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Sprache und Identität

Helene Wesendahl erwacht aus dem Koma und nimmt wie durch einen Schleier ihre Umgebung wahr. Die Erinnerungen kehren nur langsam zurück, ebenso die Sprache. Es ist die Geschichte der Autorin, die hier erzählt wird und existentielle Fragen aufwirft. Und es ist auch eine Geschichte voller Erinnerungen an die DDR.

Von Simone Hamm | 22.06.2009
    Eine Frau sieht durch einen grauen Schleier hindurch Menschen, die um sie herum stehen. Warum ist die Hand der Mutter so kalt? Warum weint das kleine Mädchen? Warum lächelt ihr Mann? Wo ist sie?

    Helene Wesendahl ist aus dem Koma erwacht. Ein Aneurysma in ihrem Kopf ist geplatzt, man hat sie operiert. Helene Wesendahl kann sich kaum bewegen und - sie kann nicht sprechen. Nur langsam erinnert sie sich.

    Doch Kathrin Schmidts Roman "Du stirbst nicht" ist nicht einfach einer jener Romane, in denen jemand sein Gedächtnis verliert.

    "Du stirbst nicht" ist ein Roman vom Verlust und vom langsamen Wiedergewinnen der Sprache. Die Protagonistin ist eine Schriftstellerin, die ihre Sprache verloren hat. Kathrin Schmidt hat diese Geschichte nicht erfinden müssen. Es ist ihre eigene:

    "Wir haben im Lektorat ziemlich lange überlegt, ob diese Frau wirklich so sein soll, weil es doch so nah an meinem eigenen Leben dran ist. Aber wir haben uns dann entschlossen, es so zu lassen, weil dieser Sprachverlust wirklich eine ganz existenzielle Seite hat, er ist ein Abschnitt vom Beschreibenkönnen auch. Das ist einfach ein solcher Schnitt gewesen, dass diese Frau sich ganz mühsam wieder aufrappeln musste."

    Ohne sich verbal verständigen zu können, achtet Helene Wesendahl mehr auf ihre Intuition als sie es je getan. Sie weiß, ob eine Krankenschwester mitfühlend ist oder ob sie dies nur vorgibt, sie kann das unsichere Lachen des Kriegsdienstverweigerers verstehen, als er sie zur Toilette trägt. Ihre Wahrnehmung ist übersensibilisiert.

    "Das Buch ist ja ziemlich nah angelegt - was die Krankengeschichte angeht zumindest - an meinem eigenen Schicksal. Und ich habe das tatsächlich so gesehen. Wie eine Schwester auf mich zukommt, was ich vielleicht intellektuell gar nicht erfassen kann. Aber ob sie mir zugewandt ist oder nicht - mit dem Ausschalten des Intellekts auf eine gewisse Weise, merkt man das noch viel genauer. Und das war irgendwie das Verrückteste an dieser ganzen Situation, das ich bestimmte Dinge einfach nicht sagen konnte oder die Protagonistin einfach bestimmte Dinge nicht sagen kann, aber trotzdem ganz genau merkt, worum es eigentlich geht."

    Kathrin Schmidt schildert die Krankenhaussprache, Patienten, in deren Beisein man in der dritten Person Singular spricht, wenn man über sie spricht, Pfleger und Ärzte, die unbedachte Äußerungen machen. Stereotype Sprache. Sie selbst findet eine andere Sprache, sie denkt assoziativ. Sie sieht eine Schwester am Ende des Ganges. Ihr fällt eine Lesereise nach Indien ein. Sie konstituiert Sprache neu über ganz neue Zusammenhänge.""

    "Sie kann nicht mehr wie früher durch lange Reihen von Worten, auch Synonymen flanieren, die an Klammern aufgehängt sind und nur darauf warten, von ihr abgenommen zu werden, sondern muss höllisch suchen, bis sie irgendwo ein passendes entdeckt."

    Mit dem Wiedererlernen der Sprache findet Kathrin Schmidts Protagonistin Helene Wesendahl langsam wieder ins Leben zurück.

    "Und das möchte sie ja auch. Sie möchte ja am liebsten überhaupt keine Ergotherapie und Physiotherapie machen, sondern sie möchte Wörter hören. Weil mit dem Ertönen von Wörtern und dem Hören von Wörtern ihr diese Wörter wieder zugänglich werden. Das ist ja das Verrückte an der ganzen Geschichte, dass in dem Moment, wo jemand anderes ein Wort ausspricht, es ihr wieder zur Verfügung steht. Wenn auch manchmal nur für einen kurzen Moment. Aber es ist da und sie weiß es und weiß in der Regel auch, was damit gemeint ist, was sie aber von sich heraus nicht evozieren kann in ihrem eigenen Gedächtnis. Sprachbewusstsein wächst. Sprache selbst wächst. Es wächst die Person."

    Sie denkt komplexer, komplexer als sie je zuvor gedacht hat:

    "Die Haferflocken im Müsli waren einfach aus der Tüte gefallen und der Laptop vom Himmel und der Stift aus der Federtasche. So einfach war das gewesen, dass für alles Zweifache, Mehrfache gar kein Platz geblieben ist, und ihre Augen waren voll gewesen und doch leer, sie merkt es jetzt, da das Geschehene zu schrumpfen beginnt und das Gedachte auf einmal hinzukommt, noch zögernd, noch stolpernd, wie es jedem Ding einen Hallo verpasst und jedem Wort eine große lederne Blase, die sich mit anderen Blasen um andere Wörter überschneidet, wie sich die Schnittmengen konturieren und neue Worte in ihrem Inneren entstehen ... "

    Und von Kapitel zu Kapitel wird auch Kathrin Schmidts Sprache komplexer. Anfangs kommt die Vergangenheit zurück in Fetzen, in kurzen, abgerissenen Sätzen. Später schreibt sie komplexer. Der Satzbau wird komplizierter. Die Wortwahl anspruchsvoller. Es ist ein langer Weg, bis die zum Schweigen verurteilte Helene Wesendahl wieder Gedichte schreiben kann und Kathrin Schmidt schildert ihn beinahe beiläufig. Sie hat ein tief beeindruckendes Buch darüber geschrieben, wie Sprache Identität schafft. Mit der Sprache kommt auch die Erinnerung zurück.

