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Spiritualität
Wo der Wunderglaube wächst

Das Herz wird bald nicht mehr schlagen, sagen Ärzte. Dann schlägt es doch weiter, weil Freunde dafür beten, sagt Rena Imhoff. Ein Wunder? Mehr als die Hälfte der Deutschen glaubt jedenfalls daran - Tendenz steigend. Was treibt den Glauben an das Unerklärliche an?

Von Gabriele Höfling | 09.07.2018
    Brennende Wunderkerze
    Wunder gibt es immer wieder, sagt laut einer Allensbach-Umfrage 51 Prozent der Deutschen. (imago)
    Andreas Bourani singt: "Du bist ein Wunder, Du bist mein Wunder".
    Der Pop-Poet glaubt an Wunder, vor ihm haben schon die Schlagersängerin Katja Ebstein Kollegin Nena Hitwunder hingelegt. Gerade kam ein Spielfilm mit dem Titel "Wunder" in die Kinos: Die Popkultur belebt Wunder immer wieder. Das Institut für Demoskopie in Allensbach fand Ende 2017 heraus, dass deutlich mehr Deutsche an Wunder glauben als noch 1986. Von 33 auf 51 Prozent stieg der Anteil. Dazu der Autor der Studie Thomas Petersen:
    "Es gibt einen deutlich stärkeren Wunderglauben der Frauen als der Männer. Also bei Frauen ist offensichtlich das Bedürfnis nach Spiritualität größer. Abgesehen davon gibt es erstaunlich geringe Unterschiede zwischen den verschiedenen Bevölkerungsgruppen. Also, es ist nicht abhängig von der Bildung, es ist nicht abhängig davon, ob jemand verschiedenen sozialen Schichten angehört. Auch das Alter spielt keine große Rolle. Also, es geht quer durch die Bevölkerung."
    Das Auffallende an der Statistik: Die Kirchenbindung geht, der Wunderglaube jedoch steigt.
    Thomas Petersen: "Ich glaube, viele Menschen müssen an etwas glauben. Seit es Menschen gibt, gibt es Glauben, gibt es Götter, gibt es Religionen. Wenn das Christentum das Bedürfnis nach spirituellem Halt, das viele offensichtlich haben, nicht mehr leisten kann, dann suchen die Leute nach etwas Anderem."
    "Da war einfach nichts mehr da"
    Die Münchener Heilpraktikerin* Rena Imhoff wuchs in einem katholischen Umfeld auf, fand dort aber keine spirituelle Heimat. Heute ist sie in einer Freikirche. Für sie ist ein Wunder etwas von Gott-Bewirktes. Im April 2010, ihr Sohn war gerade einmal vier Wochen alt, kommt die Diagnose: Herzinsuffizienz. Binnen weniger Wochen sinkt die Herzleistung Rena Imhoffs auf 14 Prozent. Ihr Leben steht auf der Kippe.
    Sie erzählt: "Es hat sich alles konzentriert auf ein Wochenende, wo ich das Gefühl hatte, dass ich nicht wusste, ob ich das überlebe und einfach körperlich keine Energie mehr hatte. In mir war nichts mehr, wo ich mich festhalten konnte, was ein Ankerpunkt war. Auch der Glaube nicht, auch mein Sohn nicht. Da war einfach nichts mehr da."
    Rena Imhoff bespricht mit ihrem Mann und Freunden die letzten Dinge, die ihr noch wichtig sind. Doch die anderen wollen sich mit dem nahenden Tod nicht abfinden. Sie initiieren eine Gebetskette. Sie bitten Gott um ein Wunder. Im Nachhinein sieht Rena Imhoff das als den Wendepunkt:
    "Ich konnte mich dann plötzlich wieder erholen. Schritt für Schritt kam eine Besserung, an die vorher keiner mehr geglaubt hat."
    Die Herzleistung steigt kontinuierlich, in den kommenden Monaten kämpft sich Rena Imhoff ganz langsam wieder ins Leben zurück. Heute ist ihr Sohn acht Jahre alt, sie kann ihren Beruf wieder ausüben, hat eine eigene Praxis eröffnet.
