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Spiel mit der Unversöhnlichkeit

Licht und Schatten beim Start der diesjährigen Internationalen Schiller-Tage in Mannheim: Die Auftragsarbeit "Tahrir Tell" ist gleichsam ein Apfelschuss in den Ofen. Stefan Bachmanns "Parasit" wartet dagegen mit einem Geniestreich auf.

Von Cornelie Ueding | 23.06.2013
    Selten lagen Glanz und Elend der Schillerrezeption so nahe beieinander wie beim diesjährigen Start der Mannheimer Schillertage. Ad de Bont benutzt "den Tell" für sein Auftragswerk "Tahrir Tell" als Steinbruch und erliegt der Versuchung, diese auf mehrere Personen verteilte Addition von Infos über den arabischen Frühling in einem pseudoklassizistischen Schiller-Ton zu pathetisieren. Von Dialog kann nicht die Rede sein. Die einzige Idee stammt freilich tatsächlich von Schiller: Statt Apfelschuss ein Apfelsinenschuss, gefordert von einem sadistischen Polizeioffizier. Auf den bloßen Verdacht der Insubordination hin. Aber noch größeres Unrecht, als vom Machtapparat des Regimes ausgeht, begeht offenbar der vom Autor als gewaltbereit eingestufte Schütze. Tells Abrechnung mit "Gessler" wird zum Rohrkrepierer. Der Rächerschuss trifft den Falschen. Merke: Gewalt ist kein Mittel der Revolte. Und die Mutter muss die Tränen über einen von den Schlächtern zu Tode getrampelten Sohn tapfer wegdrücken.

    Wie eine Ikone des sozialistischen Realismus leidet sie um einer besseren Zukunft willen. Kein Wort von Islamismus, keine Diskussion über Tyrannenmord und schon gar nicht über Solidarität und die Chancen einer Ausweitung der Massenproteste. Nur Stühlerücken im abgezirkelten Rahmen und große, leere Worte über Ungerechtigkeit und Leiden.
    Moral pur – aus falsch verstandener Rücksicht auf Jugendliche?

    Davon kann bei Schillers Bearbeitung von Picard’s "Parasit" nicht die Rede sein. Hier wird die Bühne nicht als Moral-Placebo gebraucht, sondern gezeigt, dass es Gerechtigkeit nur auf der Bühne gibt. Kaum je gespielt, kann man nun in Stefan Bachmanns fulminantem Glanzstück der Regie- und Schauspielkunst zusehen, welches Maß an Intrigen und glücklichen Zufällen selbst auf dem Theater dazu gehört, einen mit allen Wassern der Verstellungskunst gewaschenen korrupten Heuchler und windigen Speichellecker wie Selicour zu entlarven. Unser Einblick in das, was vorgeht, ist auf einen schmalen, streng abgezirkelten, abgeschlossenen Spiel-Raum beschränkt.

    Hier werden die Figuren eingesperrt, ausgesperrt, gefangen, in die Enge getrieben, gequetscht und misshandelt. Meist sind die beiden exakt nebeneinander platzierten Drehkreuze mit bühnenhohen Trennwänden zum Zwecke einer neuen Schurkerei stillgestellt. Zuweilen aber sind sie Schleusen. Und wenn die Wände zu rotieren beginnen, öffnen sie das Labyrinth der Intrigen und die in Nischen geklemmten Opfer der Gemeinheit, die Ohnmächtigen, Entrechteten und Geschlagenen trudeln vorbei. Aber das sind alles nur: Zwischenbefindlichkeiten. Denn in Gestalt des zu Unrecht Entlassenen erwächst der Ausgeburt des Intriganten - ein Gegenintrigant. Und der lernt schnell. Als er auf direktem Wege nichts erreicht, sondern gar als Denunziant und Verleumder des verdientesten aller Mitarbeiter verunglimpft wird, ersinnt er listenreiche und erfolgreichere Strategien.

    Das Stück würde (und so hat man es ja immer behandelt), vom Blatt gespielt, an allen Ecken und Enden klappern. Bachmanns Geniestreich: Er zeigt, dass man eine Farce spielt. Ganz ohne Moral geht es um Sein und Schein. Und alle Figuren sind mit ihren ausgestopften oder entblößten Bäuchen, in ihrer weinerlichen Zaghaftigkeit oder hoffnungslosen Redlichkeit, kreuzbraven Unterwürfigkeit oder Chamäleon-artigen Geschmeidigkeit karikierte Karikaturen. Alle haben sie auch eine ernstzunehmende Ab-Seite: Der Minister ist lauter - aber nicht dümmlich-vertrauensselig, sondern sehr hellsichtig. Der stets übergangene Mitarbeiter gefällt sich durchaus in seiner Selbstlosigkeit.

    Und der "gute" Intrigant wütet, bis er verstummt und in einer grandios komischen Szene zu einer verzerrten Bombe aus Grimassen und Rache-Implosionen mutiert. Ganz am Ende schließlich, wenn der entlarvte Bösewicht mit Schimpf und Schande von der Bühne gejagt wird, treibt der Regisseur in dieser alle Affekte in ihren Ambivalenzen körperlich ausspielenden Aufführung auch noch ein Spiel mit der Unversöhnlichkeit. Einfach großartig! Dresden, wo die Inszenierung von nun an zu sehen sein wird – ist eine weite Reise wert.