    Helene Wesendahl erinnert sich. Erinnert sich daran, dass sie ihren Mann hat verlassen wollen, erinnert sich an ihre fünf Kinder. Erinnert sich an ihre Freundin Viola, die sie geliebt hat, mit der sie leben wollte.

    "Es ist ihr, als lehne sich jemand gegen ihren Rücken. Jemand mit spitzen Wirbeln. Sogar den Kopf spürt sie, von dem jetzt langes Haar über ihre Schultern fällt, es ist schon ein bisschen grau, der Jemand also nicht mehr ganz jung, kein hennarotes Haar wie bei der einen oder schwarzbraunes Haar wie bei der einen oder schwarzbraunes wie bei der anderes Tochter, die beiden scheiden schon mal aus, obgleich sie wohl ausreichend spitze Wirbel haben."

    Und sie beginnt, wie die Worte, auch die Menschen neu zu interpretieren. Ihr Mann ist über die Maßen liebenswert, tut alles für sie. Und sie weiß nichts mehr anzufangen mit dem Gedanken, dass sie ihn verlassen wollte.

    Viola ist eine spannende Figur. Denn sie ist einmal ein Mann gewesen. Viola und Helene haben etwas gemeinsam. Auch Viola hat sich sehr lange fremd im eigenen Körper gefühlt. Viola musste ihr Körpergefühl auf eine absolut radikale Weise finden, indem sie ihr Geschlecht geändert hat. Sie hat viel verloren. Ihre Frau, ihre Kinder, die sich für lange Zeit von ihr abwandten, ihren Beruf, viele ihrer Freunde. Auch Helene hat sie letztlich verloren.

    Helene fühlt sich schuldig. Denn sie hat in Viola Erwartungen erweckt. Das Schuldgefühl vermischt sich mit einem anderen. Der Sohn ihres Mannes aus erster Ehe hatte sich umgebracht. Er ist wohl nicht fertig geworden mit der Trennung seiner Eltern:

    "Sie weiß, dass sie daran keine Schuld trägt. Aber die Möglichkeit, das zu hinterfragen, die kommt ihr erst in diesem Moment. Weil sie vorher nicht so nah an den Kindern war, um daran zu denken. Suche. Nach der Krankheit: Ich bin hier. Vorher hat sie sich wenige Gedanken gemacht."

    Helene hat fünf Kinder von drei Männern.
    Auch Kathrin Schmidt ist fünffache Mutter.

    "Das ist unser schöner DDR-Zirkel gewesen. Das war ja tatsächlich so, dass Kinder weit gestreut waren und weit gestreut wurden. Als ich meine ersten beiden Kinder bekommen habe, da war ich mir ziemlich sicher, dass es überhaupt nicht wichtig ist, dass die einen Vater haben. Das hat sich erst geändert, als die fast sechs, sieben Jahre alt waren. Das ist auch eine Frage des Alters und der Reife gewesen, natürlich, die dann dazu kommt und heute haben meine Kinder zu ihren Vätern ein ganz anderes Verhältnis, ein gutes. Aber damals war mir das einfach nicht wichtig. Es gab so ein Theaterstück eines russischen Dramatikers aus den 20er-Jahren, der diese Problematik aufgeworfen hatte und in diesem Überschwang befanden wir uns damals halt. Und haben halt gedacht, uns gehört die Welt - auch als Frauen. Das machen wir alles so.

    Kathrin Schmidt hat nicht nur einen sehr berührenden Roman vom Verlust und Wiederfinden der Sprache geschrieben. Es ist auch ein Roman voller Erinnerungen an die DDR. Es fließt sehr viel Alltag aus dem sozialistischen Realismus ein in den Roman "Du stirbst nicht". Das Leben in Wohnunterkünften, eine Art Zwangs-WG sozusagen. Die kleinen Schwierigkeiten, den Alltag zu meistern. Die Anpassung, weil man eine Wohnung nur dann zugeteilt bekommt, wenn man heiratet.

    ""Ich finde das witzig, dass Sie auf den DDR-Alltag ansprachen, weil ich auch immer draus lese, wenn ich das vorstelle und die Leute dann immer heftig lachen. Und ich finde das einerseits auch sehr lustig, aber andererseits kann ich überhaupt nicht drüber lachen. Das finde ich bemerkenswert.

    Aber es ist doch auch selbstironisch.

    Es gehört ja auch dazu, wenn die Protagonistin sich ihr Leben zurückerobert, dass sie in den DDR-Erinnerungen zu schwelgen beginnt, zu schwelgen im übertragenen Sinne, dass diese Erinnerungen sie heimsuchen, dass sie sie verarbeitet und wieder an ihren Platz rückt irgendwie.

    Es ist ja ihr Leben gewesen, es war ihre Prägung, die sie erhalten hat in der DDR und die kann sie ja nicht wegwischen, auch wenn sie jenseits des Jahres 200 an einem geplatzten Aneurysma erkrankt. Da geht ja die Vergangenheit nicht weg davon. Und sie muss sich ja praktisch ihrer Prägung wieder vergewissern, wenn sie wieder zu sich kommen will."