Archiv


Spontan und unorganisisert

Wie viel Nachholbedarf es in Ost- wie West-Europa immer noch gibt, das weltgeschichtliche Ereignis des Ungarn-Aufstandes zu begreifen, das führt uns der österreichische Journalist und Publizist Paul Lendvai mit seinem Buch "Der Ungarn-Aufstand 1956. Eine Revolution und ihre Folgen" vor Augen. Der Autor hat eine Fülle von neu erschlossenen Quellen ausgewertet und war selbst als junger Journalist Augenzeuge des Geschehens.

    DLF/Buchredaktion
    "Buch der Woche"
    Paul Lendvai beschreibt den Ungarn-Aufstand von 1956.
    Eine Revolution und ihre Folgen.
    C. Bertelsmann
    320 Seiten, 22.95 Euro

    Von Angela Gutzeit

    Fast zwei Jahre ist es her, seit die Flammen der ungarischen Revolution in zwölf langen Tagen den enormen Raum erhellten, den eine der totalitären Diktaturen seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges beherrscht. Dies Ereignis kann nicht an Sieg oder Niederlage gemessen werden, seine Größe beruht und ist gesichert in der Tragödie, die sich in ihm entfaltete ,

    so schrieb Hannah Arendt in ihrem 1958 erschienenen Buch "Die ungarische Revolution und der totalitäre Imperialismus". Hannah Arendt bekannte, dass sie eine "romantische Sympathie" hege für die spontane Revolution und für die sich in Arbeiterräten organisierende "Macht von unten". In der Tat ist diese Revolutionsromantik der Rosa Luxemburg-Verehrerin Arendt zweifelhaft, wenn sie in ihren Überlegungen das Rätesystem dem Parteiensystem vorzieht. Aber Arendt erkannte die Brisanz des Ungarn-Aufstandes für den gesamten sowjetisch beherrschten Einflussbereich. Wie ein Blitz schlug der sich in Budapest aufladende Volkszorn gegen Bevormundung und Gängelung in das sowjetische Imperium ein und beleuchtete für einen Augenblick dessen Schwächen wie auch die möglichen Alternativen dazu.

    Heute erscheint die Beschäftigung mit dem Ungarn-Aufstand 1956 auf den ersten Blick nicht zwingend. Der so genannte "Eiserne Vorhang" ist vor 16 Jahren gefallen. Vieles scheint damit aus der westlichen Perspektive erledigt zu sein. Und sogar in Ungarn, so schrieb der ungarische Schriftsteller Péter Esterházy kürzlich, ist der Aufstand für die Alten zum heroischen "Prunkstück der Vergangenheit" geronnen, für die Jungen dagegen ein Geschichtskapitel mit vielen Wissenslücken.

    Wie viel Nachholbedarf es allerdings in Ost- wie West - Europa immer noch gibt, das weltgeschichtliche Ereignis des Ungarn-Aufstandes zu begreifen, um seine unterschwellige Wirkung bis heute ermessen zu können, das führt uns der österreichische Journalist und Publizist Paul Lendvai mit seinem Buch "Der Ungarn-Aufstand 1956. Eine Revolution und ihre Folgen" vor Augen.

    Der Autor hat eine Fülle von neu erschlossenen Quellen ausgewertet, die die seit einigen Jahren zugänglichen Archive u.a. in Budapest und Moskau zur Verfügung stellen. Das haben andere mittlerweile auch schon getan - wie es im Buch des Schriftstellers und Historikers György Dalos zum Ungarn-Aufstand nachzulesen ist. Aber der 1929 geborene Ungar Paul Lendvai war in Budapest 1956 als junger Journalist Augenzeuge des Geschehens. Außerdem wohnte er mitten im Getümmel, da, wo die Kämpfe in Budapest zeitweise am heftigsten tobten: In der Nähe der Corvin-Passage. Das hätte den Honorarprofessor und heutigen Chefredakteur der "Europäischen Rundschau" dazu verleiten können, seine Zeitzeugenschaft heroisch zu überhöhen. Das hat er nicht getan. Im Gegenteil. Er charakterisiert sich zu Beginn seines Buches sogar als anfänglich völlig Ahnungsloser:

