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Sprache wie im wirklichen Leben

Alison Louise Kennedy kreist in ihrem neuen Roman "Das Blaue Buch" um Gefühle wie Angst, Hass, Wut – aber auch Glück und Begehren. Stimmen mit unterschiedlichen Perspektiven kommen zur Sprache. Die Erste umgarnt den Leser gerade zu.

Von Maike Albath | 16.09.2012
    Es fängt alles ganz harmlos an. Harmlos und, ja, einschmeichelnd. Der Leser nimmt das Buch zur Hand. Es ist blau, eingebunden in Leinen, ohne Schutzumschlag, oben auf der rechten Ecke erkennt man ein Kreuzfahrtschiff, das am Horizont entlang gleitet. Der Titel ist wie ein Siegel in das Leinen eingeprägt: "Das blaue Buch" lautet er. Man dreht es hin und her, öffnet es, und schwupp, schon mit dem ersten Satz packt sie einen am Schlafittchen, diese großartige, maßlose Schriftstellerin A.L. Kennedy.
    "Aber hier ist es, das Buch, das du liest. Offensichtlich. Dein Buch – jetzt fängt es an, es ist berührt und aufgeschlagen. Du könntest es anheben, wenn du wolltest, überlegen, ob es wohl mehr wiegt als eine Taube, oder ein Turnschuh, oder wahrscheinlich ein gutes Stück weniger als ein Laib Vollkornbrot. Diese Möglichkeiten bietet es dir.
    Und natürlich schaust du es an. Deine Augen, deine Lippen sind ihm zugewandt – diese ganze Blässe, all diese Zeichen – du bist so dicht; wäre es ein Mensch, könntet ihr euch küssen. Das könnte unvermeidlich sein.
    Du kannst dich an Zeiten erinnern, als Küssen unvermeidlich war. Du bist schließlich nicht unattraktiv: nicht, wenn die Menschen dich verstehen, wenn sie verstehen, wer du sein kannst. Und du bist ein Leser – eindeutig – hier bist du und liest ein Buch, und dafür wurde es auch geschaffen. Es mag, wenn du es anschaust, dann erwacht es, dann hört es zu und spricht. Es wurde geschaffen, sich deiner Aufmerksamkeit zu erfreuen und sie zu erwidern: mit dem Klang, den es in dir auslöst."


    So beginnt also der neue Roman von Alison Louise Kennedy, der gebürtigen Schottin, die 1965 in Dundee geboren wurde. Wie in jedem ihrer Bücher kreist sie auch dieses Mal um hochgepeitschte Gefühlslagen: Angst, Hass, Wut, aber auch Glück und rauschhaftes Begehren. Die erste Stimme, die uns so wortreich umgarnt und auf das Unterfangen einschwört, wird bald abgelöst von einer Zweiten. Nach einer Weile lassen sich die verschiedenen Perspektiven zuordnen und entflechten. Zunächst lernen wir einen kleinen Jungen mit sehr blauen Augen kennen, der irgendwann in den 70ern-Jahren auf der Insel Sark lebt und etwa zehn sein muss. Ein sympathisches, fantasievolles Kind, ein bisschen versponnen und offenkundig ein Einzelgänger. Er liebt die karstige Natur, den Wind und das Meer. Allerdings zwingt ihn seine Mutter wie schon so oft zum Abschied, denn sie hält es nie länger an einem Ort aus. Vorher zerstört sie noch rasch den gesamten Hausrat. Auch das scheint der Junge gewöhnt zu sein – er nimmt es zur Kenntnis und schützt sich durch Rückzug. Dann macht A.L. Kennedy einen großen Sprung, der mehr als 30er-Jahre umfasst, und uns an einen Kai in Großbritannien katapultiert, wo gerade ihre zweite Hauptfigur darauf wartet, einen Ozeandampfer in Richtung New York zu besteigen. Sie heißt Elizabeth Caroline Barber, genannt Beth, und ist mit ihrem Freund Derek unterwegs. Sieben Tage wird die Überfahrt dauern.

