Mittwoch, 24. April 2024

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Spiritueller Jazz
Auf der Suche nach Tiefe

"Diese Musik ist heilig", schwärmt der armenische Jazzpianist Tigran Hamasyan. Zehn Jahre lang hat er gewartet, bis er es wagte, uralte Gebetsgesänge so zu bearbeiten, dass sie in seine Klangwelt passen. Er ist nicht der einzige Pianist, der gerade spirituelle Musik früherer Jahrhunderte für den Jazz erschließt. Tord Gustavsen nimmt sich norwegische Kirchenlieder vor. Eine armenisch-nordische Klangreise.

Von Jan Tengeler | 18.03.2016
    Jarle Vespestad, Simin Tander und Tord Gustavsen
    Jarle Vespestad, Simin Tander und Tord Gustavsen (Hans Fredrik Asbjörnsen / ECM Records)
    'Ankanim araji Qo – ich knie vor Dir nieder', ist ein Gnadengebet zur Fastenzeit und eine der ältesten überlieferten Kompositionen der Kirchengeschichte überhaupt. Sie geht zurück auf Mesrop Mashtots, der zu Beginn des fünften Jahrhunderts nicht nur das armenische Alphabet erneuert, sondern auch die Liturgie mit seinen Kompositionen maßgeblich geprägt hat. Armenien war um 314 das erste Land, in dem das noch junge Christentum zur Staatsreligion erhoben wurde. In der Folge blühten dort Liturgie und liturgischer Gesang, der im gesamten byzantinischen Reich große Anerkennung genoss, wie der armenische Pianist Tigran Hamasyan erläutert.
    "Die sakrale Musik meiner Heimat komplex, sie ist schon sehr früh aufgeschrieben und systematisiert worden. Das ist Grund, warum sie so weit verbreitet war und warum wir heute noch so viel darüber wissen. Aber ich sehe auch die Ähnlichkeiten zur Volksmusik Armeniens, es sind die gleichen Tonleitern, die benutzt werden und ich denke, dass zunächst die Folklore die sakrale Musik beeinflusst hat und nicht umgekehrt. Instrumente gab es in der Kirche allerdings nicht, es wurde immer nur gesungen."
    Dass sich nun mit Tigran Hamasyan ausgerechnet ein Pianist, dazu noch ein ausgebildeter Jazzmusiker mit der reichen Vokaltradition armenischer Kirchenmusik auseinandersetzt, mag verwundern. Ihn hat jedoch überzeugt, dass die Improvisation, also die freie Gestaltung eines vorgegeben musikalischen Themas, schon immer Bestandteil dieser Tradition gewesen ist, ganz genau wie im Jazz. Auf seiner Einspielung 'Luys i Luso' – 'Licht aus Licht’, interpretiert er die Hymnen der bekanntesten Theologen und Komponisten der armenischen Kirchengeschichte. Dementsprechend groß ist sein Respekt.
    "Diese Musik ist heilig und ich habe mich 10 Jahre lange damit befasst, bevor ich es wagte, sie in meinem Sinne zu bearbeiten, um sie in meine moderne Welt zu integrieren. Ich habe die alten Schriften gelesen, die Noten studiert, die Musik in der Kirche gehört. Eine große Veränderung ist natürlich, dass die alten Hymnen einstimmig gesungen wurden, ich aber habe sie harmonisiert und sie mehrstimmig gesetzt. Die Melodien habe ich dabei ebenso wenig verändert wie die Texte. Mein Eindruck ist, dass die Musik selbst mich geführt und tiefer mit dieser religiösen und spirituellen Welt verbunden hat."
    Jahrzehnte der Sowjetherrschaft und um sich greifender Atheismus hätten die alten Kirchentraditionen zwar nicht ausgelöscht, erklärt Tigran Hamasayn, aber sie seien auch nicht weiter entwickelt worden. Ein Grund mehr für ihn, sich den alten Hymnen zu nähern. 'Luys I Luso' ist eine Einspielung, die der armenische Jazzpianist gemeinsam mit dem staatlichen Kammerchor Eriwans realisiert hat, übrigens nicht in einer Kirche, sondern in einem 'normalen' Studio, in dem es während der Aufnahmen zu einem längeren Stromausfall kam.
