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Spiel mit der Bombe
Der Albtraum vom beherrschbaren Atomkrieg

Seit Hiroshima und Nagasaki hat niemand mehr gewagt, Atombomben einzusetzen. Und doch war da immer der Wunsch mancher Strategen, atomare Sprengköpfe beherrschbar zu machen, für eine glaubwürdigere Abschreckung. Eine Idee, die in der aktuellen geopolitischen Lage Aussicht auf Erfolg hat.

Von Dagmar Röhrlich | 08.07.2018
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Gibt es künftig wieder Atomtests in der US-Wüste? Die Hemmschwelle mehrerer Großmächte vor Entwicklung und Einsatz kleiner, sogenannter taktischer, Atomwaffen scheint aktuell zu sinken. (picture alliance / dpa)
Robert Kelley, Internationales Stockholmer Friedensforschungsinstitut SIPRI, Wien: "There has been a tremendous barrier to using them, because the effects are so huge."
Die Wirkung ist zu zerstörerisch, zu verheerend sind die Folgen. Deshalb hat seit Hiroshima und Nagasaki niemand mehr gewagt Atombomben einzusetzen.
Wilfried Wan, Politologe bei UNIDIR, dem Institut für Abrüstungsforschung der Vereinten Nationen: "We are so far removed from Hiroshima and Nagasaki that we have forgotten some of these severe consequences of nuclear weapons."
Und doch war da immer der Wunsch mancher Strategen, atomare Sprengköpfe beherrschbar zu machen, für eine glaubwürdigere Abschreckung. Eine Logik, die in der aktuellen geopolitischen Lage Gehör findet.
Dossier: Atomwaffen
Hans Kristensen, Nuclear Information Project bei der Federation of American Scientists, Washington DC: "There are real, real dangers sort of reemerging."
Dan Smith, Direktor des Friedensforschungsinstituts SIPRI, Stockholm: "There are more conflicts now than there were in 2010."
Lisbeth Gronlund, Co-Direktorin des Global Security Programs der Union of Concerned Scientists, Cambridge, Massachusetts: "The US and Russia, have been doing very provocative things over the last several years."
Robert Kelley: "The relations strategically between Russia and the US are deteriorating, they are deteriorating with China as well."
Hawaii, der 13. Januar 2018, 8.10 Uhr. Eine SMS der Notfallzentrale warnt die Bevölkerung vor einer anfliegenden Interkontinentalrakete: "Dies ist keine Übung." In den vorausgegangenen Monaten sind die Spannungen zwischen Nordkorea und dem Westen eskaliert: Nach Raketentests Pjöngjangs und der Zündung einer Wasserstoffbombe hat US-Präsident Donald Trump mit der "völligen Zerstörung" Nordkoreas gedroht. Es hat wieder Sirenentests gegeben - die ersten seit dem Ende des Kalten Kriegs.
Als die SMS eintrifft, nehmen die Menschen die Warnung ernst. Sie suchen Schutz in Kellern oder unter einer Decke in der Badewanne. Letzte Telefongespräche mit den Kindern. 38 Minuten erstarren die Hawaiianer in Angst, bis die Entwarnung kommt. Ein Mitarbeiter der Notfallzentrale hat beim Schichtwechsel eine falsche Schaltfläche angeklickt.
Weniger Sprengköpfe, mehr Atommächte
Seit dem Ende des Kalten Krieges war die Bedrohung aus dem Bewusstsein der Menschen verschwunden. Plötzlich ist sie wieder da. Deshalb ging der Friedensnobelpreis 2017 an ICAN, die Internationale Kampagne zur Abschaffung von Atomwaffen. Die Jury wollte in schwierigen Zeiten ein Zeichen setzen.
"Das Risiko ist aufgrund der geopolitischen Landschaft gewachsen, denn es spielt sich nicht in einem Vakuum ab. Es ist derzeit sogar äußerst besorgniserregend. Das können Sie an der Atomkriegsuhr ablesen: Sie steht wohl so nah vor Mitternacht wie noch nie."