    Die Szene war kafkaesk. Vielleicht fünfzehn, zwanzig Gehminuten entfernt war schon der bewaffnete Kampf um das Funkhaus in vollem Gange. Auch sammelte sich schon eine angriffslustige Menge vor dem noch viel näher gelegenen Redaktionsgebäude des kommunistischen Zentralorgans. Auf dem innerstädtischen Ring rasten einige Lastwagen mit jungen Leuten umher. Überall diskutierten aufgewühlte Menschengruppen die Ereignisse des Tages. Aber im Hungaria servierten Kellner in schwarzen Anzügen flink das Essen und die Getränke auf den mit weißem Damast gedeckten Tischen. (...) Dann erschien plötzlich ein unbekannter Mann mit verstörtem Gesicht, der uns fragte: "Sie sind doch Journalisten, und Sie wissen nicht, dass auf den ungarischen Straßen Blut fließt?" Der Augenzeuge dieser Szene, der Politologe Peter Kende, sagte nicht, wie die Tischgesellschaft , außer mit Verblüffung, auf die Worte des Unbekannten reagierte, (..) Um circa 23 Uhr gingen alle nach Hause, ohne zu begreifen, dass zu dieser Zeit bereits ein bewaffneter Aufstand im Gange war. (...) Ich traf mich mit einigen Kollegen zum Abendessen im Restaurant "Kulacs" ("Die Feldflasche"), nur einige Schritte vom Café Hungaria entfernt. Lautstark diskutierten wir die politische Lage, und dann machte ich mich auf den Heimweg. Ich hatte genauso wenig Ahnung wie die Nagyfreunde nebenan vom Ausmaß des Aufstandes vor dem Funkhaus und beim Stalindenkmal, später auch vor dem Pressehaus. Jedenfalls ging ich ruhig zu Bett - und versäumte schlafend (...) den Anfang vom Ende des Regimes.

    Diese geradezu drollige Verkennung der revolutionären Entwicklung, die quasi in Hörweite der Restaurantbesucher ihren Lauf nahm, unterstreicht, was Lendvai wichtig ist immer wieder zu betonen: Die absolute Spontaneität und Unorganisiertheit des Aufstandes - zumindest am Anfang. Am Morgen des 23. Oktober 1956 wälzen sich zwei studentische Demonstrationszüge durch Budapest. Mehrere tausend Menschen bringen ihre Sympathie mit dem jüngsten reformerischen Kurs in Polen unter Wladyslaw Gomulka zum Ausdruck und skandieren - zumindest zu diesem Zeitpunkt - noch recht moderate Sprüche wie "Von Rákosi haben wir genug, wir brauchen einen neuen Parteivorstand! "Weg mit der Willkür, es lebe das Gesetz! Oder: "Wohlstand und Freiheit! Handeln wir nicht zu spät. Imre Nagy in die Führung!" Die jungen Leute geben sich fröhlich, aber ihre Aufregung ist spürbar. Denn es musste ihnen durchaus bewusst gewesen sein, so ist bei Lendvai zu lesen, dass ein nicht von der Partei organisierter Massenaufmarsch etwas Unerhörtes darstellt. Außer Kontrolle geriet die Demonstration aber erst, als sich immer mehr Arbeiter anschlossen, die schließlich den Aufstand maßgeblich organisierten. An Fahrt gewann er dann, als der verhasste Moskau-Vasall Mátyás Rákosi zwar abgelöst wurde, aber der einst verjagte, als gemäßigt und reformbereit geltende Imre Nagy als neuer Ministerpräsident nicht die richtigen Worte fand und den Ereignissen viel zu lange hinter her hinkte. Und zum blutigen Freiheitskampf explodierte das Geschehen auf der Straße, als sowjetische Panzer anrollten, die ersten Toten, dann Massaker zu beklagen waren, das Militär sich schließlich überrascht von der Wucht der Gegenwehr zurückzog, um nach einem militärischen und politischen Täuschungsmanöver den in kürzester Zeit gebildeten Kampfeinheiten und später auch den Arbeiterräten den Garaus zu machen.

