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Spiritualität mit oder ohne Religion

Spiritualität als individuelle innere Erfahrung der Transzendenz oder des Unendlichen ist nicht an einen bestimmten Religionstyp gebunden. Sie kann sich sowohl in allen vorhandenen Religionen als auch im nicht-religiösen Kontext verwirklichen.

Von Ulli Schauen | 11.07.2013
    "Da kann man irgendwie so ein schönes Gefühl empfinden."

    Und wie bekommt man das?

    "Das kann Staunen über die Natur sein oder so was."

    Paul Schulz:

    "Nein, am einfachsten geht es zum Beispiel bei Jugendlichen, wenn sie da eine vernünftige Rockband hinstellen und die macht richtig Alarm. Diese unglaubliche Geschlossenheit des Gefühls, das dort rüber geht, alle heben die Arme und jauchzen und jubeln, singen mit, und die oben bieten richtig Gefühl erster Klasse."

    Oder darf es lieber was Ruhigeres sein, etwas Religiöses? Was ist das – Spiritualität?

    "Grunderfahrungen des Glaubens" – "spirituelle Gefühle" – "so etwas wie Glück" – "ein menschlicher Begriff" – "beziehen sich transzendenzmäßig immer auf Gott"

    Jeder macht sich was Eigenes draus. Bei den heutigen Aussagen zum spirituellen "Gefühlszustand" würden wohl Dutzende Philosophen aus zwei Jahrtausenden im Grabe rotieren, die im Eintrag "Spiritualität" im philosophischen Lexikon erwähnt werden. Doch auch sie haben alle den Begriff verschieden definiert, angefangen beim frommen Pelagius im fünften Jahrhundert. Was diese Philosophen und Theologen schrieben und sagten, ist allerdings für den heutigen ideologischen Streit um die Spiritualität fast unerheblich.

    Der deutsch-ägyptische Politologe und Buchautor Hamid Abdel-Samad erlebt "es" als einen unbeschreiblichen Zustand.

    "Spiritualität ist so etwas, als haben sie noch nie Mango gegessen, und ich muss ihnen jetzt einen Mango-Geschmack beschreiben. Das geht nicht. Man hat es erlebt, gespürt, basta! Man muss nicht darüber weiter erzählen."

    "Spiritualität ist nicht ein religiöser Begriff, sondern ein menschlicher Begriff", ...

    ... sagt der Hamburger Atheist und Doktor der Theologie Paul Schulz.

    "Dummerweise haben die Kirchen frühzeitig begonnen zu sagen, Gefühle könnte nur die Religion vermitteln, also die Erhabenheit der Welt, oder ein religiöses Gefühl, das ist das höchste, was die Kirche bieten kann, vielleicht noch mit dem Zusatz, dieses Gefühl der Erhabenheit, der Größe, der Allmacht, das ist der direkte Zugang zu Gott. Das hat dem normalen Menschen abqualifiziert, weil man ihm diese Gefühle dann abgesprochen hat. Und nun kommt es darauf anzusagen: Auch ein Mensch, der nicht an Gott glaubt, kann Gefühle haben, kann Erhabenheit finden, ohne dass es Gott gibt."

    Hier wird also ein Platz besetzt. Und die anderen wollen auch drauf. Doch beanspruchen die Kirchen tatsächlich noch ein Monopol auf Spiritualität für sich? Ja – und irgendwie auch nicht, wenn man Ralf Meister fragt, den Bischof der evangelischen Landeskirche Hannover. Denn einerseits sagt er zu den Äußerungen des Atheisten:

    "Das muss man auch akzeptieren, das definiert sind eben jeder für sich."

    Und andererseits betont der Bischof:

    "Spiritualität greift immer, ich würde es direkt sagen, greift immer auf Gott zu, oder Gott greift immer wieder über Spiritualität auf mich zu. Wo ich es erlebe direkt, ist im Leben von geistlichen Gemeinschaften, also zum Beispiel in Klöstern. Ich erlebe auch Spiritualität in geistlichen Gemeinschaften, die es in Kirchengemeinden gibt, also in Gebetskreisen. Und ich erlebe es in einem weiten Kreis auch, dass Menschen Grunderfahrungen machen, also Grunderfahrungen des Glaubens, die sie an ganz anderen Orten erfahren, also zum Beispiel in einem Oratorium oder einer Passionsmusik von Bach."

    Transzendenz. Ist der Geist, der Spiritus, außerhalb von mir selbst? Lässt sich Spiritualität nur in Verbindung mit etwas erfahren, das die Grenzen des eigenen Körpers und den eigenen Geist überschreitet? Ist es also gar nicht so ein individuelles Gefühl? Sind deshalb die Religionen doch dafür zuständig? Der Philosoph und Schriftsteller Michael Schmidt-Salomon bestreitet das.

    "Eigentlich sind Religionen sogar Agenturen zur Verhinderung von Spiritualität. Wobei mir dieses Wort eigentlich gar nicht richtig gefällt, denn das klingt immer so nach dem Körper-Geist-Gegensatz, von dem sollten wir nicht ausgehen. Vor allem fast alle Mystiker waren Monisten gewesen, für die gab es den Dualismus zwischen Körper und Geist, zwischen Gut und Böse, zwischen Gott und Welt oder zwischen dem Subjekt und dem Objekt gar nicht. In der mystischen Erfahrung fällt all das zusammen."