Dabei sinkt die Zahl der Nuklearsprengköpfe, erklärt Wilfred Wan, Politologe bei UNIDIR, dem Institut für Abrüstungsforschung der Vereinten Nationen. In den 1980er-Jahren besaßen allein die USA und die Sowjetunion mehr als 70.000 Sprengköpfe: Heute liegt das gesamte Arsenal aller neun Atomwaffenstaaten bei etwa 14.500 Sprengköpfen, von denen Russland und die USA fast 92 Prozent halten. Doch dass die Zahl der Sprengköpfe sinkt, ist nur ein Teil der Wahrheit. Dan Smith, Direktor des Internationalen Stockholmer Friedensforschungsinstituts SIPRI in Stockholm:
"Erstens ist mit Nordkorea ein neuer Nuklearstaat dazugekommen. Zweitens laufen in allen anderen Atomwaffenstaaten Modernisierungsprogramme. Und drittens ist die Rüstungskontrolle in ernsthaften Schwierigkeiten: Derzeit verhandelt niemand über einen weiteren Abbau der Nuklearwaffen."
"Ost und West sinken in ihre alte Gegnerschaft zurück"
Im Gegenteil. Der INF-Vertrag wackelt: Es ist der zentrale Vertrag, mit dem US-Präsident Ronald Reagan und der sowjetische Generalsekretär Michael Gorbatschow eine für Europa besonders bedrohliche Waffengattung eliminierten: die landgestützten nuklearen Mittelstreckenraketen mit Reichweiten zwischen 500 und 5.500 Kilometern. 2004 hat Wladimir Putin erklärt, der INF-Vertrag liege nicht mehr im russischen Interesse. Denn er bindet nur die USA und Russland - und Russland sieht sich von Staaten mit landgestützten Mittelstreckenraketen umzingelt: China, Indien, Pakistan, Nordkorea, Iran... Inzwischen werfen sich die USA und Russland gegenseitig Vertragsverletzungen vor.
Bild des Atompilzes vom 9. August 1945 in der Stadt Nagasaki
Der Schrecken von Nagasaki (Bild) und Hiroshima scheine bei den Atommächten zu verblassen, beobachten manche Experten (Nagasaki Atomic Bomb Museum)
Hans Kristensen, dänischer Friedensforscher und Direktor des Nuclear Information Projects bei der Federation of American Scientists in Washington DC:
"Beide Seiten, Ost und West, sinken in ihre alte Gegnerschaft zurück, wobei sie zunehmend Atomwaffen als Signal einsetzen und ihre Bedeutung für ihre nationalen Sicherheitsstrategien betonen. Gleichzeitig wird über die Entwicklung neuartiger Nuklearwaffen nachgedacht. Kurz gesagt: Beide Seiten gehen einander wieder an die Kehle und der Stellenwert der Atomwaffen als politisches Signal wächst."
Die USA stoppen eine Abrüstungsfabrik
Die Savannah River Site in South Carolina. Eines der Zentren im US-Nuklearkomplex. Hier sollte eine US-Anlage entstehen, die aus Waffenplutonium Brennelemente für die Stromerzeugung machen sollte. Die nukleare Version von Schwertern zu Pflugscharen. Doch im Mai verkünden Pentagon und Department of Energy das Aus für die halbfertige Fabrik. Das Plutonium soll statt dessen in New Mexico mit nicht strahlendem Material verdünnt werden. Ein Prozess, der sich rückgängig machen lässt, so dass unklar ist, ob Russland einverstanden ist. Vor allem aber soll die Anlage umgewidmet werden: zu einer Fabrik für Zünder für atomare Gefechtsköpfe, sogenannte "Plutonium Pits". Die Regierung wünscht sich für ihre neuen Bomben neue "Streichhölzer".
Modernisierung an sich ist ein unter Atommächten normaler Vorgang. China, Großbritannien und Frankreich modernisieren ihre Nuklearstreitkräfte, ebenso Indien und Pakistan. Hans Kristensen:
"In Russland begann der jüngste Zyklus in den späten 1990er-Jahren, und er wird Mitte der 2020er-Jahre beendet sein. Die USA durchliefen ihren jüngsten Modernisierungszyklus in den 1980er- und 90er-Jahren, nun steht der nächste an. Das ist nicht das Ergebnis von Donald Trumps Entscheidungen. Schon sein Vorgänger hatte eine umfassende Modernisierung angeordnet."
Es war der Preis, den Barack Obama den Republikanern für die Ratifizierung des New-START-Vertrags zahlen musste, der die Zahl der strategischen Atomwaffen weiter verringern soll. Am 5. Februar 2018 trat er in Kraft.