    A.L. Kennedy benutzt Kursivschrift, um den inneren Monolog ihrer Heldin zu markieren. Beth ist von Zweifeln geplagt. Warum, um alles auf der Welt, hat sie sich auf dieses Wagnis eingelassen? Die mitteljunge Frau um die 40 wirkt humorvoll, sie stellt Überlegungen zum Effekt des In-der-Schlange-Stehens an. Man wandle sich automatisch zum Reaktionär. Ohne Schlange-Stehen hätte vielleicht sogar der Staatssozialismus überlebt. Auf einmal spricht sie ein Mann an. Eher unangenehm, scheint es. Groß, hager, blond, in maßgeschneidertem Anzug. Die Augen sehr blau. Er fordert sie auf, ein Zahlenspiel zu machen.

    "'Würden Sie sagen, Sie sind entschlossen, ein entschlossener Mensch? Wenn ich fragen darf…' Der Mann dreht den Kopf zu Derek und grinst, blitzschnell jungenhaft geworden, und entspannt seine Züge dann wieder. 'Ist die Dame entschlossen? Ich habe keine Ahnung, aber sie wirkt so – bewundernswert, wenn ich das sagen darf – darum frage ich – ich würde nicht fragen, wenn ich es nicht für wahrscheinlich hielte – Entschlossenheit zeigt sich im Gesicht – wie auch… Barmherzigkeit zum Beispiel – Freundlichkeit – Verrat, Trauer…'
    Er kann den Mund nicht halten. Er steckt darin fest, muss bis zum Ende weiterreden. Geplapper. Plappern gehört zum Handwerk, egal, was kommt. Ein Mann, der Quatsch auswendig lernt und ihn dann aufdrängt.
    'Sind Sie ihr Ehemann? Freund? Geht mich nichts an – aber eine reizende Idee, zusammen eine Kreuzfahrt zu machen. Gibt nichts Besseres, würde ich sagen.'
    Und der Fremde dreht sich mit einem Nicken wieder zu Elizabeth, stellt den Blick scharf, zwinkert, während er redet und redet, die Stimme leise, aber unausweichlich. Er reicht ihr das Buch und sagt: 'Entschlossenheit kann Sie verändern. Und sich selbst zu verändern, kann fast alles verändern. Glauben Sie das?' Kein Raum für ihre Antwort, denn gleich rasselt er weiter, 'Ich kann es beweisen. Gewissermaßen. Auf triviale, wenn auch vielleicht unterhaltsame Weise. Wenn Sie das Buch nehmen und fest genug an Ihre Zahl denken, an die sieben – wenn Sie die sieben in der Brust spüren, in Ihrem Puls, wenn Sie die Zahl im Kopf schreien – sie innerlich brüllen - dann wird diese sieben so wahr, dass ihr Kern, ihre Kraft unwiderstehlich ist – wenn Sie das tun und immer weiter tun, dann können Sie das Buch aufschlagen und zur Seite sieben blättern, und Sie werden sehen…'"

    Dieser Arthur Lockwood, wie der Mann heißt, ist eine merkwürdige Gestalt. Offenkundig handelt es sich um den kleinen Jungen vom Anfang des ersten Kapitels, und offenkundig kennen sich Beth und Arthur. Sie waren sogar einmal ein Paar. Geschickt operiert A.L. Kennedy auf mehreren, ineinander verschachtelten Erzählebenen und verzahnt die verschiedenen Perspektiven. Es gibt die Ebene der Gegenwart, die wie ein Rahmen die Handlung umspannt: die siebentägige Fahrt über den Ozean. Sie beginnt am Anfang des Romans und endet, wie zu erwarten, im vorletzten Kapitel mit dem Blick auf die Freiheitsstatue.

    Wie die Katze um den heißen Brei schleicht Beth tagelang um eine Wiederbegegnung mit Arthur herum, zu der es dann natürlich doch kommt. Die zweite Ebene ist die der Vergangenheit, die wiederum in mehrere Zeitschichten zerfällt: Wir treffen auf Beths und Arthurs gemeinsame Geschichte als Liebespaar; in Rückblenden blitzen außerdem ihre jeweiligen Kindheiten auf. Eine weitere Schicht bildet die kürzer zurückliegende Vergangenheit: Beths Beziehung zu Derek, die seit etwa einem Jahr andauert, außerdem Arthurs obskure Sitzungen mit wohlhabenden New Yorker Witwen, denen er in Séancen über ihre Trauer hinweg hilft. Arthurs Beschäftigung ist mehr als bizarr, hat aber in der angelsächsischen Literatur eine große Tradition und war unter den Dichtern des viktorianischen Zeitalters ein beliebter Zeitvertreib. Kennedys Kollegin Antonia Byatt erzählt in mehreren Romane davon.