    Paul Lendvais Verweis auf die absolute Spontaneität und die für ihn damals überraschende Eskalation der Ereignisse im ganzen Land ist jedoch aus der heutigen Perspektive schwer nachzuvollziehen. Im März 1953 war Stalin gestorben. Im Juni des selben Jahr gab es Unruhen in Ostberlin und in der DDR. Drei Jahre später übte Nikita Chruschtschow in einer Geheimrede eine zwar vorsichtige, aber von der Wirkung her doch einschneidende Kritik am Stalinismus und entlarvte Stalin damit als skrupellosen Diktator. Erste Risse zeigten sich im sozialistischen Machtgefüge. Und das musste gerade in Ungarn Wirkung zeigen. Denn, so schreibt Lendvai ja selbst, nirgendwo seien die Russen so verhasst gewesen wie in Ungarn. Und nirgendwo hat es im Ostblock so blutige Säuberungen gegeben wie unter dem moskauhörigen, stalinistischen Generalsekretär Mátyás Rákosi nach 1945 in Ungarn. Er sei einer der "ruchlosesten Politiker der modernen ungarischen Geschichte" gewesen, so Lendvai. Da fehlte doch nur noch der zündende Funke - und den lieferte Polen, wo Ende Juni 1953 sich polnische Arbeiter in Posen erhoben und der von ihnen erzwungene Reformkurs zu gelingen schien. Ungarn, zu diesem Schluss kann man ohne weiteres kommen, war reif für einen großen Knall.

    Paul Lendvai gelingt es in seinem Buch hervorragend , Geschichte anschaulich und lebendig zu erzählen. Der Publizist Joachim Fest monierte einmal , dass Historiker es in der Mehrzahl nicht mehr verstünden, ihre Erkenntnisse in spannend geschriebenen Geschichten zu vermitteln. Nun ist Paul Lendvai kein Historiker, sondern gelernter Journalist, allerdings mit detaillierten historischen Kenntnissen. Und er nutzt diese, um sie - angereichert mit autobiografischem und biografischem Material wie Bilder eines Films in Bewegung zu setzen. Nicht von ungefähr ist Lendvai nicht nur Buch-, sondern auch Film-Autor. Er spricht immer wieder von der "Dramaturgie der Ereignisse". Und in diese fügt er Portraits ein von führenden Protagonisten auf der Seite der ungarischen Partei und Regierung wie auf der Seite der Aufständischen. Er will sie kenntlich machen mit all ihren Widersprüchlichkeiten und in ihren politischen Verstrickungen.
    Besonders aufschlussreich und gelungen das Kapitel "Das Ringen um Imre Nagys Seele". Revolutionen haben es so an sich, von Mythen befeuert zu werden und die Nachwelt gedenkt ihrer oft auch nur noch in Schwarz-Weiß-Bildern. So ist auch das Bild von Imre Nagy als Ministerpräsident der kurzen Zeit des Revolutionsgeschehens jahrzehntelang verzerrt dargestellt worden. Den einen galt er als Held, den anderen als Versager. Erst jetzt lassen sich Fragen beantworten wie: Warum hat er so lange gezögert, sich als vom Volk verehrter Reformer an die Spitze des Aufstandes zu stellen - wo er doch durch den Druck der Straße an die Regierungsspitze gelangt war? Hätte er durch entschiedenes Handeln den Aufstand in ruhige Reform-Bahnen lenken und die Katastrophe der Niederlage verhindern können? - Lendvai orientiert sich bei der Beantwortung dieser Fragen an der Einschätzung des 2005 verstorbenen Schriftstellers und Widerstandskämpfers István Eörsi, der zu Nagy schrieb:

    Er war ein langsamer, von Zweifeln und auch von tief verwurzelter Parteidisziplin geprägter Mensch, der einfach mehr Zeit brauchte zu einer Entscheidung, als man in der Revolution brauchen darf und kann. Er war immer um zwei, drei Tage verspätet in seinen Entscheidungen.