Updates und Neuentwicklungen
"Modernization of the weapons to a very large extent is actually the delivery systems."
Die Modernisierung der Nuklearwaffen betreffe vor allem die Trägersysteme, die Flugzeuge also, die U-Boote oder die Raketen, erklärt SIPRI-Experte Robert Kelley. Er war 35 Jahre lang im US-Atomkomplex tätig und leitete 1992 und 2001 für die Internationale Atomenergiebehörde die Atominspektionen im Irak:
"Es geht um die Leitsysteme, die die Sprengköpfe immer genauer in ihr Ziel steuern sollen, um Elektronik, Navigation und Kommunikation. Wenn modernisiert wird, dann um ihr neue Eigenschaften zu verleihen, etwa die, dass sie vor der Explosion tief in den Untergrund eindringt. Das grundlegende Design der Atombombe und wie sie explodiert, das wird sich nicht groß verändern im Vergleich zu 1992, als Amerikaner und Sowjets ihre Tests gestoppt haben."
Einen atomaren Bunkerbrecher gibt es unter den B61: Das sind freifallende Fliegerbomben, die seit 1968 in diversen Varianten produziert wurden. Bei einer soll das Gehäuse mit abgereichertem Uran verstärkt worden sein, damit die Bombe selbst einen unterirdischen Bunker vernichten kann. Was ihnen an Zielsicherheit fehlt, machen sie mit Sprengkraft wett.
"Derzeit sind noch vier von elf Varianten der B61 im Dienst. Anstatt nun jede einzelne dieser Wasserstoffbomben zu verbessern, ist eine zwölfte entwickelt worden, die alle anderen ersetzen soll. Daran ist erst einmal nichts verkehrt. Doch diese B61-12 hat neue Eigenschaften. Sie ist zielgenauer - und dieser Teil ist das eigentliche Problem."
Lisbeth Gronlund ist Co-Direktorin des Global Security Programs der Union of Concerned Scientists. Offiziell sprach die Obama-Administration damals von "Änderung". Doch selbst im Kongress kam die Frage auf, ob es sich bei diesen präzisionsgelenkten Waffen nicht um etwas komplett Neues handele.
"That is provocative and unnecessary."
Den Frieden durch Stärke bewahren?
Wladmir Putin: "Sarmat ist eine furchteinflößende Waffe, die von keiner existierenden oder künftigen Raketenabwehr ausgeschaltet werden kann."
Donald Trump: "Wir sind uns bewusst, dass Schwäche zu Konflikten führt und unangefochtene Macht die sicherste Verteidigung ist."
Putin: "Ein niedrig fliegender Marschflugkörper, der einen Nuklearsprengkopf auf unvorhersehbarer Bahn an der gegnerischen Abwehr vorbei an jeden Ort der Welt bringt."
Trump: "Also beendet unsere Sicherheitsstrategie alle hinderlichen Einschränkungen der Verteidigung, verfolgt eine komplette Modernisierung unseres Militärs und kehrt frühere Entscheidungen um, selbst angesichts wachsender Sicherheitsbedrohungen die Armee zu verkleinern."
Als US-Präsident Donald Trump am 18. Dezember 2017 seine Strategie zur Nationalen Sicherheit vorstellte, hieß die dritte Säule: "den Frieden durch Stärke bewahren" - Stärke auch bei den Nuklearstreitkräften. Ein paar Wochen später, am 1. März 2018, animierten hinter Wladimir Putin martialische Computergrafiken auf gigantischen Bildschirmen seine Rede zur Nation, in der er revolutionäre Waffensysteme ankündigte: Systeme wie den Marschflugkörper Sarmat, der den Feind mit nuklearen Mehrfachsprengköpfen angreift. Und die zielten in der Animation offensichtlich auf Florida - wo Trump gerne seine Wochenenden verbringt.
Wettrüsten bei Angriffs- und Abwehrpotenzial
Sarmat ist die erste Interkontinentalrakete, die jeden Punkt der Welt erreichen kann. Einen Test hat sie Anfang April bestanden. Sollte sie wirklich die gegnerische Abwehr ausmanövrieren, wäre sie ein schwerer Schlag gegen den Abwehrschirm der USA. Obwohl die Abwehrraketen bei Tests meist versagen, sind sie der Stolz der US-Verteidigung, die diesen Schirm weiter ausbauen will. Der war Russland jedoch von Anfang an ein Dorn im Auge. Denn wenn sich eine Macht erfolgreich gegen einen Atomangriff schützen kann, funktioniert die ganze Idee der Abschreckung nicht mehr.
