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Spielzeitauftakt in Frankfurt

Fürchtet euch, habt Angst – eine Aufforderung, die am Eingang der umsatzschwächelnden Einkaufs-Zeile mit ihrem traditionellen Punk-Lager und in Blickweite der Katharinenkirche, tatsächlich etwas vom Ernst mittelalterlicher Geisslerzüge gewinnt. Trotz oder vielleicht gerade wegen der Pop-Elemente von Schlingensiefs "Church of Fear" – so werden etwa Passanten aufgefordert, auf den Kandidaten zu wetten, der am längsten auf seinem Pfahl aushält – die Wettscheine heißen, hübsch böse, "Arbeitslose".

Ein Beitrag von Ruth Fühner |
    Auch die beiden ersten hauseigenen Inszenierungen von schauspiel frankfurt führten weit weg vom Stadttheater, in eine Fabrikhalle am Rand des multikulturellen Gallusviertels. Der Spielort verdankt sich einerseits der Not – das Stammhaus wird saniert – andererseits dem Versuch von Intendantin Elisabeth Schweeger, dem gerecht zu werden, was sie gern das "Nomadische" des Publikums nennt. In der Schmidtstraße 12 soll ein offener Ort für das Viertel sein, der mit Konzerten und Clubnächten auch eingefleischte Nicht-Theatergänger über die Hemmschwellen lockt. Kurator ist der Regisseur Armin Petras, der den Anfang mit vier Inszenierungen zum Thema "Lovestories" ganz allein stemmt. Zwei davon, "Minna von Barnhelm" und "Zwei oder drei Dinge, die ich von ihr weiß" nach Jean-Luc Godard waren jetzt an einem Abend zu sehen – eine Strapaze nicht nur, weil die lehnenlosen Stufensitze der schick ärmlich ausgestatteten Halle heftige Sehnsucht nach der ganz gewöhnlichen Stadttheaterbestuhlung weckten.

    Die Frauen, die Liebe, der Krieg und das Geld – das ist das Quadrat, in dem Petras seine Figuren springen lässt. "Er spricht so viel von der Ökonomie", sinniert Minna wiederholt über ihren Major Tellheim – und das Geld, das Tellheim erst nicht hat und dann doch und dessentwegen er erst nicht heiraten will und dann doch – das Geld als Götzenzentrum der Menschenwürde ist das Einzige, was Petras an Lessings Welt interessiert. Das Wirtshaus, in dem die beiden auf einander treffen, scheint direkt aus einem stillgestellten amerikanischen Road-Movie entsprungen, die Männer aus einem Rambo-Sequel. Unter ihnen kreist die Whiskey-Flasche, unter den Frauen machen Koks und Pillen die Runde, wovon die blondlockige Minna Susanne Buchenbergers in ihrem rosa Baby Doll einen liebreizend somnambulen Blick bekommt, der aber auch nicht weiterhilft.

    Hier kommt keiner zu sich geschweige denn an die anderen ran, und sogar der Impuls dazu ist längst verloren gegangen. Statt dessen schwelgt man lieber in Popsongs – ferne Reminiszenz an Leidenschaften, die man gerne mal gehabt hätte. Die eigentliche Attraktion dieser "Minna" bleibt viel zu lange der in seinem Sessel tiefergelegte Bassist, der dazu die Saiten zupft. Verzappelt wirkt die Inszenierung, die Form gewaltsam aufgedrückt statt spielerisch aus dem Inhalt entwickelt. Überzeugend wird sie nur da, wo Tellheims Brief an Minna als Videofilm gezeigt wird. Es sind Bilder vom Krieg – aber keiner guckt hin. Tellheims eigentliches Trauma ist nicht (mit-)teilbar und virulent wohl noch im Maschinengewehr-Massaker am Schluss, das Lessings Komödienende ersetzt.

    Mit überraschend leichter Hand inszeniert Petras die Theater-Uraufführung von Godards philosophischer Prostitutions- und Vietnamkriegsreflexion "Zwei oder drei Dinge, die ich von ihr weiß". Hier herrscht intelligentes Chaos im Bühnenlabor, munter werden Versatzstücke höchst unterschiedlichen Wirklichkeitsgrads montiert. Eine Kamera filmt wechselnde Arrangements von Plastiksoldaten und Dokumentarfotos aus der Pariser Vorstadt und projiziert sie auf den Bühnenhintergrund. Vogelkäfige kommen in echt und gezeichnet vor, ein Schauspieler als Godard und als hängehosiger Ehemann und Frauen als Schauspielerinnen und Theaterfiguren zugleich.

    Die historische Differenz zu Lessing besteht in der Beziehung der Figuren zu Traum und Leidenschaft: so unbestimmt scheint das Begehren geworden, dass es mühelos in der Unterwäscheabteilung im Kaufhaus erfüllt werden kann. Und so sehr sind die Begehrenden sich dieser Scheinhaftigkeit bewusst, dass das Stück auch nach dem dies Jahr offenbar unumgänglichen Adorno heißen könnte: es gibt kein richtiges Leben in der falschen Welt. Auch hier findet ein Massaker statt, diesmal als Slapstick, während vom Band "Je t’aime" gestöhnt wird und ein amerikanischer Kriegsfotograf zum Orgasmus kommt.

    Dieser zweite Teil des Abends ist ein vielschichtiges und durchaus charmantes Verwirrspiel über die Beziehungen zwischen Fühlen und Denken, Theater und Leben – und insgeheim wohl die Gebrauchsanweisung für die Arbeiten von Armin Petras überhaupt: wie einer Zwiebel zieht er den Individuen die Schalen ihrer Fühl- und Denkschablonen ab – und übrig bleibt ein erschreckend geringer Rest an eigner Erfahrung, unvorgestanzten Emotionen. Das Gelingen dieses Verfahrens hängt allein von der Fallhöhe ab: je täuschender die Illusion der Individualität, desto spannender der theatralische Schälvorgang.

    Nur sollte das nicht zum Rezept für schauspiel frankfurt insgesamt werden. Sich zu sehr auf die Grenzgänger und städtischen Abseiten zu konzentrieren, heißt das Kerngeschäft vernachlässigen. Und das kann sich ein Stadttheater in dieser Stadt kaum leisten.

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