    A.L. Kennedys Held tritt als Medium in Aktion und vermittelt den Kontakt zu Verstorbenen. Im Grunde ist Arthur Lockwood eine Art Seelenzergliederer, ausgestattet mit einer guten Intuition. Er nimmt Verdrängtes und Unbearbeitetes in seinem Gegenüber wahr, ahnt Stimmungen, kann durch den geschickten Einsatz von Ritualen sogar Traumatisierungen überwinden. Während Arthur zu Beginn seiner Karriere eher in schlecht gelüfteten Mehrzweckhallen vor großen Gruppen auftrat – damals ging ihm Beth auch auf der Bühne zur Hand – hat er sich mittlerweile auf hochexklusive Einzelbehandlungen spezialisiert. Er scheint vor allem ein geschickter Manipulator zu sein. Doch diese Details kommen erst nach einer Weile zum Vorschein, zunächst werden wir Zeugen des ersten Abends an Bord. Beths Verlobter Derek wird kurz nach der Abfahrt seekrank und verabschiedet sich für die nächsten Tage ins Bett. Umso mehr ist Beth den Gespenstern ihrer Vergangenheit ausgesetzt. Sie ist durch ihre Herkunft für alles Übersinnliche empfänglich, denn ihr Vater war Zauberer von Beruf, oder Illusionist, wie sie es lieber nennt. Schon als Kind war ihr diese Beschäftigung aber eher peinlich. Arthur lernte sie als Doktorandin auf einer Party kennen. Mit seinen eleganten Anzügen, den feinen Lederhandschuhen, der unnatürlichen Blässe und den überraschenden Bemerkungen über ihre geheimsten Wünsche drängte er sich ihr auf. Sie wehrte sich erst, konnte sich seinem Charisma aber schon bald nicht mehr entziehen. Seine Arbeit faszinierte sie, die Art und Weise, wie eine Verschmelzung mit fremden Menschen gelang. Diese Fähigkeit hat Arthur nach der Trennung von Beth perfektioniert. Besonders gut läuft es mit Peri Arpagian, einer New Yorker Millionärin.

    "'Kleidung, die zu Ihnen gehört, die Ihre Gestalt angenommen hat – Oberflächen, die ein klein wenig von Ihrer Persönlichkeit aufgenommen haben…'
    Ich sage nicht Aura. Habe ich nie gesagt, werde ich nie sagen. So einen Quatsch rede ich nicht. Mache ich nicht. Muss ich nicht. Ist auch so scheißschlimm genug.
    Und ich sage auch nicht Essenz. Und ich sage nicht Emanation. So einen Scheiß nehme ich nicht in den Mund.
    Peris Mund flüsterweit geöffnet, ihr Schrecken stumm, das Frösteln spürbar. Schlanke Dame, in den Dreißigern geboren, eine Zerbrechlichkeit und Offenheit, dass Arthur sie am liebsten umarmen, sie lachen sehen, mit ihr Jazz hören möchte, bis sie beide müde werden, und dann an der Bettkante sitzen und sie auf die Stirn küssen wie ein anständiger Sohn.
    Doch stattdessen mache ich das hier – ich hetze sie.
    'Wenn solche Dinge in unfreundliche Hände geraten – neidische, eifersüchtige, bösartige Hände – dann kann ein fähiger Leser Ihre Schwächen entdecken, kann mit Schadenszauber gegen Sie arbeiten.' Arthur macht eine Pause, bis sie ihn anschaut – ihr Blick flackert zwischen seinen Augen und Lippen hin und her – versucht zu entscheiden, wovor sie sich mehr verstecken muss. Und dann spricht er die drei kleinen, tödlichen Worte – 'Es tut mir leid.' Als wäre sie nicht mehr zu retten, auch nicht durch ihn.
    Es tut mir nicht leid. Ich bin ein Dreckskerl. Ein Arsch.
    Und dann wartet er.
    Eintausend und Arsch, zweitausend und Arsch, dreitausend und Arsch…
    Während sie leise weint – ein ordentliches kleines Mädchen weint in einem großen Haus – und sie schaut zu ihm herüber, als wäre sie albern und wäre lieber tapfer und…"

    Arthur lässt Peri vorsichtig zusammenbrechen, um sie anschließend wieder aufzurichten und ihr zu versprechen, alles in Ordnung zu bringen. Gegen Bezahlung, versteht sich. Ein Allmachtsgefühl scheint ihn zu beherrschen, als sei er Gott und könne die Menschen lenken – was ihm oft auch gelingt. Kaum auszuhalten sind A.L. Kennedys Schilderungen einer Behandlung, die ihr Held einem Gewaltopfer aus einem afrikanischen Bürgerkriegsland zukommen lässt, einer Frau, die Mann und Sohn verlor und selbst vergewaltigt und verstümmelt wurde.