Lisbeth Gronlund: "Russland hat jetzt mit einer ganzen Reihe von exotischen Waffensystemen geantwortet, die die Abwehr ausschalten sollen. Allerdings ist unklar, wie weit ihre Entwicklungen nun wirklich gediehen ist."
Dan Smith: "Diese Waffensysteme sind einfach der nächste Zug im Aktions-Reaktions-Spiel des Wettrüstens. Erst hat man ballistische Raketen, dann verbessert man ihre Abwehr, dann umgeht man den Abwehrschirm mit besseren Raketen. Es ist einfach immer nur der nächste Zug."
Test eines Geschosses des US-Raketenabwehrsystems THAAD in Südkorea.
Zum atomaren Wettrüsten gehört auch ein Wettrüsten der Verteidigungssysteme. Das US-Raketenabwehrsystem THAAD in Südkorea (imago / UPI Photo)
Ein Rüstungswettlauf ist in vollem Gange. So soll eine neue Gattung von Trägersystemen die Machtbalance verschieben: die Hyperschallgleiter, bei deren Entwicklung China und Russland weit vorne liegen. Es sind Transportsysteme für konventionelle und atomare Sprengköpfe, die mit fünf- bis 20-facher Schallgeschwindigkeit ins Ziel rasen: zu schnell für die Aufklärung, sehr manövrierfähig, praktisch nicht abzufangen. Es sind Kurz- und Mittelstrecken-Waffen für Überraschungsattacken gegen einen hilflosen Gegner.
Der Trend geht zum chirurgischen Nuklearschlag
Dagegen erscheine plötzlich das Prinzip der "wechselseitigen gesicherten Vernichtung" aus dem Kalten Krieg als stabilitätsstiftend, so Robert Kelly vom Friedensforschungsinstitut SIPRI:
"Die Atomwaffen von heute sind für den Kalten Krieg entwickelt worden, in dem zwei Supermächte damit drohten, sich gegenseitig die Silos mit den Sprengköpfen abzuschießen. Dazu bauten beide immer größere Sprengköpfe, die ein punktförmiges Ziel immer genauer treffen konnten. Solange wir nicht wieder in einen Kalten Krieg Land gegen Land fallen, machen solche Waffen wenig Sinn."
Daraus ziehen die Kontrahenten ihre Schlüsse: Sie wollen "chirurgische Nuklearschläge" - durch die Entwicklung neuer taktischer Waffen, deren Wirkradius und Sprengkraft deutlich geringer sind als bei den großen strategischen Systemen.
"Sowohl in Russland, als jetzt auch in den USA laufen Überlegungen zu einer möglichen begrenzten Rolle von Nuklearwaffen. Wenn sie in einem sehr begrenzten Rahmen eingesetzt werden sollen, darf ihre Sprengkraft nicht so hoch, sondern kann viel geringer sein", sagt Friedensforscher Hans Kristensen, Washington DC. "Das ist zumindest für die USA eine neue Entwicklung, weil man hier - anders als in Russland - lange eine starke Abneigung gegen die Entwicklung weit fortgeschrittener Atomwaffen hatte. Das US-Militär war ironischerweise weniger an Nuklearwaffen interessiert, weil es in den vergangenen 20 Jahren mit viel Geld die konventionellen Streitkräfte sehr stark ausgebaut hat. Dadurch war die Abhängigkeit von den Nuklearwaffen gesunken. Russland hingegen hängt stärker von den taktischen Nuklearwaffen ab als die USA und besitzt viele Sprengköpfe mit geringerer Sprengkraft. Die USA besitzen zwar auch welche, möchten nun aber auch modernere Versionen entwickeln."
