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Spirituellen Realismus eines großen Kinomagiers

Die bäuerliche Idylle ist die Kulisse, einsame Höfe. Jusuf entwickelt eine fast symbiotische Nähe zu seinem Vater, der Film zeigt die Empathie, die harmonische Ästhetik einer glücklichen Kleinfamilie. Aber der Tod schwingt von Anfang an mit.

Von Christoph Schmitz |
    Die Stille in diesem Film ist allgegenwärtig. Das Schweigen und die Ruhe sind die Seele der Geschichte. Die Landschaft, die uralten Wälder im Nordosten der Türkei, die dunklen Steilpfade, die Weiden im Tal, die Rinnsale und Bäche um die einsamen Höfe der Bauern – sie sind nicht nur die Kulisse der Geschichte, sondern ein Teil der Geschichte selbst. Zu der auch der siebenjährige Yusuf, sein Vater Yakup und die Mutter gehören. Sie leben in und mit dieser Natur, die vom zivilisatorischen Lärm nicht einmal eine Ahnung hat. Ein Leben in Einklang mit sich und der Welt. Semih Kaplanoglu (Sämích Kaplanólu) hat die verlorene Zeit wiedergefunden.

    Und doch schwingt vom Beginn des Films an im Schatten der von Lichtbalken durchfluteten Baumhallen ein Unheil mit, eine Todesnähe, die den paradiesischen Frieden bedroht, wenn Yusufs Vater, der Imker Yakub, in schwindelerregende Höhe einen Baumstamm zu einem der Bienenkörbe hinaufsteigt und stürzt. Dann Schnitt und Szenen einer noch glücklichen Kleinfamilie, alltägliche Verrichtungen, Yusuf in der Schule, wo das stotternde Kind sich fremd fühlt. Und vor allem die große, fast symbiotische Nähe Yusufs zu seinem Vater, die die Mutter nur staunend zur Kenntnis nehmen kann und den Sohn ermahnt:

    "Jusuf mag keine Milch, die Mutter sieht weg, der Vater trinkt das Glas schnell aus, Jusuf lächelt. Der Vater behütet den schweigsamen Sohn, versteht immer, was er will, auch wenn er nicht redet, erschließt ihm die bäuerliche Welt, den geheimnisvollen Wald, und nur mit dem Vater traut sich der Junge hin und wieder zu sprechen, wenn auch nur flüsternd."

    Selten ist im Kino ein Kind so liebevoll, behütet, frei und sensibilisiert für das Geheimnis der Schöpfung aufgewachsen wie in Kaplanoglus "Bal". Und das Seltsame ist, dass das alles keine Sekunde gestellt oder vorgegaukelt wirkt, sondern real und wahrhaftig. Das liegt nicht nur an Kaplanoglus intensiven Naturbildern, sondern auch an seiner wohlkomponierten Tonspur und vor allem an seinen Darstellern, allen voran der kindliche Hauptdarsteller Bora Altas. Sein Gesicht spricht Bände. Ein kleines Wunder an Harmonie, Respekt und Empathie ist auch die bäuerliche Gesellschaft, die sich einmal tausenköpfig zu einem bunten und fröhlichen Volksfest versammelt, um das muslimische Operfest Bayram zu feiern.

    Das Kind spaziert durch die Menge, als sei sie seine Familie. Als "spirituellen Realismus" hat der Regisseur seine Ästhetik einmal bezeichnet, die hier vollkommen zur Geltung kommt, gewissermaßen als Höhepunkt einer Trilogie über Yusuf. Im ersten Teil, "Yumurta – Ei" von 2007 ist Yusuf ein Dichter mittleren Alters, in "Süt – Milch" von 2008 steht er kurz vor dem Universitätsstudium. Und jetzt also seine Kindheit, wobei Kaplanoglu offen lässt, ob es sich um dieselbe Person handelt, weswegen man statt von einer Trilogie eher von einem Tryptichon sprechen sollte. Mit ihm hat sich der Regisseur jedenfalls zu einem der großen europäischen Kinomagier entwickelt.

    Die Befürchtung vom Beginn des Films bewahrheitet sich gegen Ende. Jusufs Vater kehrt nicht mehr lebend heim. Tod, Abschied und Trauer gibt es auch im Land, wo Milch und Honig fließen.