    Imre Nagy, der Zauderer. Mehr eine bäuerliche, väterliche Erscheinung als die eines gewieften, glatten Apparatschiks. Bei Lendvai gewinnt er Kontur als Zweifler, der zu Weinkrämpfen neigte und während der ersten Tage des Aufstandes wie gelähmt wirkte. Dann aber plötzlich die Flucht nach vorn antrat und den Sowjets die Stirn bot, den Austritt aus dem Warschauer Pakt und die Unabhängigkeit seines Volkes verkündete, als alles schon nahezu aussichtslos war. Nagy war zur Beruhigung des revoltierenden Volkes eingesetzt worden - und zwar von den gleichen ZK-Mitgliedern, wie Lendvai ausführt, die ihn 18 Monate Jahre vorher unter fadenscheinigem Vorwand aus dem Amt und aus der kommunistischen Partei Ungarns gejagt hatten. Er war offensichtlich hoffnungslos überfordert - wie Lendvai nach Auswertung von Gesprächsprotokollen und Erinnerungen von Zeitzeugen ausführt. Geschildert werden Szenen,die sich um den 26. Oktober ereigneten:

    Nagys von Unsicherheit geprägte Stimmungsschwankungen waren an diesem Tag offensichtlich. Die Verhaltensweisen des sechzigjährigen, herzkranken Mannes waren freilich auch dadurch bestimmt, dass er sich seit dem 23.Oktober unter den gedrängten Verhältnissen in der Parteizentrale (..) weder ausruhen noch ausschlafen konnte. Am nächsten Tag in der Pause der dreistündigen Sitzung des Politbüros mit Mikojan und Suslow erlitt Nagy einen Schwächeanfall und fiel in Ohnmacht. Mit Hilfe eines Arztes und dank eines von Suslow zur Verfügung gestellten Medikaments, Validol, kam Nagy schnell wieder zu sich. Vor diesem Zusammenbruch hatte er übrigens schon eine aufwühlende Szene erlebt, die der Ex-Premier Hegedüs in seinen Memoiren beschrieb: "Vor mir schwebt noch immer dieses Bild: Gerö versucht mit dem Papier in der Hand Nagy zur Unterschrift unter dem vordatierten Hilferuf an die Sowjets zu bewegen. Nagy geht mit immer schnelleren Schritten, am Ende fast laufend, vor ihm. Schließlich unterschrieb dann Hegedüs den neu abgeschriebenen Brief, den die sowjetischen Führung wegen der für den 28. Oktober einberufenen Sitzung des UN-Sicherheitsrates als Alibi dringend brauchte...

    Imre Nagy widerstand den Hardlinern in seiner Partei. Ihnen davonlaufend, eilte er dem Geschehen auf der Straße und den Forderungen ihrer Anführer hinterher. Diese verlangten mittlerweile das Ende des Einparteiensystems, die Beseitigung der verhassten Staatssicherheit und u.a. den vollständigen Abzug der sowjetischen Truppen. Von einer Konsolidierung der Verhältnisse konnte nicht mehr die Rede sein. In einem Akt der Verzweiflung versuchte Nagy schließlich noch die Revolution zu überholen mit seiner Aufkündigung der Mitgliedschaft Ungarns im Warschauer Pakt. Die Sowjets, die zum Schein ihre Truppen aus Budapest zurückgezogen hatten, schlugen am 4. November erbarmungslos zu. Janos Kádar wurde eingesetzt und Imre Nagy 1958 hingerichtet.

    Paul Lendvai führt in seinem Buch detailliert aus, dass Imre Nagy, eingeklemmt zwischen den Befürwortern einer gewaltsamen Lösung in Moskau, den Intriganten in seiner eigenen Regierung und dem Volksaufstand keine Chance hatte. Für die Sowjets war von vorne herein klar, sie wollten in Ungarn keine weitreichenden Freiheiten dulden und schon gar nicht die Unabhängigkeit. Aber Chruschtschow sicherte sich vor dem Einmarsch nach allen Seiten ab, zog die sogenannten 'Bruderstaaten' auf seine Seite oder zwang sie zum Stillhalten, sondierte das Verhalten der Westmächte und zog schließlich die Schlinge zu. Lendvais genaues Aktenstudium von Sitzungs- und Gedächtnis-Protokollen bringt nun ans Licht, wie groß die Unsicherheit und die gegensätzlichen Einschätzungen im Moskauer Politbüro waren, was den Spielraum für Ungarn anging. Das Ganze gleicht rückblickend einem so absurden wie tragischen Politkrimi. Der Krimi wäre aber nicht vollständig besetzt ohne einen weiteren Protagonisten, den Lendvai keineswegs schont: Den Westen, an seiner Spitze die USA und der von ihnen gelenkten "Sender Freies Europa" in München.

