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Sport als Stütze bei Hartz IV

Das Bildungspaket der Bundesregierung für Kinder aus Hartz-IV-Familien sieht auch die Erstattung von Kosten für Mitgliedschaften oder Kursen in Sportvereinen vor - seit nunmehr vier Wochen. Bei der Umsetzung aber hakt es.

Von Ronny Blaschke |
    Der Erste Berliner Judoklub erlebt Ende November den aufregendsten Tag seiner fast 90-jährigen Geschichte. Arbeitsministerin Ursula von der Leyen stellt in einer kleinen Sporthalle ihr neues Bildungspaket vor. Begleitet wird sie von Heinrich Alt, Vorstand der Bundesagentur für Arbeit, und Thomas Bach, dem Präsidenten des Deutschen Olympischen Sportbundes. Staatstragend schwärmen sie von einem Gesetz, das es zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht gibt. Sie wollen Empfängern des Arbeitslosengeldes II, besser bekannt als Hartz IV, auch einen kostenlosen Zugang zu Sportvereinen ermöglichen. Dieses Programm stellen sie im bekanntesten aller Problembezirke vor: in Berlin-Neukölln.

    Ein halbes Jahr später sitzt Judoklubchefin Barbara Westphal an ihrem Küchentisch und starrt auf ein Formular. Das Bildungspaket ist verabschiedet worden, nach Monate langen Streitigkeiten, Vermittlungen, Veränderungen. Westphal hat von ihren prominenten Besuchern nie wieder etwas gehört, doch noch bleiben viele Fragen offen – und so hat sie die Erkenntnis gewonnen,

    " ... dass es nur bedingt um die Kinder geht. Ich glaube, dass viele Menschen, die sich mit der Problematik beschäftigen und auseinandersetzen, Hartz IV, dass die noch nie in der Situation waren, zu überlegen, wo übermorgen das Essen herkommt. Also es ist sicherlich nicht damit getan, einmal durch Neukölln zu laufen. Das reicht nicht aus, um die Problematik zu verstehen."

    Nicht nur Barbara Westphal muss mit den Konsequenzen leben. 2,5 Millionen Kinder haben in Deutschland Anspruch auf das Bildungs- und Teilhabepaket. Auf Musikunterricht, Nachhilfe – oder eine Mitgliedschaft im Sportverein für bis zu zehn Euro im Monat. Bedürftige Eltern müssen einen Antrag stellen, beim Jobcenter, beim Sozialamt, Wohngeldamt oder beim Landesamt für Gesundheit und Soziales. Die Sportvereine sollen dann die Mitgliedsbeiträge erstattet bekommen. Klingt einfach? Und doch ist die Resonanz für Barbara Westphal enttäuschend. In ihrem Judoklub haben von zehn bedürften Eltern-Paaren erst zwei einen Antrag eingereicht. Ihr Prozentsatz liegt dennoch über dem Durchschnitt von Neukölln, wie Franziska Giffey zu berichten weiß. Die Sozialdemokratin ist Bezirksstadträtin für Bildung, Schule, Kultur und Sport.

    "Wir haben nur einige sporadische Anfragen von Einzelfällen, aber keine Antragsflut in dem Sinne, also das ist im Zehner-Zwanziger-Bereich. Wir haben Menschen, die anrufen, die wissen wollen, wie das alles funktioniert. Also wir erleben ein bisschen eine Unklarheit noch bei den Leuten, dass sie einfach nicht genau wissen, wo müssen sie denn genau beantragen. Wie funktioniert das?"

    Immer wieder wurde die Verantwortung weitergereicht, nun sind die Kommunen zuständig, in Berlin die Bezirke. Allein in Neukölln leben 58000 Bedarfsgemeinschaften mit 23000 Kindern. In ganz Berlin haben rund 200000 Kinder Anspruch auf Transferleistungen. Dafür müssen in der Hauptstadt 150 Stellen geschaffen werden, um die Bürokratie des Bildungspaketes zu bewerkstelligen. Was bleibt, ist Verunsicherung.

    Im Nachbarschaftsheim, im Herzen von Neukölln, gibt Bernd Szczepanski der Verunsicherung ein Gesicht. Szczepanski arbeitet ehrenamtlich in der Einrichtung, die täglich fünfzig bis sechzig Kindern ein soziales Netzwerk bietet. Auch durch Sport, durch Fußball, Artistik oder Capoeira. Szczepanski berät erwerbslose Eltern, er studiert ihre Hartz-IV-Bescheide, formuliert Widersprüche. Das neue Gesetzt erschwere seine Arbeit, sagt er.

    "Das Bildungspaket hat meine grauen Haare noch viel grauer werden lassen. Das heißt, sehr viele der Leute mit Migrationshintergrund, deren Sprachkenntnisse nicht so gut sind, die lesen natürlich keine deutschen Zeitungen und oftmals sehen sie auch nicht mal deutsches Fernsehen. Sodass sie zwar inzwischen alle gehört haben, es soll Geld für meine Kinder geben, aber wie sie an dieses Geld ran kommen, das erschließt sich 90 Prozent der Leute nicht."

    Bundesrat und Bundestag haben die Hartz-IV-Reform Ende Februar verabschiedet. Das Gesetz ist seit dem 1. April in Kraft und gilt rückwirkend seit Jahresbeginn. Wer Mitgliedsbeiträge für den Sportverein rückwirkend erhalten will, muss einen Antrag bis Ende Juni stellen. Zunächst galt diese Frist bis Ende April, doch die Arbeitsministerin beugte sich dem öffentlichen Druck und korrigierte den Zeitraum. Für Ulrich Schneider, den Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Gesamtverbandes, reicht das jedoch nicht aus.

    "Man muss den Vereinen, den Kitas, den Schulen, also allen, die da tätig sind, direkt das Geld geben. Was bisher fehlt, ist, dass man einfach intensiv an die Schulen geht, in die Jugendklubs ging, auch möglicherweise auf die Straßen geht mit Street-Working-Projekten, um die Jugendlichen zu erreichen, also da hinzugehen, wo die Jugendlichen tatsächlich sind. Einfach dazusitzen und zu sagen: Wir verteilen ein paar Flyer und warten, was passiert, das wird nicht reichen, um die Jugendlichen zu begeistern und abzuholen."

    Heiner Brandi ist im November 2010 auch in Neukölln gewesen, als Arbeitsministerin von der Leyen ihr Bildungspaket während einer Judostunde vorgestellt hat. Brandi ist Jugendreferent des Landessportbundes Berlin. Zuletzt hatte der LSB bedürfte Kinder mit einem eigenen Programm entlastet: "Kids in die Sportklubs". Seit 2008 konnten sie zu ihrem 18. Lebensjahr kostenfrei in Vereinen aktiv sein, ihre Mitgliedbeiträge übernahm der Europäische Sozialfonds. Nun hat der Landessportbund den 2200 Berliner Vereinen die neuen Antragsformulare geschickt. Der LSB will weiter informieren, ebenso wie Kommunen und Regierung. Ob die Botschaft bei den Eltern ankommen wird?

    "Als wir das Programm 'Kids in die Sportklubs' begonnen haben, haben wir mit sieben Kindern in drei Vereinen begonnen. Und dann hat es auch eine ganze Weile gedauert, bis sich das rumgesprochen hatte. Und wir haben drei Jahre gebraucht, bis wir auf die Zahl von 2750 Kindern gekommen sind. Und wir gehen davon aus, dass auch dieses Bildungs- und Teilhabepaket eine gewisse Zeit braucht, bis es in den Köpfen der Eltern angekommen ist."

    Bundesrat stimmt Hartz-IV-Reform zu