    Wenn die Marienstatue weint
    Sie sagt: "Das Wunder, das für mich so klar vor Augen steht: diese Momente der Todesängste, des Gefühls, ich werde mein Kind nicht aufwachsen sehen, dieser Weg ist für mich hier zu Ende. Von dieser Hoffnungslosigkeit wo plötzlich, wie wenn ein Licht aufgeht, da wieder eine neuer Weg erscheint. Es gibt noch mehr Leben. Es gibt noch einen Weg und der ist noch nicht zu Ende."
    Traditionell verwaltet die katholische Kirche das Wunderwesen mit Akribie. Nach dem Besuch von Marienwallfahrtsorten wie dem französischen Lourdes fühlen sich immer wieder Gläubige auf unerklärliche Weise geheilt. Von den mehreren Tausend angezeigten Wunderheilungen dort hat die katholische Kirche bisher aber erst 70 als "echte" Wunder anerkannt.
    Historiker wie Alexander Geppert, deutscher Professor an der amerikanischen New York-University, sind da weniger streng: "Das Wunder ist dann echt, wenn daran geglaubt wird. Was dann da "in Wirklichkeit" passiert ist, wenn eine Marienstatue weint oder wenn ein Todkranker plötzlich geheilt wird, das kann ich ihnen auch nicht erklären. Aber wir finden immer als Historikerinnen und Historiker, wenn so etwas Wirkung zeitigt, wenn Leute daran glauben, und Leute entsprechend handeln und agieren, dann ist das Wunder auch real und effektiv."
    So empfindet das auch Rena Imhoff. Ihr ist aber auch klar, dass nicht jeder ihren Glauben an das eigene Wunder nachvollziehen kann:
    "Ja, ich kann nur sagen: So hab ich es erlebt. Und ich kann verstehen, wenn das jemand von außen sieht, dass er das nicht so erlebt und dass er sagt, naja, da haste eben Glück gehabt. Das kann ich gut verstehen, das kann ich auch stehen lassen. Und ich denke, manche, die in so einer Situation sind, die lassen sich davon inspirieren, denen gibt das Mut, auch zu glauben und manche werden sich abwenden und sagen, nee ich glaub da nicht dran."
    Naturgesetze außer Kraft gesetzt
    Für Historiker Alexander Geppert und Thomas Petersen vom Allensbach-Institut ist der Glaube an Wunder jedenfalls erstmal nichts Naives oder Irrationales. Denn schließlich gebe es auf der Welt auch Unerklärliches. Diese Erfahrung hat der Statistiker Petersen sogar schon selbst gemacht:
    "Also, es hat in meinem engeren Familienkreis Fälle gegeben, die man mit bekannten Regeln der Naturgesetze nicht zu erklären weiß. Ich hab's erlebt, zweimal, dass Menschen gewusst haben, dass ein anderer, eng vertrauter Mensch, hunderte von Kilometern entfernt starb, ohne dass es Nachricht gegeben hätte. Und das sind Dinge, wenn man das Wunder nennen will – von mir aus. Was immer es ist, da sind Dinge nicht aufgeklärt. Und dass einem das ein gewisses spirituelles Nachdenken erzeugt, kann ich verstehen."
    Alexander Geppert weist in seinen Forschungen nach, dass Wunder immer dann gehäuft auftreten, wenn es Krisen oder gesellschaftliche Umbrüche gibt. Technischer Fortschritt treibt auch den Glauben an Unerklärliches an.
    Geppert sagt: "Das haben auch Zeitgenossen beobachtet, dass eigentlich kein Jahrhundert so wundergläubig war wie das 20. Jahrhundert. Je stärker das Wissen anwächst, je stärker die Verwissenschaftlichung des Alltags voranschreitet, desto offenkundiger das Wissen voranschreitet, desto offenkundiger werden auch die Wissenslücken. Und Wunder helfen, das zu überdecken."
    Ob damit nun eine Unsicherheit überdeckt werden soll oder nicht: Was einzelne Menschen als Wunder empfinden, ist also letztlich eine Frage der persönlichen Interpretation. So, wie es auch Andreas Bourani besingt.
    *Frau Imhoff führt eine Praxis für Coaching, Psychotherapie und Seelsorge. In einer früheren Version des Textes wurde sie irrtümlicherweise als Psychotherapeutin bezeichnet.