    Arthur scheint von einer Mission getragen, denn für diese mehrtägige Sitzung nimmt er kein Geld. Das Sujet der Totenbeschwörungen ist, wie manchmal bei Kennedy, auf den ersten Blick schräg und befremdlich. Aber genau darin liegt die große Kunst dieser Schriftstellerin: Sie macht etwas daraus, das uns vollends in den Bann schlägt, erzählt die Erfahrungen aus ihren Figuren heraus und lässt den Leser eintauchen in die Innenwelten von Arthur und Beth. Im Grunde dringen wir genauso in Kennedys Helden ein, wie Arthur in seine Klienten. Kennedys Umgang mit ihrem Personal ist beeindruckend: Selbst Nebenfiguren gewinnen im Handumdrehen Prägnanz. Man sieht die New Yorker Witwe förmlich vor sich, genauso wie ein britisches Ehepaar, mit dem sich Beth im Speisesaal des Schiffes anfreundet. Sie sind der Inbegriff dessen, was man nice people nennen würde, und Kennedy charakterisiert die älteren Herrschaften ohne jede Spur von Herablassung: die markigen und mitunter zotigen Sprüche des Gatten, die lila Hosenanzüge der zerbrechlichen Frau.

    Einfühlsam fördert Kennedy an verschrobenen Menschen liebenswerte Eigenschaften zutage, außerdem besitzt sie ein großes mimetisches Talent. Wie kaum eine andere Autorin ihrer Generation weiß die schottische Schriftstellerin Grenzerfahrungen in Sprache zu fassen, ohne dass es etwas Voyeuristisches bekäme. In jedem ihrer Bücher tauchen Strauchelnde und Gescheiterte auf, Sexsüchtige und Selbstmordkandidaten, Gefühlsextremisten, Sektenanhänger, Gewaltopfer. Arthur und Beth passen in diese Galerie. Der Gegenstand der Zauberei und Magie lässt sich aber auch noch anders deuten: Im Grunde findet die Autorin hier eine Metapher für das Erzählen selbst. Auch deshalb ist schon im ersten Kapitel des "Blauen Buches" vom Buch selbst die Rede, auch deshalb wird es zwischendurch thematisiert und taucht in der Schlusscoda erneut auf. Erzählen ist bei Kennedy ein heilender Prozess. Formal ist die Autorin auf der Höhe ihres Stoffes. Einerseits entwirft sie eine regelrechte Partitur aus den verschiedenen Stimmen, Blickwinkeln und Perspektiven, die sie ineinander blendet und kunstvoll verwebt. Dazwischen tauchen die inneren Monologe von Beth und Arthur auf, vom Fließtext durch Kursivschrift abgesetzt, und dann gibt es noch Akzente durch Begriffe im Fettdruck. Immer wieder nimmt einen die Sprache Kennedys gefangen: Sie braucht nur wenige Sätze, um so etwas wie Schönheit zu erzeugen. Es ist ein echtes Sprachgeschehnis.

    "Elizabeth kehrt ans Geländer zurück, sieht das Meer um sie herum Hügel aufwerfen, in Spalten aufreißen, Bruchlinien bilden, als wäre das Schiff in eine Schüssel aus schwarzem Glas gesperrt und würde unablässig gegen eine solche gläserne Höhe und Tiefe anhämmern."

    Das syntaktische Gewebe ist mal komplex und ausufernd, dann wieder prasseln kurze Sätze auf uns ein, knappe Dialoge. Wie im wirklichen Leben zerfließen diese Gespräche aber auch, sind von Ähs und Verzögerungen durchlöchert, spiegeln die Stimmung der Beteiligten, die böse oder traurig sind, Dinge nicht deutlich aussprechen wollen und sie umso deutlicher untergründig mitteilen. Kennedy traktiert die Sprache wie ein Tischtennisspieler seinen Ball, schlägt sie vor und zurück und lässt sie durch die Luft springen, denn auch auf der Mikroebene hat die Autorin viel zu bieten. Es wimmelt von überraschenden Vergleichen. Beth schmuggelt ihren Mantel mit aus der Kabine "wie eine zerknüllte Schande". Ein Windstoß springt sie an "wie ein großer Hund" und die blanke Luft "schreit, singt, weint, wiegt sie hin und her".

