Archiv


Spiele mit doppeltem Boden

Die heutigen Bühnenstücke in Japan haben sich weitgehend von der Tradition des No-Theaters gelöst. Die aktuellen Werke befassen sich mit politischen und gesellschaftlichen Themen. Die Anonymität in der Megacity Tokio wird hier ebenso aufgegriffen wie die Zerstörungen, die durch Landminen verursacht werden.

Von Cornelie Ueding |
    Eine junge Frau in einem Kettenrestaurant. Tag für Tag vor Arbeitsbeginn. Eine halbe Stunde lang. Sie malt vor sich hin, Kreise, immer wieder Kreise. Andere Gäste, die Bedienung, beobachten sie. Stellen Vermutungen an. Über ihr Leben. Ihre Familie, Freunde, Liebhaber. Ihre – davon gehen sie aus: Büroarbeit. Sie selbst denkt natürlich auch über sich nach, zum Beispiel darüber, ob aus einem zufälligen Treffen eine Beziehung werden könnte, und wie es wäre, wenn sich die freie Zeit über den ganzen Tag ausdehnen ließe, und was die Leute dann von ihr denken würden.

    "Free Time", Freizeit, heißt das Stück, das Toshiki Okada geschrieben und mit der "chelfitsch"-Company auf die Bühne gebracht hat. Nicht nur Theater mit dem Blick nach Westen, sondern angelegt als internationale Koproduktion: mit Kunstenfestivaldesarts08, Brüssel, den Wiener Festwochen, sowie dem Festival d’Automne, Paris. Es ist eine Art Erzähltheater, wie wir es zunehmend auch in Europa kennen – und doch ganz anders. Zu den virtuellen Zufallsbegegnungen und Mutmaßungen dieser Aufführung gehört, dass keine der Figuren einen erkennbaren Lebenszusammenhang hat. Nur Fragmente von Lebensgeschichten tauchen auf, Varianten, Möglichkeiten – aber das alles sind Erfindungen. Fantasien. Ja: Lügengespinste. Denn die Figuren changieren, lösen sich auf, gehen ineinander über. Die spekulativen Geschichten werden irgendeiner Figur übergestülpt, gehen von Mund zu Mund, aus dem Erzähler fiktiver Berichte kann kurzfristig die erzählte Figur werden, die Identitäten überlagern sich. Doch immer sind es – Schauspieler, die sich, wie bei einer Theaterprobe, Gedanken über Figuren machen und diese Figuren eben auch "anprobieren", wie Kleider. Dabei bewegen sie sich aber wie Passanten, wie Jogger, machen Dehnungsübungen, wippen an einer imaginären Bordsteinkante, verrenken die Hände – so als wären sie körperlich in einem anderen Stück. Sehr eigenwillig und fremd muten diese mehrfach gebrochenen Empfindungen und Träume an. In der Mittelbarkeit des Dargestellten kann man einen Reflex des No-Theaters ausmachen.

    Viel entscheidender und vielleicht auch erschreckender ist, dass in diesem Aneinandervorbeischauen und -sprechen anonymer, austauschbarer Figuren der Lebensalltag in der Riesenstadt Tokio erkennbar wird. Nicht einmal mehr junge Menschen finden zueinander, selbst wenn sie nebeneinander stehen und ganz ähnliche, ja im Wortsinn austauschbare Gedanken haben. Ohne Übersetzungshilfe bliebe diese Aufführung für europäische Zuschauer eher spröde.

    Ganz anders das mehrfach preisgekrönte Darumasan ga koronda Das Stehaufmännchen fällt, ein Stück über Landminen, geschrieben und inszeniert von Yoji Sakate, dem Leiter der Rinkogun-Company und unter anderem auch Direktor vom japanischen Zweig des Internationalen Theaterinstituts. Für Sakate ist das Theater Medium der Gesellschaftskritik. Und so beschwert er den wortreichen, auch moralisierenden Text mit Informationen über das Warum, Wozu und durch Wen der Landminen, die, nach unserer Auffassung, jeden Dialoge sprengen müssten. Doch in Sakates bewegtem, körperbetontem Theater gibt es gar keine Gespräche, dafür viele verschiedene theatralische Ausdrucksformen. Alle sprechen schnell, für sich, vor sich hin, auf den andern ein.

    Sie äußern zwar keine Gefühle, aber der Grad ihrer Erregung oder ihrer Witzelei, auf die keiner reagiert oder wenn, dann mit Gewalt oder eisigem Schweigen, wird zum Gradmesser dafür, wie brisant eine Situation ist. Und die Affekte, die die Figuren überspielen, mit Worten, Erklärungen, abrupten Aktionen, komischen Einfällen und krassen Stimmungswechseln zuschütten – kommen unmittelbar beim Zuschauer an. Sakate ist ein Meister des Spannungsaufbaus; der Verharmlosung, ja Verjuxung einer Situation – und dann des Gefühlsumschwungs. Aus der Diskrepanz zwischen nüchterner Bestandsaufnahme, munterer Plauderei und dazu gegenläufigem, situations-genauem Körperspiel schlägt er Funken.

    Er bringt die Szenen in wenigen Sekunden auf den Punkt, stellt zynische Jahrmarktszenen mit hübsch verpackten Minen-Geschenkartikeln neben köstlich ironisierte amerikanische Polizisten, die im Central Park nach einer Bombe suchen, großkotzige Ganoven und Kriegsgewinner neben kammerspielartige Familiendramen. Er lässt stimmungsvolle ländliche Idyllen in Tod und Zerstörung münden, macht ein Liebespaar aus einem Mafioso und einer Minenräumerin, die einen Körperteil nach dem anderen verliert – und deshalb Daruma, Stehaufmännchen, genannt wird. Und das Kinderspiel gleichen Namens spielen dann am Ende alle Schauspieler zusammen – bis sie der letzte count down in ein schwarzes Loch reißt.