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Sprechgewandt dank Spätentwicklung

Paläoanthropologie. - Paläontologie ist die Kunst, aus wenigen Kochen weitreichende Theorien abzuleiten. Und das ist nicht ironisch, sondern ganz positiv gemeint. Weil es so wenige Skelette und Schädel von Australopithecus, Homo und Co gibt, muss aus jedem einzelnen Fund möglichst viel Information abgeleitet werden. Ein gutes Beispiel dafür ist eine Arbeit, die heute in der Wissenschaftszeitschrift "Nature" erschienen ist. Forscher vom Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie in Leipzig haben einen 1,8 Millionen Jahre alten Kinderschädel untersucht und damit Licht auf die menschliche Evolution geworfen.

Von Volkart Wildermuth |
    Die Insel Java ist ein wichtiger Fundort für die Knochen unserer entfernteren Vorfahren. Neben vielen anderen Fossilien grub Gustav Heinrich Ralph von Koenigswald 1936 in Modjokerto einen Kinderschädel aus, seine Geheimnisse enthüllte aber erst jetzt die Computertomographie. Der Schädel gehörte einem Homo erectus, einem Frühmensch mit schon relativ großem Gehirn und aufrechtem Gang. Vor 1,8 Millionen Jahren entwickelte sich der Homo erectus in Afrika. Er konnte sich über viele Hunderttausende von Jahren halten und bis nach Südostasien und nach Europa ausbreiten. Dieser besondere Erfolg gründete sich auf besondere Fähigkeiten: der Homo erectus verwendete Steinwerkzeuge, konnte mit Feuer umgehen und war in der Lage, große Treibjagden zu veranstalten. Doch trotz dieser Leistungen des Homo erectus ist Professor Jean-Jaques Hublin vom Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie in Leipzig davon überzeugt, dass der moderne Menschen, der Homo sapiens, eine höhere geistige Stufe erreicht hat:

    Was den Menschen zu etwas Besonderem macht, sind weniger seine technische Geschicklichkeit, sondern eher seine sozialen Fähigkeiten und sein symbolischer Verstand, der es ihm erlaubt, sich in die Zukunft und die Vergangenheit hineinzuversetzen. Und das entwickelte sich offenbar recht spät im Lauf der Evolution.

    Was fehlte dem Homo erectus, das den Homo sapiens geistig beflügelte? Es ist vor allem Zeit, Zeit für die Entwicklung seines Gehirns, das belegt jetzt der Kinderschädel von Modjokerto. Jean-Jaques Hublin konnte mit Hilfe der Computertomographie seine Inneres genau untersuchen.

    Mit Hilfe dieser medizinische Technik konnten wir erstmals die Größe des Gehirns dieses Fundes bestimmen. Das ging bislang nicht, da der Schädel mit Sedimentgestein gefüllt ist und nicht geleert werden kann. Außerdem ermöglichen es uns diese Methoden, eine Reihe innere anatomische Details des Schädels zu vermessen und so das Alter des Kindes zu bestimmen.

    Die noch kaum verknöcherten Fugen im Schädel von Modjokerto zeigen, dass dieses Homo erectus-Kind wohl im Alter von nur einem Jahr starb. Sein Gehirn war aber schon fast so groß, wie das eines erwachsenen Homo erectus. Das legt nahe, dass der Homo erectus, genau wie heute die Menschenaffen, mit schon fast ausgewachsenem Gehirn zur Welt kamen. Ganz im Gegensatz zum modernen Menschen, dessen Gehirn noch Jahre nach der Geburt an Größe zunimmt. Für dieses verzögerte Wachstum des kindlichen Gehirns gibt es zunächst einen ganz praktischen Grund: das menschliche Gehirn ist schlicht zu groß. Hätte ein Baby ein schon fast fertig ausgebildetes Gehirn, würde sein großer Schädel im engen Geburtskanal stecken bleiben. Wegen dieser anatomischen Beschränkung kann das menschliche Gehirn also erst nach der Geburt so richtig wachsen. Und das hat eine wichtige Konsequenz, die weit über die Anatomie hinausreicht, meint Jean-Jaques Hublin:

    Das menschliche Gehirn entwickelt sich außerhalb des Mutterleibs. Die Verknüpfungen zwischen seinen Nerven entstehen zu einem Zeitpunkt, an dem das Kind bereits von der Umwelt angeregt, an dem es bereits mit anderen Menschen Kontakt hat, an dem es sprechen lernt. Wir glauben heute, dass diese verzögerte Gehirnentwicklung mit dem Entstehen des menschlichen Verstandes und seiner Sprachfähigkeit zusammenhängt. Das war nicht möglich, als das Gehirnwachstum noch wie bei den Menschenaffen verlief.

    Das menschliche Gehirn entsteht in der Auseinandersetzung mit der sozialen Umwelt. Anders beim Schimpansen und, das zeigt jetzt der Schädel vom Modjokerto, wohl auch beim Homo erectus. Bei ihnen wurden beispielsweise Rufe und andere Signale von bei der Geburt weitgehend festgelegten Nervenschaltkreisen verarbeitet. Mit den Feinheiten einer komplexen Sprache war das Gehirn des Homo erectus damit wohl überfordert. Dagegen kann die menschliche Sprache die Verknüpfungen in den zunächst noch unfertigen Gehirnarealen des Kindes mit beeinflussen und so regelrechte nervliche Grammatikzentren entstehen lassen. Gerade die verzögerte Entwicklung des menschlichen Gehirns erlaubt es ihm, ungleich komplexere Aufgaben zu übernehmen. Deshalb, davon ist Jean-Jaques Hublin nach der Analyse des Kinderschädels von Modjokerto überzeugt, war erst der Homo sapiens und nicht schon der Homo erectus fähig zu symbolischem Denken und einer komplexen Sprache .