellers Meisterwerk "Was geschah mit Slocum?".
    4) Dieter Nuhr: "Der ultimative Ratgeber für alles" (Lübbe, 304 Seiten, 12,99 Euro)

    So chaotisch dieses Buch auch konzipiert ist, Nuhrs Werk unterscheidet sich vom allgegenwärtigen Comedy-Trash durch seine unerwartete Formulierungskunst, etwa wenn er deutsche Spielplatzmütter als

    "ordnungspolitische Mächte"
    bezeichnet. So ein Einfall reicht, um einen ganzen Tag gute Laune zu haben.
    3) Heribert Schwan: "Die Frau an seiner Seite"(Heyne, 320 Seiten, 19,99 Euro)

    Heribert Schwan zeichnet das berührende Psychogramm einer als Zwölfjährigen von russischen Soldaten Vergewaltigten, die durch ihren Ehemann Helmut Kohl Halt im Leben sucht und findet, bis sie diesen Halt Ende der 90er-Jahre wegen der Spendenaffäre verliert. Bemerkenswert faktenreich und stringent erzählt, schießt Heribert Schwan nur gegen Ende eine Spur übers Ziel hinaus, wenn er aus dem Gegenstand seiner Biografie eine heilige Hannelore zu machen versucht.
    2) Gaby Köster und Till Hoheneder: "Ein Schnupfen hätte auch gereicht" (Scherz, 264 Seiten, 18,95 Euro)

    Gaby Köster hat vor drei Jahren einen Schlaganfall erlitten. Dafür gebührt ihr Mitleid. Nicht aber für dieses unsägliche, in der Stillage vulgären Dauergekreisches geschriebene Buch, dessen Komik allein aus den zahllosen Katachresen herrührt, also einem Metaphern-Mischmasch, etwa wenn Köster schreibt:

    "Er hat so manches Mal die Grenze des seelisch Ertragbaren mit mir ausgelotet, überschritten und hat mit Tränen bar bezahlt. So wie ich."

    Und ich.

    Platz eins der aktuellen Spiegel-Bestsellerliste Sachbuch:

    Philipp Lahm und Christian Seiler: "Der feine Unterschied" (Kunstmann, 269 Seiten, 19,90 Euro)

    Bücher von und über Fußballspieler zählen nicht zu meinen Lieblingslektüren. Diese von der Boulevardpresse absurd skandalisierte, in Wahrheit routiniert sachlich geschriebene und harmlose Fußballerautobiografie hat aber einen geheimen Höhepunkt: die Schilderung einer schwulen Liebeserklärung und wie Philipp Lahm Spekulationen über eine homosexuelle Beziehung in Köln begegnet. Allein diese Passage macht das Buch zu einer würdigen Abituraufgabe eines Deutschleistungskurses, und Philipp Lahm erweist sich einmal mehr als genialer Abwehrspieler.