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Spielfilm "Ich seh, ich seh"
Die Rache der Kinder

"Ich seh, ich seh" ist ein Film, der hinter die Fassade einer Wohlstandsfamilie schaut. Die Zwillingsbrüder Lukas und Elias sind subtiler Gewalt durch ihre Mutter ausgesetzt. Geduldig ertragen sie die Schikanen - bis zu dem Tag, an dem sie sich brutal rächen.

Von Katja Nicodemus | 27.06.2015
    Lukas und Elias Schwarz spielen die Zwilingsbrüder in "Ich seh, ich seh". (30. August 2014)
    Lukas und Elias Schwarz spielen die Zwilingsbrüder in "Ich seh, ich seh". (dpa / picture-alliance / Ettore Ferrari)
    Was könnte ausgelassener und unschuldiger sein als zwei hübsche Zwillingskinder, die an einem Sommertag halbnackt in einem Wäldchen spielen. Die von der Luftmatratze in die Tiefe eines einsamen Sees blicken und einander über die Wiese jagen: "Du bist!" "Eins, zwei, drei."
    In den ersten Bildern von "Ich seh, Ich seh" von Veronika Franz und Severin Fiala zeigt die Kamera eine Kindheitsidylle. Hyperrealistisch und doppelbödig. Sofort misstraut man dem schönen Schein der Bilder, fragt sich, was in dem Haus mit den großen Glasfenstern vor sich gehen mag, in dem die Jungen verschwinden. Schließlich hat das österreichische Kino wie kein anderes einen Hang zum Abgründigen. Mit dem Auftritt der Zwillingsmutter (Susanne Wuest) werden unsere Befürchtungen denn auch bestätigt: "Mama?" "Na das ist ja eine Begrüßung! Wie schaut denn das Gewand aus? Der ganze Schmutz. Das musst sofort ausziehen. Runtergehen, zur Waschmaschine und ausziehen. Und unter die Dusche, Dahin!"
    Angespannte Mutter
    Nach einer Operation ist der Kopf der Mutter bandagiert. Nur ihre Augen sind zu sehen. So befremdlich und mumienhaft ihr Aussehen ist, so verstörend ist auch ihr Umgang mit den Zwillingen Lukas und Elias. In den alltäglichsten Situationen, beim gemeinsamen Essen, beim Spielen, beim Gute-Nacht-sagen wirkt die Mutter angespannt. Ihre Stimme ist hart, ihre Gesten sind voller Aggression. Schon das Rütteln des Türgriffs wirkt wie ein Angriff: "Aufmachen! Seit wann sperren wir Türen zu?" "Tschuldigung."
    Was ist los in dem Haus am See? Weshalb scheint die Mutter gegen einen der beiden Brüder einen tiefen Groll zu hegen? Und um was oder gegen was wird hier eigentlich gekämpft? Die Musik verstärkt das Gefühl, dass hier etwas im Argen liegt. "Ich seh, Ich seh" ist ein psychologischer Horrorfilm. Klaustrophobisch wirken die Kameraeinstellungen in den Räumen des einsam gelegenen Hauses. Weiß sind die Teppiche, die Möbel und die Wände, vor denen sich die Konfrontation zwischen Mutter und Kindern abspielt. In diesem sterilen Ambiente erzählt der Film von einer beklemmenden Familiensituation, deren Ursprung wir nicht kennen. Und langsam, ganz langsam beginnt der Zuschauer mit Elias und Lukas daran zu zweifeln, dass die Frau hinter den Verbänden tatsächlich ihre Mutter ist.
    Subtiler Horror
    "Du bist nicht unsere Mama." "Aufs Zimmer, ich hab's so satt!" "Zeig uns halt das Muttermal." "Jetzt reicht's!"
    Wie alle klugen Horrorfilme, erzählt auch „Ich seh, Ich seh" von einem Unbehagen, das über die konkrete Handlung hinaus geht. Denn letztlich befragt und umkreist dieser Film die Grundfesten der Identität: Das erschütterte Ich-Gefühl zweier Kinder, die sich von der Frau, die vorgibt, ihre Mutter zu sein, nicht gesehen fühlen. Und die Krise einer Mutter, die das Vertrauen und die Vertrautheit ihrer Kinder verliert. In einem archaischen Sinn wird die fremde Mutter zur Gegnerin. Zur Feindin, die man ans Bett fesselt, um der Wahrheit auf die Spur zu kommen.
    "Was soll das? Was soll das?"
    "Wo ist unsere Mama?"
    "Und wie soll das wieder aufgehen?"
    "Gar nicht."
    "Wo ist unsere Mama?"
    "Der Lukas hat gesagt: Wo ist unsere Mama."
    "Sofort losmachen!"
    "Nein."
    "Hey komm', das tut weh, mach das los."
    "Nein."
    Der See, der Wald, das Haus, die Mutter und die Kinder, die immer erbarmungsloser werdenden Kämpfe - die Bilder dieses Films bleiben im Kopf, graben sich ein, werden zum Alptraum. Weil diese Figuren Archetypen sind, die unser aller Identitäts- und Existenzängste verkörpern. Weil sich unter der Wohlstandsoberfläche der Filmfamilie ein bodenloser Abgrund auftut. Und weil der Horror dieses Films jenen unerklärlichen Rest besitzt, der an etwas Tiefes rührt, von dem wir gar nichts wissen können. Oder wollen.