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Sportler mit geistiger Behinderung
Im Abseits der Paralympics

Die Paralympics werden als glanzvolle Bühne für Menschen mit Behinderung gefeiert. Doch eine Gruppe fühlt sich an den Rand gedrängt: Von den rund 4.400 Athleten in Tokio haben nur 120 eine intellektuelle Beeinträchtigung.

Von Ronny Blaschke | 03.09.2021
Fernsehkameras zeichnen die Installation des Symbols auf.
Etwa 400.000 Menschen leben in Deutschland mit einer geistigen Behinderung, nur ein bis zwei Prozent von ihnen sollen in Sportvereinen aktiv sein (Yomiuri Shimbun/ap/dpa/picture-alliance)
Der Skandal aus dem Jahr 2000 wirkt nach. Einige Spieler des spanischen Basketballteams täuschten ihre geistige Behinderung bei den Paralympics in Sydney nur vor. Das Internationale Paralympische Komitee verbannte den Sport mit intellektueller Beeinträchtigung. Bis 2012: Bei den Spielen in London öffnete das IPC wieder drei Sportarten - Leichtathletik, Schwimmen und Tischtennis. 120 Athleten mit geistiger Behinderung gingen an den Start, drei Prozent aller Teilnehmenden.
Das IPC stellte eine Erweiterung in Aussicht, doch davon ist in Tokio wenig zu spüren. Andrew Parsons, Präsident des Internationalen Paralympischen Komitees: "Ich bin nicht zufrieden mit der Stellung von Sportlern mit einer intellektuellen Beeinträchtigung. Ich denke, dass sie in der paralympischen Bewegung eine größere Rolle spielen sollten. Deswegen hat unsere Generalversammlung eine Arbeitsgruppe auf den Weg gebracht. Dort sollen Vorschläge erarbeitet werden, wie wir die Teilnehmerzahl bei den Paralympics erhöhen können."

Tests mit unterschiedlicher Glaubwürdigkeit

Intellektuelle Beeinträchtigungen können sich stark unterscheiden, zwischen Down-Syndrom, Lernschwächen oder plötzlicher Vergesslichkeit. Trotzdem gibt es bei den Paralympics nur eine weitgefasste Startklasse für Sportler mit geistiger Behinderung: Ihr Intelligenzquotient darf 75 Punkte nicht überschreiten und sie müssen im Alltag auf Hilfe angewiesen sein.
VdK-Präsidentin: "Sport oft nicht zugänglich und nicht barrierefrei"
Der Teilhabebericht der Bundesregierung zeigt, dass mehr als jeder zweite Mensch mit Behinderung nie Sport treibt. Verena Bentele, Präsidentin des Sozialverbandes VdK, kritisiert fehlende Barrierefreiheit der Sportstätten und mangelndes Sportangebot.
Die Athleten absolvieren für Klassifizierungen mehrere Tests. Doch diese seien weltweit von unterschiedlicher Glaubwürdigkeit, deutet Karl Quade an, Chef de Mission des deutschen Paralympics-Teams:
"Wenn ich mir die internationale Situation ansehe, wer da antritt, dann ist das mit dem Begriff der geistigen Behinderung in Deutschland manchmal schwer unter einen Hut zu bringen. Wenn man sieht, dass die Sportlerinnen und Sportler da in Fremdsprachen Interviews geben, dass sie davon erzählen, dass sie zu Hause Auto fahren, dann passt das überhaupt nicht zusammen mit der Form von geistiger Behinderung, wie wir sie in Deutschland kennen. Und wie wir auch ernsthaft klassifizieren."

Neue Startklassen als Motivation für Jugendliche

Etwa 400.000 Menschen leben in Deutschland mit einer geistigen Behinderung, nur ein bis zwei Prozent von ihnen sollen in Sportvereinen aktiv sein. Die zentrale Rolle im Breitensport spielt das Netzwerk "Special Olympics". Dessen Zusammenarbeit mit dem Deutschen Behindertensportverband gilt als ausbaufähig.
Bei den Paralympics könnte das IPC weitere Startklassen für Sportler mit geistiger Behinderung einführen. Doch dann müssten vermutlich Athleten mit körperlicher Behinderung weichen. IPC-Präsident Andrew Parsons hofft auf eine Einigung: "Wenn wir mehr Athleten mit einer intellektuellen Beeinträchtigung hätten, würden in den Ländern auch mehr Förderprogramme entstehen. Kinder und Jugendliche mit einer intellektuellen Beeinträchtigung würden dann vielleicht leichter zum Sport finden."
In London 2012 war das deutsche Team mit zwei geistig behinderten Sportlern vertreten, in Rio vier Jahre später nur mit einer Schwimmerin. Und nun in Tokio ist aus Deutschland niemand mit einer intellektuellen Beeinträchtigung dabei.