Kleinere Waffen für glaubwürdigere Abschreckung
Unter der Trump-Regierung konnten einige Strategen und Lobbyisten das US-Verteidigungsministerium überzeugen: Die Weltmacht braucht neuartige Nuklearwaffen: von 20 Kilotonnen TNT-Äquivalent über das Hiroshima-Äquivalent bis hinunter zu 0,3 Kilotonnen. Waffen, die - anders als 1945 - aber nicht hoch in der Atmosphäre gezündet werden: Das soll verhindern, dass sich Druckwelle, Hitze und Strahlung über weite Landstriche verteilen. Waffen, die sich präzise lenken lassen und deshalb ihr Ziel mit weniger Sprengkraft vernichten. Waffen, die keine großen Brände auslösen. Wo die Städte nicht brennen, werden keine Unmengen an Ruß freigesetzt und deshalb gibt es auch keinen nuklearen Winter.
"Die Idee ist: Lass uns Waffen haben, die besser einsetzbar erscheinen, damit wir den Feind glaubwürdiger abschrecken."
Die militärische Logik hinter der Entwicklung dieser kleinen Nuklearwaffen ist bizarr. Ein Beispiel: der Angriff Russlands auf einen baltischen Staat. Ein typisches Angriffsszenario für US-Strategen:
Die USA eilen ihrem NATO-Verbündeten zu Hilfe – woraufhin Russland eine taktische Nuklearwaffe auf einen US-Flugzeugträger in der Ostsee schießt.
Das wagen sie, weil der US-Präsident derzeit nur mit einem massiven Gegenschlag antworten könnte. Das macht er nicht, weil der große Schlagabtausch alle vernichten würde. Und so versagt die Abschreckung.
"Ich halte dieses Argument für falsch, es hält keiner Überprüfung stand. Doch es zieht und steckt hinter den Vorschlägen für neue, kleine Nuklearwaffen im jüngsten Nuclear Posture Review."
"Man wünscht sich kleine, sehr zielgenaue Waffen"
In dem Dokument, das die Rolle der Atomwaffen in der US-Verteidigung vorstellt, ist unter anderem die Rede von der Entwicklung "neuer, begrenzter Nuklear-Optionen": von Marschflugkörpern und von ballistischen Raketen mit geringer Sprengkraft, die von U-Booten aus Ziele an Land angreifen können. Robert Kelly:
"Technisch ist der Bau von kleinen Atomwaffen kein Problem. Es gab sie schon in den 1950er- und 1960er-Jahren."
Raketenalarmsystem in Honolulu im November 2017, wenige Monate vor dem Raketen-Fehlalarm auf Hawaii im Januar 2018
Bisher waren es immer Menschen, die Raketen-Fehlalarme erkannt und eine Eskalation verhindert haben (picture alliance / dpa / Kyodo / MAXPPP)
Die Herausforderungen bei der Entwicklung dieser kleinen Nuklearwaffen liegen in den neuen Eigenschaften ihrer Systeme.
"Man wünscht sich kleine, sehr zielgenaue Waffen, um sie gegen Terroristen einzusetzen oder gegen eine unterirdische Fabrik oder einen Kommandoposten. Wenn sich ein Sprengkörper von vielleicht einer Kilotonne TNT zehn oder 20 Meter tief in den Untergrund bohrt, kann er einer selbst Hunderte Meter unter der Erde versteckten Struktur großen Schaden zufügen. Ingenieure versuchen Waffen zu entwickeln, bei denen es dann nicht einmal einen Blow-out an der Oberfläche geben würde - doch das ist technisch extrem schwierig. Wenn wir die Atomprogramme in diese Richtung hinein umstellen, sie klein, zuverlässig und einsetzbar zu machen, dann wird auch jemand darüber nachdenken, sie einzusetzen - und diese Grenze haben wir seit Nagasaki nicht mehr überschritten."
Mit kleinen Bomben sinkt die Hürde für einen Erstseinsatz
Nuklearwaffen mit geringer Sprengkraft sind ein Alptraum für Friedensforscher. Denn mit ihnen sinkt auch die Hürde für einen Ersteinsatz. In den Strategiespielen Russlands sind Atomwaffen ohnehin schon fester Bestandteil: Im Mai 2014 hielten russische Streitkräfte ein Großmanöver ab, das mit simulierten Nuklearschlägen endete. Die Faszination für begrenzte, "chirurgische" Schläge ist so hoch, dass eines gar nicht mehr wahrgenommen zu werden scheint, urteilt SIPRI-Chef Dan Smith:
"Es bedeutet immer noch den Einsatz von Atombomben. Eine Bombe vernichtet dann vielleicht nicht auf einen Schlag eine ganze Großstadt, sondern 'nur' den Vorort oder eine Kleinstadt, tötet 15.000, 20.000, 30.000 Menschen. Wir reden also immer noch über außergewöhnlich große Zerstörungen und Tod und Chaos:"
Es gab mehrere Fehlalarme
Juni 1980, 2.30 Uhr. Computer im Pentagon und im Nordamerikanischen Luft- und Raumfahrt-Verteidigungskommando, schlagen Alarm: Die Sowjetunion hat einen Atomangriff gestartet. Von U-Booten aus sind 220 Raketen in Richtung USA unterwegs. General William Odom klingelt den Sicherheitsberater von Präsident Jimmy Carter aus dem Bett, Zbigniew Brzezinski. Für den Gegenschlag bleiben nur Minuten.