    Welchen Kurs verfolgte also die Politik der Eisenhoweradministration zwischen 1953 und 1956 tatsächlich, was war vor allem ihre Reaktion während und nach der ungarischen Revolution? (...) In der Krisensituation unternahmen sie .. nichts Konkretes, weder in der DDR 1953 noch in Polen und Ungarn 1956. In der Schlussphase der Moskauer Vorbereitungen für die Niederschlagung des ungarischen Freiheitskampfes ließen die Vereinigten Staaten und ihre Verbündeten der sowjetischen Führung praktisch freie Hand in Ungarn. (...) Zwei ungarische Historiker, Csaba Békés und László Borhi, haben in grundlegenden Studien die viel beredete Befreiungskonzeption als leeres Gerede decouvriert.

    Paul Lendvai ist Pragmatiker und so sieht er rückblickend auch nicht die Lösung in einem Eingreifen westlicher Streitkräfte gegen die Rote Armee in Ungarn. Aber er kritisiert mit Recht, dass die Westmächte keinen Druck ausgeübt, keine Forderungen bezüglich Ungarns geltend gemacht , keinen Preis gefordert hätten für ihre Zurückhaltung. Sein Fazit lässt nichts zu wünschen übrig: Das Verhalten des Westens, besonders der USA, sei nichts als zynisch gewesen, und diente einzig und allein den eigenen Interessen.

    Und noch etwas: Lendvai lässt anklingen, dass die westliche Beistandsrhetorik, immer wieder ausgestrahlt u.a. über den "Sender Freies Europa" , die Revolutionäre in Ungarn zumindest ermutigt hätten, ihren Kampf weiterzuführen und durchzuhalten. Sie hätten fest daran geglaubt, so schilderten es Flüchtlinge und Überlebende später, dass der Westen Hilfe schicken würde. Lendvai nennt das einen moralischen Bankrott. Für den Sozialismus sowjetischer Prägung aber war Ungarn 1956 der Anfang vom Ende.

    Ungarn als Spielball der politischen Kräfte in Ost und West. Was das westliche Verhalten gegenüber Ungarn angeht, so stimmt Paul Lendvai zumindest in einer Hinsicht auch ein Loblied an. Er rühmt geradezu die damalige Asylpolitik Österreichs. Das Land hatte nach der Niederschlagung des Aufstandes ca. 180.000 ungarische Flüchtlinge aufgenommen - auch ihn selbst. Österreich markierte in den Nächten nach der Niederschlagung des Aufstandes sogar seinen Grenzverlauf zu Ungarn mit Feuern. Diese Darstellung ist allerdings etwas beschönigend. Denn die Selbstlosigkeit der Österreicher stieß , als die vielen Ungarn im Lande waren, schnell an ihre Grenzen.

    Das Schlusskapitel zur Erinnerungspolitik in Ungarn nach Jahrzehnten des Schweigens und Verdrängens, zu den Fehleinschätzungen und Mythen sowie auch über die divergierenden und sich gegenseitig bekämpfenden Gruppierungen, die die Revolution von 1956 jeweils für sich vereinnahmen wollen, hätte ausführlicher ausfallen können.

    Nach der Lektüre von Paul Lendvais Buch hat man das Gefühl, besser zu verstehen, warum der Weg der ost- und mitteleuropäischen Staaten nach 1989 in die europäische Gemeinschaft so schwierig und zum Teil konfliktträchtig ist. Die historischen Erblasten sind noch lange nicht aufgearbeitet. 1956 als Erbe nicht zu verlieren, so schrieb kürzlich der ungarische Schriftsteller Peter Esterházy sinngemäß, muss im gesamteuropäischen Interesse liegen - "als Probe der Selbsterkenntnis".

    Paul Lendvai: Der Ungarn-Aufstand 1956
    Eine Revolution und ihre Folgen.
    C. Bertelsmann
    320 Seiten, 22.95 Euro