    An einer anderen Stelle fühlt sich Beths Kabine so an wie Dereks Schädel, "der von innen her glatt gerieben wird – abgestanden wie ein Kaninchenstall", heißt es. Seelische Befindlichkeiten spiegeln sich in Personifikationen. Der Wind "zerzaust Geräusche", sodass sie "unzuverlässig" klingen. Die Stille ist "brodelnd", das Wetter "wirft" sich auf dem Balkon herum. Dass diese Bilder auch auf Deutsch wirken, liegt allein an ihrem einfallsreichen Übersetzer Ingo Herzke, der für Kennedy eine federnde, plastische und zupackende Sprache erfindet. "Das blaue Buch" entwickelt eine große Spannung, und das hängt auch mit der schwierigen Liebe zwischen Beth und Arthur zusammen. Am vierten Tag der Überfahrt streckt Beth die Waffen. Während ihr Freund Derek marode das Bett hütet, sucht Beth Arthurs Suite auf.

    "Arthur hat sich in sich selbst eingerollt, Ellbogen und Knie scharf angewinkelt, die langen Füße untergeschoben, weg von ihr, in seiner Miene liegt etwas entfernt Verschrecktes, und sie möchte überhaupt nicht, dass er verschreckt ist – und er fährt fort. 'Du weißt ja, dass ich nicht schlafe. Hat gar nichts mit dem Gewissen zu tun, rein physiologisch – ich schlafe tatsächlich mehr, wenn ich arbeite – entschuldige – aber sie fordert allmählich ihren Tribut, die Schlaflosigkeit – denn irgendwann muss ich ja wieder schlafen, aber ich kann es noch nicht, nicht so richtig, und das Problem ist – abgesehen von allem anderen – dass ich manchmal träume, und du kommst darin vor – also vermeide ich das Schlafen, weil ich das Träumen vermeiden will – tut mir leid, aber so ist es – aber du bist da, wenn ich einschlafe, und das will ich. Glaube ich. Aufwachen ist schlimm, weil das heißt, dass du gehst, aber ich glaube, ich will es – das Träumen. Ich weiß also nicht genau, wieso ich es festzuhalten versuche… das letzte Mal habe ich dich auf den Hals geküsst, das ist alles, woran ich mich erinnere… ich kann nicht… äh… Ich kann nicht mehr, was wir immer zusammen gemacht haben. Ich kann nicht. Die Treffen ab und zu.' 'Ich weiß'. 'Es ist nicht… ich kann es nicht.' 'Ich weiß.' 'Scheiße, dann hilf mir!' Der Anfang geschrien, doch dann wird er wieder leiser. 'Hör auf, mich rum zu schubsen.'"

    Es dauert eine Weile, bis die beiden richtig miteinander sprechen können und dann schließlich dort landen, wohin sie sich die ganze Zeit sehnen - im Bett. A. L. Kennedy kann nämlich noch etwas: über Sex schreiben. Ihr gelingen Szenen, in denen es ordentlich zur Sache geht, ohne je ins Billige abzurutschen. In einer Welt der softpornografischen Dauerberieselung ist das bemerkenswert. Liebe und Sexualität entwickeln in ihren Büchern oft etwas Mystisches. Vor allzu großem Erlösungspathos rettet sie aber ihr tiefschwarzer Humor. Der Schluss des Buches ist dann endgültig ein Beleg für Kennedys Könnerschaft. Es ist das schwarze Herz des Romans, der Punkt, an dem sich noch einmal alles wendet und man alle Figuren unter einem anderen Vorzeichen betrachtet. Auch deshalb darf er hier keinesfalls verraten werden. Jeder muss diesen Erkenntnisprozess durchlaufen, genau wie Arthur. Dann gibt es vielleicht noch einen Funken Hoffnung. Zum Beispiel auf Liebe.

    Alison Louise Kennedy, "Das blaue Buch". Roman. Aus dem Englischen von Ingo Herzke. Carl Hanser Verlag München 2012, 365 Seiten