    Genau das sei ein Grund gewesen, sagt Schmidt-Salomon, warum die Kirche gegen den christlichen Mystiker Meister Eckart ein Ketzerverfahren begann – das vielleicht mit einem Todesurteil geendet hätte, wäre Meister Eckart nicht vorher gestorben. Denn Religionen versuchten, das Geheimnisvolle zu deuten, das sich der Mystiker offen halten will. So wie der religionsfreie Philosoph Schmidt-Salomon. Er lehnt die Buchreligionen ab, nicht aber die Mystik.

    "Man muss einfach nur vergleichen, also die kosmologische Erzählung von einem 13,7 Milliarden Jahre alten unendlichen Universum und dieser wunderbaren Evolution, die wir auf diesem Planeten hatten, also diese Erzählung vergleichen in ihrem mystischen Gehalt, mit dem Backebackekuchen-Mythos der Schöpfungsgeschichte. Ja, hier wird tatsächlich ein wirkliches Geheimnis, eine Unendlichkeit heruntergebrochen zu etwas sehr Banalem. Eigentlich sind diese religiösen Erzählungen Comicstrips, verglichen mit der Poesie, die eigentlich in diesem Kosmos vorherrscht."

    An der Spiritualität scheiden sich die Geister – auch die der Atheisten. Es kommt wohl darauf an, ob sie "religiös musikalisch" sind, wie Schmidt-Salomon sagt, oder eben nicht. Michael Steudten zum Beispiel.

    "Nee, das habe ich noch nie erlebt, Spiritualität ist mir völlig fremd. Ich kann mich über Sachen freuen, über Natur oder so, aber ich empfinde nicht, dass ich irgend so was wie Spiritualität bräuchte."

    Wegen seiner schönen Solo-Singstimme kam er als Kind in den Windsbacher Knabenchor. In dem Internat ertrug er die Schläge – und er genoss das Singen. Aber für Religion und Spiritualität blieb er unsensibel, sagt Steudten.

    "Wenn ich gegenüber spirituellen Leuten stehe, wenn die irgendwelche Verrenkungen machen oder so in dieser Art und Weise, da grinst es in mir. Und ich habe da so nämlich gewisse Verdachtsmomente – ja, dass da irgendwas nicht stimmt in den Stirnlappen oder irgendwo."

    Der Buchmarkt ist gut versorgt mit Büchern über Spiritualität. Anselm Grün meint schon auf dem Cover eines aktuellen Buches, nur mit ihr sei man ein ganzer Mensch. Ein anderer Autor schreibt eine "Betriebsanleitung" über "Digitale Spiritualität". Die Diakonie lässt forschen, was Spiritualität für das Pflegepersonal bedeuten könnte – findet dabei in der Literatur 14 Typen von Spiritualität. Ob sie für psychisch Kranke gut und heilsam ist oder schlecht, weil sie die Patienten nur noch weiter verwirrt, darüber machen sich Sozialpsychiater Gedanken. Und die Hamburger Bischöfin Maria Jepsen befand schon in ihrer Doktorarbeit, es habe Vorteile, Frömmigkeit durch den Begriff Spiritualität zu ersetzen. Ähnlich ihr pensionierter Kollege Wolfgang Huber: Spiritualität sei der Lebensstil der Christenmenschen. Bischof Ralf Meister:

    "Ein bisschen Beschränkung der Verwendung dieses Spiritualitätsbegriffes, das wäre schon ganz wichtig. Wir haben jetzt alles in irgendeiner Weise spirituell aufgeladen, und ich frage mich, was ist eigentlich der Kern, worum geht es da eigentlich. Was man früher, was weiß ich, Abendandacht genannt hat, oder, keine Ahnung, welche Namen das hatte, das ist jetzt auf einmal ein spiritueller Abend, oder wie man das auch immer nennt, also auch da sollte man etwas vorsichtiger sein, sorgfältiger mit diesen Begriffen."

    Der evangelische Bischof rät zur Zurückhaltung. Spiritualität sollte man nicht bewusst herstellen, durch Rituale in Gruppen zum Beispiel. Und er ist dabei einig mit dem religionsfreien Islamkritiker Hamed Abdel-Samad.

    "Man sollte sich nicht große Gedanken machen, ob die Menschen in dieser eiskalten modernen Welt ohne Spiritualität auskommen können. Jeder Mensch weiß, wie er Spiritualität braucht. Und die Suche nach Spiritualität ist eigentlich viel angenehmer, als zu glauben, an irgendeinem Ziel angekommen zu sein."

    Und wer doch ein Rezept für spirituelles Gefühl braucht, der fragt den Atheisten und Ex-Pfarrer Paul Schulz.

    "Setzen Sie sich an einen Strand und im Meer versinkt die Sonne. Ich habe das oft mit meiner Frau gemacht. Da sitzen wir beide nebeneinander und dann dieser Augenblick, dieses versinken der Sonne in dem Augenblick, wo die Sonne den Horizont berührt, da gibt es einen Kuss. Nicht. Das ist ein erhabener Augenblick, der Anblick dieser unglaublichen Weltsituation, dieser Sonne im Meer versinkt, das ist ein tief greifender Augenblick, und der Mensch, der einem nahe ist, dann zu seiner Seite. Sie können so etwas herstellen. Spiritualität ist ein breit gefächertes Empfindungsangebot."