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Sprachstörung bei jedem dritten Kind

Im Alter von fünf oder sechs Jahren sollte ein Kind halbwegs korrekt sprechen können. Laut einer Studie des Instituts für Sozialmedizin in Hannover ist das bei jedem dritten Kind nicht der Fall. Thomas Grobe ein Autor der Erhebung wünscht sich bei der Diagnose Sprachstörung, dass die Eltern gelassener bleiben.

Thomas Grobe im Gespräch mit Manfred Götzke | 01.02.2012
    Manfred Götzke: Mit fünf, sechs Jahren sollte ein Kind halbwegs korrekt sprechen können, die Laute beherrschen und auch Sätze ohne grobe Grammatikfehler bilden können. Jedes dritte Kind kann das nicht. Das hat jedenfalls das Institut für Sozialmedizin in einer Erhebung rausgefunden. Die Forscher haben dafür zusammengetragen, wie oft Sprachstörungen von Kinderärzten diagnostiziert werden. Thomas Grobe ist einer der Autoren der Studie. Herr Grobe, was heißt das denn nun, Sprachstörung? Wächst da eine Generation auf, die sich nicht mehr richtig verständigen kann?

    Thomas Grobe: Nach unseren Zahlen sehen wir eindeutig, dass auf jeden Fall ein erheblicher Teil der Kinder zwischen 0 und 14 Jahren mit dieser Diagnose umschriebene Entwicklungsstörungen des Sprechens und der Sprache konfrontiert ist. Wenn man das auf die bundesdeutsche Zahl der Kinder hochrechnet, kommen wir darauf, dass interhalb eines Jahres circa 1,1 Millionen der Kinder so eine Diagnose kriegen.

    Götzke: Was bedeutet denn diese Diagnose, also wie prägen sich diese Störungen aus?

    Grobe: Dazu gehören Artikulationsstörungen, sprich, dass bestimmte Laute nicht gesprochen werden können, dass Kinder Silben verwechseln, Laute verwechseln in Worten, das kann ganz unterschiedlich sein. Es dreht sich im Prinzip um Sprech- und Sprachstörungen, die dabei aber explizit nicht mit einer körperlichen oder geistigen Behinderung oder Einschränkung einhergehen.

    Götzke: Es könnte also auch sein, dass große Teile dieser 30 Prozent der Kinder vielleicht einfach nur ein halbes Jahr in der Entwicklung hinterherhinken?

    Grobe: Das ist sicherlich ein generelles Problem bei den Sprech- und Sprachstörungen, dass die Diagnose insbesondere in frühen Stadien nur relativ schwer abzugrenzen ist.

    Götzke: Haben die Ärzte denn klare Kriterien dafür, wann eine Sprechstörung vorliegt und wann ein Kind vielleicht eben nur ein halbes Jahr oder ein paar Monate oder ein Jahr in der Entwicklung hinterherhinkt?

    Grobe: Ich denke, es ist allgemein akzeptiert, dass die Abgrenzung zwischen einer normalen Sprachentwicklung, einer leicht verzögerten Sprachentwicklung und wirklich einer behandlungsbedürftigen Sprachentwicklung ausgesprochen schwierig ist. Umso schwieriger, je früher man es eigentlich diagnostizieren will.

    Götzke: Sie haben ja keine Langzeit- oder Reihenstudie gemacht, sondern jetzt das erstmalig untersucht. Aber was ist Ihr Eindruck? Sie haben es ja gerade schon so ein bisschen angedeutet. Sind die Sprachkompetenzen der Kinder schlechter geworden oder sind Eltern und vor allem Ärzte einfach sensibler geworden für dieses Thema?

    Grobe: Was wir in älteren Daten sehen können, ist, dass sicherlich die Diagnose heutzutage häufiger dokumentiert wird. Was sich vermuten lässt, ist, dass eben im Kontext der veränderten Bedingungen, sprich, eines höheren Anteils von Migranten und auch weniger Zeit auch in der Familie, dass möglicherweise solche Probleme auch stärker zutage treten.

    Götzke: Aber so richtig kann man es nicht sagen, also dass es tatsächlich zugenommen hat?

    Grobe: Es lässt sich vor dem Hintergrund vermuten, aber belegen kann ich es Ihnen nicht.

    Götzke: Es scheint vor allem aber auch so ein bisschen Hysterie im Spiel zu sein. Was würden Sie den Eltern raten, deren Kinder die Diagnose sprachgestört oder entwicklungsverzögert bekommen? Ruhig bleiben?

    Grobe: Für uns stellt sich ja dabei dann auch erst mal noch die Frage, von wem geht eigentlich die Initiative aus? Kommen eher besorgte Eltern zu den Ärzten oder kommt die Diagnose direkt vom Arzt? Was ich mir auf jeden Fall bei manchen Eltern wünschen würde, ist ein bisschen mehr Gelassenheit im Hinblick auf die Beobachtung der Entwicklung ihrer Kinder, wenn man sich die Zahlen anschaut und vermuten kann, dass so eine Diagnose fast die Hälfte aller Jungen mal bis zur Einschulung bekommt, kann man ja auch vor dem Hintergrund schonfast behaupten, dass so eine Diagnose normal wäre. Was ich mir weiter wünschen würde, wäre einfach mehr Zeit zum Sprechen in der Familie, und möglicherweise dann eben in der ärztlichen Praxis noch trennschärfere Kriterien für die Vergabe dieser Diagnosen.

    Götzke: 20 Prozent der Jungen in diesem Alter sind entsprechend in logopädischer Behandlung, was ja auch eine enorme Zahl ist. Vor ein paar Jahrzehnten haben Zahnärzte begonnen, bei fast jedem Kind Kieferfehlbildung festzustellen und Kindern eine Zahnspange verpasst. Ist die vermeintliche Sprachstörung ein ähnliches Phänomen und der Logopäde der neue Kieferorthopäde?

    Grobe: Das lässt sich von außen relativ schwer beurteilen. Ich denke, wenn man diese logopädischen Behandlungsraten sich anschaut, muss man halt überlegen: Bestehen möglicherweise Probleme, dass bestimmte Kinder, die es eigentlich nicht benötigen, auch logopädische Behandlung erhalten, und wird dadurch eventuell Kindern, die es wirklich nötig hätten, werden denen dadurch Ressourcen entzogen, die bei denen, die es wirklich nötig hätten, auch eine intensivere logopädische Behandlung wünschenswert erscheinen lassen würden?

    Götzke: Also eher mal ruhig bleiben, wenn der Kinderarzt Sprachstörungen diagnostiziert. Thomas Grobe hat zusammengetragen, wie häufig das vorkommt, vielen Dank!


    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.