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Sprechen gegen das Sterben

Atiq Rahimi ist die literarische Stimme Afghanistans in der westlichen Welt. Für "Stein der Geduld" erhielt Rahimi im vergangenen Jahr den Prix Goncourt.

Von Imogen Reisner | 07.01.2010
    Eine Frau spricht. Eine Ehefrau. Sie sitzt am Bett ihres schwerverletzten Mannes, von dem sie nicht weiß, ob er sie hört. Sie spricht in die Stille hinein. Es ist das erste Mal, dass sie über ihre Ehe spricht. Sie beginnt, zögernd, von der Beklemmung, von der Angst zu erzählen, die sie damals, vor ihrer ersten leibhaftigen Begegnung mit ihrem Mann, verspürte.

    " Na ja, stell dir mal vor, fast ein Jahr lang verlobt und drei Jahre lang mit einem abwesenden Mann verheiratet zu sein, das ist nicht so einfach!
    Ich lebte mit deinem Namen.
    Ich hatte dich zuvor noch nie gesehen,
    noch nie gehört,
    noch nie berührt. "

    Atiq Rahimi führt seine ahnungslosen Leser über ein Minenfeld: Ohne Argwohn blättert man die ersten Seiten in dieser harmlos einsetzenden Geschichte um.

    Ein Schauplatz wird besichtigt. Ein unwirtliches, schmuckloses Zimmer in einem schlichten, von Geschossen versehrten Einfamilienhaus. Hier, in diesem namenlosen Dorf im Krieg, leben ein Mann und eine Frau mit ihren zwei Töchtern.

    Unspektakulär wie der Auftakt kommt auch der Titel daher: "Stein der Geduld".
    An Meditationsübungen denkt man spontan. An Ruhe, Bedächtigkeit:
    "Stein der Geduld". Doch es ist alles andere als friedvolle Stille, was den Leser in diesem dicht gewebten Kammerspiel, den Szenen einer Ehe und den Szenen eines Krieges, erwartet.

    Ist man erst einmal vorangeschritten in diesem kargen, tonlosen Monolog einer Frau "irgendwo in Afghanistan oder anderswo", wie uns der Autor eingangs informiert, so explodieren plötzlich unvermutete Sprengkörper im Text. Es sind Wahrheiten, Offenbarungen, die der Leser auf den überschaubaren einhundertsechsundsiebzig Seiten über ein Frauenschicksal im heutigen Afghanistan niemals erwartet hätte: Brechts "Unwürdige Greisin" entpuppt sich bei Atiq Rahimi als unwürdige Gattin in der Burka.

    Je dichter man ins Herz der Erzählung vorstößt, desto stärker die Detonationen. Hier wird die Vertreibung aus dem Paradies, der Verlust der Unschuld, in Gestalt explosiver Enthüllungen verhandelt, die dem Leser und der Leserin tief unter die Haut dringen. Da ist der Mann, ein schwer verwundeter, tief in seiner Ehre verletzter Krieger, der nicht sterben kann. Kontrapunktisch positioniert seine Frau, die, wie von magischer Hand, an den versehrten Körper, an die Wunden des Mannes gefesselt scheint: Er darf nicht sterben, solange sie nicht gesprochen hat. Er ist ihr seng-e-sabur, ihr Stein der Geduld.

    Bevor sie die zermürbende Realität des um ihr Haus tobenden Krieges meistern kann, muss die Frau ihrer eigenen Wahrheit, der bittersüßen Realität als Opfer wie auch als Täterin ins Gesicht sehen. Sie muss einen schmerzvollen Weg in die Vergangenheit zurücklegen. Denn die Geschichte ihrer Demütigungen und Verletzungen als Ehefrau reicht weit zurück in die Kindheit, in die Zeit, als die Frau eine junge Tochter war.

    " Mein Vater interessierte sich nur für seine Wachteln, seine Kampfwachteln!
    Ich habe oft gesehen, wie er die Wachteln liebkoste, aber nie meine Mutter oder uns, seine Kinder. Wir waren zu siebt. Sieben Mädchen, ohne jede Zärtlichkeit. (...)
    Er war so stolz auf seine Wachteln. Einmal, als es eiskalt war, habe ich sogar gesehen, wie er eine von ihnen in seine Hose, in seinen kheshtak steckte!
    Ich war noch klein.
    Danach habe ich lange geglaubt, die Männer hätten nur eine Wachtel zwischen den Beinen. "

    Atiq Rahimi ist die literarische Stimme Afghanistans in der westlichen Welt. Sie wird begeistert aufgenommen und mit Anerkennung belohnt. Für "Stein der Geduld" erhielt Rahimi im vergangenen Jahr den Prix Goncourt. Der in Kabul geborene Autor und Dokumentarfilmer lebt heute im französischen Exil. Drei Bücher von ihm wurden bislang ins Deutsche übersetzt. Sie erzählen ausnahmslos vom Krieg. Vom Krieg zwischen Landesgrenzen, vom Bürgerkrieg und vom Krieg zwischen den Geschlechtern. Was Rahimi unter dem Brennglas seines kritisch-dokumentarischen Blicks seziert, ist gezeichnet von zerstörerischer Gewalt. Seine Geschichten sind stets an Orten des Leidens angesiedelt, und der Schmerz ist ihnen wie ein Brandmal eingeschrieben. Dennoch strahlen sie eine starke poetische Kraft aus, die sich aus einer einfachen, aber präzisen Sprache speist. Sie reflektiert die archaischen Bilder der afghanischen Schauplätze und lebt - im vorliegenden Fall - auch von der eindrücklichen Metaphorik traditioneller persischer Poesie. Gleichwohl ist der Erzähler in "Stein der Geduld" lediglich Chronist. Er kommentiert nicht, noch bewertet er. Er beschreibt lediglich. Sparsam und schonungslos.

    Rahimis jüngstes Werk hat die Gestalt und die Durchschlagskraft einer griechischen Tragödie. Einziger Schauplatz, Kulminationspunkt und Schlussakkord, ist jenes kahle Zimmer, das an Trostlosigkeit exakt dem Quäntchen Leben entspricht, das dem lebensgefährlich verletzten Antagonisten noch verblieben scheint, ein Mensch, von dem es heißt, nur noch die Haut sei von ihm übrig.

    In diesem unwirtlichen Raum fallen die Entscheidungen über Leben und Tod, von denen uns Atiq Rahimi in "Stein der Geduld" erzählt. Dabei gilt seine besondere Aufmerksamkeit den Frauen seines Heimatlandes, die inmitten der deprimierenden politischen Verhältnisse und der überkommenen gesellschaftlichen Strukturen die größte Last, aber auch die leuchtenden Stäbe der Hoffnung tragen. Die Intensität von Rahimis Bildern und die Kraft seiner Symbolsprache gründen in letzter Konsequenz in dem Glauben seiner Protagonisten an die Liebe und an die Macht der Worte, die Hass und Gewalt überwinden können.

    Atiq Rahimi, Stein der Geduld. Roman.
    Ullstein Verlag, Berlin 2009. Aus dem Französischen von Lis Künzli,176 Seiten;18 Euro