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Sport unter roten Fahnen

Es war im Mai 1893, als sich sozialistische deutsche Sportler in Gera unter den Büsten eben des Sozialisten Lassalle und des Turnvaters Jahn, unter Roten Fahnen und vor einem Banner zusammenfanden.

Von Diethelm Blecking |
    Die Gründungsversammlung des Deutschen-Arbeiter-Turnerbundes brachte Sport und Politik, Sport und Revolution zusammen zu einem hochsensiblen Gemisch, das auch der Sozialdemokratie und vor allem den Gewerkschaften nicht so recht schmeckte. Denn ein – Zitat – "altes, verfaultes System mit Stumpf und Stiel auszurotten" , dieser Slogan der sozialistischen Sportler schien den reformistischen Verwaltern der kommenden Arbeitermacht doch ein bisschen zu starker Tobak, außerdem war Sport für die Funktionäre nichts weiter als eine höchst überflüssige Ablenkung vom ökonomischen und sozialen Klassenkampf. Trotz dieser Widrigkeiten und trotz härtester Unterdrückung durch den wilhelminischen Klassenstaat entwickelte sich der Arbeitersport über Weltkrieg und Novemberrevolution, bald auch anerkannt von der politischen Arbeiterbewegung, zu einer Großorganisation, die vor 1933 um die 1,2 Millionen Mitglieder organisierte, 60 Zeitungen und Zeitschriften mit einer Gesamtauflage von 800.000 Exemplaren verlegte sowie Sportlehrer und Funktionäre in einer großzügig und modern entworfenen Bundesschule in Leipzig ausbildete.
    Die Arbeitersportler gaben dem Breitensport Vorrang vor dem Leistungssport, sie traten für die Gleichberechtigung der Frauen auch im Sport ein und orientierten auf die universale, völkerverbindende Kraft des Sports gegen Krieg und Militarismus. Ihre Theoretiker dachten angeleitet durch marxistische Gesellschaftslehre zum ersten Mal Sport und Gesellschaft zusammen. Der deutsche Arbeitersport war auch eine wichtige Kraft in der Sozialistischen- Arbeitersportinternationale, die große Arbeitersportolympiaden in Frankfurt, Wien und Antwerpen organisierte. Aber gerade bei diesen Wettkämpfen zeigte sich auch ein Stück Borniertheit, Mief und Enge, eine empfindliche Schwachstelle im Emanzipationsdiskurs der Arbeitersportler: Als der brillante Fußball-Mittelstürmer Erwin Seeler während der Arbeiterolympiade in Wien 1931 beim 9:0 der Deutschen gegen Ungarn vor 60.000 Zuschauern allein sieben Tore markierte, trugen ihn die Zuschauer auf den Schultern aus dem Prater-Stadion. Zu Hause in Hamburg erwartete ihn gerade wegen seiner individuellen Klasse, die als unsolidarisches Verhalten denunziert wurde, Neid und sozialistisch beschönigte Gehässigkeit. Seeler verließ den Arbeitersport und ging zum SV Victoria, dem Vorläufer des Hamburger SV. Sein Sohn Uwe wurde eine Fußballikone der Bundesrepublik.
    In den letzten Jahren der Weimarer Republik kämpften die Arbeitersportler als Teil der Eisernen Front vergeblich zusammen mit der SPD und den Gewerkschaften gegen die nationalsozialistische Machtergreifung. In ganz Deutschland folgten nur im schwäbischen Mössingen einige hundert Menschen, darunter viele Arbeitersportler, dem Aufruf der Kommunisten zum Generalstreik gegen Hitlers Herrschaftsantritt. Sie versammelten sich an der Turnhalle des Arbeitersportvereins, zahlten einen hohen Preis für ihre einsame Aktion, wurden eingesperrt und noch nach dem Zweiten Weltkrieg als "Zuchthäusler" diffamiert. Die Nazis vernichteten die Bewegung. Sozialistische und kommunistische Arbeitersportler waren im Widerstand engagiert. Der Fußballfunktionär Karl Bühren floh in die Sowjetunion und wurde nach Verhaftung und Folterverhör durch den sowjetischen Geheimdienst NKWD ermordet.

    Nach dem Zweiten Weltkrieg ging der Arbeitersport in der DDR und in der Bundesrepublik in den großen, zentralisierten Sportorganisationen auf. Die Erbschaftsbemühungen der DDR blieben Papier. Mit der tiefen Stimmlage der anabolikastarken DDR-Sportlerinnen ließ sich das hohe Lied der Arbeitersportbewegung kaum singen. In Westdeutschland definierten sich die Naturfreunde, die Radfahrer der "Solidarität" und die Arbeitersamariter in der Tradition des Arbeitersports. Die neuen sozialen Bewegungen nahmen Ideen, wie das soziale Wandern und andere Breitensportideen wieder auf, aber der Arbeitersport blieb vergessen. Denn: Begriffe wie Völkerverständigung, Solidarität und Frauenemanzipation sind inzwischen auch im Sport zu wohlfeilen Gemeinplätzen geronnen.