Das Verhältnis zwischen beiden Nationen ist durch die Invasion der Sowjetunion in Afghanistan äußerst gespannt. Doch läuft wirklich ein Angriff? Während Odom die Lage prüft, holen die Mannschaften der ballistischen Raketen die Startschlüssel aus den Safes, die Bombercrews machen sich fertig, Kampfpiloten heben ab. General Odom ruft zurück. Nicht 220, sondern 2.200 Sowjetraketen sind unterwegs. Zbigniew Brzezinski weckt seine Frau nicht: Sie soll im Schlaf sterben. Er will Jimmy Carter den Gegenschlag empfehlen. Da klingelt das Telefon erneut. William Odom: falscher Alarm.
Später stellte sich heraus: Ein defekter Mikroprozessor für 46 Cent hätte fast den Atomkrieg ausgelöst. Wilfried Wan:
"Es gibt auf beiden Seiten einige häufig zitierte Beispiele für Fehlalarme, die ausgelöst wurden, etwa weil Trainingsprogramme für Atomangriffe versehentlich auf den Verteidigungssystemen liefen, oder - und das passierte 1983 in der Sowjetunion - weil hohe Wolken Sonnenlicht reflektierten. Die Geschichten von Fehlalarmen und Beinahe-Katastrophen beruht auf nicht geheimem Material und Geschichten, die an die Öffentlichkeit gedrungen sind. Es gibt wohl Etliches mehr, von dem wir nichts ahnen. Heute ist sowohl die geopolitische Situation, als auch die technologische Seite viel komplizierter als während des Kalten Krieges, als die Ereignisse, von denen wir wissen, passiert sind. Es gibt mehr Staaten mit Atomwaffen als damals, die Beziehungen zwischen diesen Staaten sind komplexer, und die Reibungen zwischen ihnen nehmen zu. Das Vertrauen zwischen den Atomwaffenstaaten hat abgenommen. Und weil für ihre Sicherheitsstrategien - ganz nach der Abschreckungsdoktrin - die Atomwaffen zentral sind, öffnet das Fehlberechnungen, Fehlinterpretationen oder einfach nur der Eskalation Tür und Tor."
Steuern künftig Computer die Atomwaffen-Abwehr?
Eine Interkontinentalrakete braucht etwa 25 Minuten ins Ziel: Abzüglich der Zeit, in der Satelliten und Computer den Angriff erkennen und auch abzüglich der Zeit, in der Menschen die Lage prüfen, bleiben einem Präsidenten rund zehn Minuten für die Entscheidung, berechnet Wilfried Wan vom Institut für Abrüstungsforschung der Vereinten Nationen. Weil sich Raketen für den Gegenschlag nicht so schnell fertig machen lassen, stehen in den USA und Russland rund 2.000 Sprengköpfe in höchster Alarmbereitschaft, können binnen einer Minute losgeschickt werden. Alle Bemühungen, diese Praxis aus dem Kalten Krieg zu beenden, sind bislang gescheitert. Doch dieser "Hair Trigger Alert" ist heute gefährlicher als vor 30 Jahren, denn es sind neue Bedrohungen hinzugekommen, erklärt Wilfried Wan:
"Neue Technologien wie Drohnen vergrößern die Unsicherheiten bei der Erkennung, es gibt mehr Trägersysteme für Atomwaffen. Diese ganzen Provokationen im Cyberbereich: Wie angreifbar die Computersysteme der Nuklearwaffen für Schadsoftware sind, darüber ist aufgrund der Geheimhaltung bei den Atomwaffenprogrammen kaum etwas bekannt."