    "Nach Stunden des Wartens haben wir uns dazu entschlossen, das Studio zu verlassen und in eine Nahe gelegene Kirche hier in Eriwan zu gehen. Es war, als ob Gott sagen würde, wenn ihr schon eine Aufnahme mit sakraler Musik macht, dann geht doch bitte schön einmal in die Kirche. Das haben wir getan und als wir ins Studio zurückkehrten, war der Stromausfall vorbei, das Licht war wieder an."
    Die Suche nach tiefer Spiritualität ist auch der Beweggrund für den Pianisten Tord Gustavsen, sich immer wieder mit den Kirchenliedern seiner norwegischen Heimat zu befassen. Wie Tigran Hamasyan ist auch er ein Jazzmusiker, der die alten Hymnen zwar mit Bedacht, aber doch ohne Scheu mit ungewöhnlichen, zeitgemäßen Klangelementen vermischt. Auch er sieht eine enge Verbindung zwischen der Folklore seiner Heimat und den Liedern der Kirche. Aber anders als der Armenier hat er sogar einen theologischen Anspruch, der über die rein spirituelle Dimension hinausgeht.
    "Wir versuchen mit diesem Projekt die alten Texte aus dem Gefängnis einer strengen protestantischen Theologie zu befreien, ohne die Schönheit dieser Tradition zu vergessen. Wir haben darum etwas getan, das etwas merkwürdig erscheint: wir haben die alten norwegischen Lieder in die afghanische Sprache Paschtu übersetzt. Für mich ist das Ergebnis von stimulierender Dualität: ich höre die mir bekannten Themen mit dem mysteriösen Klang einer fremden Sprache."
    Der norwegische Pianist Tord Gustavsen ist damit groß geworden, in der Kirche zu spielen und den Chor zu begleiten. Und auch, wenn er sich danach vor allem mit Jazz befasst hat, sei dieser frühen Einfluss bis heute enorm; ja, er beschreibt seine eigene Musik sogar als Metaphern für ein modernes Glaubensbekenntnis. Aber das Glaubensbekenntnis soll ein universelles sein. Die Zusammenarbeit mit der deutsch-afghanischen Sängerin Simin Tander gibt ihm dabei die Freiheit nicht nur die Musik, sondern auch die Texte in seinem Sinne zu gestalten.
    "Diese alten Lieder haben sehr oft wunderbare Eröffnungsverse, man spürt die Hingabe an das Göttliche, oft unter Gebrauch erotischer Metaphern. Und dann kommt die zweite Strophe und man hat den Eindruck, die Menschen bekommen Angst vor ihrer eigenen entgrenzten Erfahrung. Es geht um Sünde und darum auf dem rechten Pfad zu bleiben, da beginnt das theologische Gefängnis. Aber wir leben in einer postmodernen Zeit, brauchen wir da noch solche mittelalterlichen Dogmen? Für mich ist es eine große Befreiung, die erste Strophe zu benutzen und dann nur noch die fünfte Strophe. Mag sein, dass das für hart gesottene Protestanten Blasphemie ist. Aber ich denke, dass es vielen gläubigen Christen so geht wie mir."
    Bei dem Versuch, die Kirchenmusik seiner norwegischen Heimat neu zu interpretieren, geht der Pianist und Komponist Tord Gustavsen ungewöhnliche Wege. Ihm geht es auch darum, eine konfessionsübergreifende Spiritualität hörbar zu machen. Und so komplettiert er seine Versionen der alten Hymnen zusätzlich mit Vertonungen zu Gedichten von Rumi, dem berühmten Sufidichter des 13. Jahrhunderts.
    Vielleicht braucht es die weltanschauliche Unverfrorenheit des Jazz, um sich soviel Freiheit zu nehmen. Sicher ist aber auch, dass gerade diese Stilistik von jeher einen besonderen Bezug zu spirituellen Themen hat, egal aus welcher Region dieser Welt sie kommen.