Beispiel: die Hyperschallgleiter. Weil sie so schnell unterwegs sind und so spät entdeckt werden, schnurren die Vorwarnzeiten auf vielleicht zwei Minuten zusammen. Die Folge: Bei der Abwehr dürften automatisierten Abwehrsystemen und künstlicher Intelligenz eine zentrale Rolle zukommen. Das eröffnet einerseits eine offene Flanke für Cyber-Angriffe - zum anderen waren es bislang immer Menschen, die bei Fehlalarmen die Katastrophe verhindert haben. Wilfried Wan:
"Wenn wir davon abhängen, dass ein Mensch gegen das Urteil einer Maschine interveniert, dann sind solche Entwicklungen beunruhigend."
US-Kernwaffentests könnten wieder aufleben
In der Wüste im Süden Nevadas erzählen Hunderte von Kratern von Kernwaffentests. Der bislang letzte der mehr als 1.000 Versuche dort fand am 23. September 1992 statt. Wenige Wochen später begannen die Verhandlungen zum Kernwaffenteststopp-Vertrag. Seitdem sind 1.900 Mitarbeiter der "Nevada National Security Site" mit Aufräumarbeiten beschäftigt. und mit diversen Experimenten für das Militär. Auf Befehl des Präsidenten könnte die Anlage ihren vollen Betrieb jedoch jederzeit wieder aufnehmen.
2010 unterzeichnten der US- und der russische Präsident Barack Obama (l.) und Dmitri Medwedew den New-START-Abrüstungsvertrag. 2021 läuft er aus.
Der läuft aus: 2010 unterzeichneten Barack Obama (l.) und Dmitri Medwedew den New-START-Abrüstungsvertrag. (picture alliance / dpa / CTK Photo/ Michal Dolezal)
Das Time-Magazine veröffentlichte im Februar einen - von offizieller Seite unbestätigten - Artikel, nach dem das Kabinett Trump Ende 2017 das Department of Energy angewiesen haben soll, sich auf ein kurzfristiges Experiment vorzubereiten. Um Wladimir Putin, Kim Jong-un oder Ayatullah Ali Khamenei zu zeigen, gegen wen sie antreten, hieß es. An dieser Art des nuklearen Säbelrasselns dürfte auch das Treffen Trump/Kim nichts geändert haben. Und so könnte die Ära der Kernwaffentests in den USA schneller wieder aufleben, als man es sich noch vor zwei Jahren vorstellen konnte. Die Welt, so urteilt Robert Kelley, scheint zunehmend die Lehren von Hiroshima und Nagasaki zu vergessen. Die Mächtigen in der Politik, aber auch die Militärs und die Forscher:
"Ich habe oftmals Vorlesungen vor jungen Leuten vor allem im Russland gehalten, an Orten, wo sie Atomwaffen hergestellt haben. Es hat mich verstört, dass für diese jungen Leute Atomwaffen nichts anderes mehr sind als größere Feuerwerkskörper. Ich rede mit jungen Wissenschaftlern und mit Spezialisten für internationale Beziehungen, und sie erscheinen mir nach den Standards meiner Generation etwas naiv."
Abrüstungsvertrag läuft 2021 aus
Wird der New-START-Vertrag nicht um weitere fünf Jahre verlängert, laufen im Februar 2021 alle Beschränkungen für die amerikanischen und russischen Arsenale aus - genau einen Tag, nachdem Donald Trump seine zweite Amtszeit beginnen will. Auch die Chinesen entwickeln neue Nuklearwaffen. Angesichts der Bedrohung durch Nordkorea und China denken die Japaner über die nukleare Bewaffnung nach - und Saudi-Arabien hat damit gedroht, eigene Atomwaffen zu entwickeln, falls der Iran nach Trumps Kündigung der Verträge weitermache mit der Anreicherung von Uran.
Werden wir uns an unsichere Zeiten gewöhnen müssen? Der Friedensforscher Robert Kelley atmet tief ein und aus: "Ja, ich denke, uns steht eine gefährliche Zeit bevor."
Spiel mit der Bombe. Der Albtraum vom beherrschbaren Atomkrieg
von Dagmar Röhrlich
Es sprachen: Jean Paul Beck, Daniel Berger und Hildegard Maier
Regie: Anna Panknin
Redaktion: Christiane Knoll
Eine Produktion des Deutschlandfunk 2018