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"Sprengt die Ketten"

Der Abschaffung der Sklaverei hat der US-amerikanische Publizist Adam Hochschild ein neues und umfangreiches Buch gewidmet. "Sprengt die Ketten" heißt es und erzählt von einer kleinen Gruppe britischer Aktivisten, Quäker zumeist, die am Ende des 18. Jahrhunderts eine Kampagne zum Verbot des Menschenhandels initiierten. Eine Rezension von Jochen Stöckmann

Moderation: Karin Beindorff | 29.10.2007
    "Sprengt die Ketten" nennt der Journalist Adam Hochschild sein Buch über den Kampf gegen die Sklaverei im ausgehenden 18. Jahrhundert. Auch ohne Ausrufungszeichen ist dieser Titel als Aufforderung zu verstehen, wird nicht erst am Ende einer packend in Szene gesetzten, auf blutrünstige Details und skandalöse Fakten des Menschenhandels fokussierten Lektüre deutlich: Dies ist keine wissenschaftliche Analyse, keine historische Darstellung, sondern eine Handlungsanweisung, ein Vademecum für Menschenrechtsinitiativen, Umweltbewegungen oder Dritte-Welt-Kampagnen. Die Kriegsschiffe hatten zwar nur Segel und waren aus Holz, werden aber als "Massenvernichtungswaffe" beschrieben. Und ein französischer General, der im Kampf gegen die aufständischen Sklaven von Santo-Domingo Schwefel verbrennen lässt, erfindet für Hochschild "die erste Gaskammer der Geschichte". Darum also sollen wir, die Kinder des 20. Jahrhunderts, uns ein Beispiel nehmen an jenen zwölf Honoratioren - englischen Pfarrern, Anwälten und Parlamentariern - die im Mai 1787 in einer Londoner Druckerei die Abschaffung des weltweiten Sklavenhandels, den "Abolitionismus" ins Werk setzten. In einer schier aussichtslosen Situation:

    "Von Senegal bis Virginia, von Angola bis Brasilien war der Atlantik ein riesiges Fließband zum frühen Tod auf den Plantagen. Latente Gefühle lagen in der Luft, aber ein unterschwelliges intellektuelles Unbehagen angesichts der Sklaverei war nicht gleichzusetzen mit der Überzeugung, es könne jemals etwas daran geändert werden. Als Analogie zur heutigen Zeit ließe sich die Einstellung mancher Bürger zum Auto nennen. Aus Gründen der Klimaerwärmung, der Luftqualität, des Verkehrs, des Lärms und der Abhängigkeit vom Erdöl würde die Welt ohne Autos doch weit besser fahren. Doch macht sich irgend jemand für eine Bewegung stark, die sich zum Ziel setzt, das Automobil vom Erdboden zu verbannen?"

    Ökonomische oder politische Gründe, auch Sympathie für die Ideen der Aufklärung oder die Ziele der Französischen Revolution kann Hochschild bei seinen zwölf Aufrechten, einem ehemaligen Sklavenhändler, dem reichen Exzentriker Granville Sharpe oder einem eher konservativen Abgeordneten wie William Wilberforce nicht ausmachen. Zumeist Quäker oder extrem rechtgläubige Evangelikale folgen sie weniger einem Freiheitsideal als ihrer Empörung über die moralische Verderbtheit einer durch und durch am Geld orientierten Welt. Aber nicht auf die Motive kommt es an, sondern darauf, dass unter Leitung des umtriebigen, zu Pferd und mit der Postkutsche durch ganz England eilenden Aktivisten Thomas Clarkson innerhalb von wenigen Jahrzehnten realisiert wurde, was sich wenige Einzelgänger in den Kopf gesetzt hatten.

    Aus dem kleinen Zirkel heraus wird ein Netzwerk gesponnen, die öffentliche Meinung mobilisiert. Nicht nur mit Büchern und Broschüren, auch mit dem ersten "Button" in der Mediengeschichte: Der Porzellanfabrikant Wedgwood lässt ein Briefsiegel entwerfen mit einem Afrikaner in Ketten und der Inschrift "Bin ich nicht ein Mensch und Bruder?" Das Motiv findet massenhaft Verbreitung als Medaillon, auf Tabakdosen oder Manschettenknöpfen. Und Hochschild, der im Werbefeldzug der Abolitionisten "eine Kampagne ohne Beispiel in der Geschichte der Menschheit" erkennt und ganz pauschal von der "größten aller Menschenrechtsbewegungen" schwärmt, wartet ausnahmsweise mit einer kulturgeschichtlichen Interpretation auf:

    "Die Haltung der Abolitionisten gegenüber den Sklaven ist in Wedgwoods Siegelentwurf vielleicht am besten zusammengefaßt. Der Afrikaner mag ein "Mensch und Bruder" gewesen sein, aber er war eindeutig ein jüngerer und dankerfüllter Bruder, eine Kniender, kein Rebell. Zu einer Zeit, als Mitglieder der britischen Oberschicht nicht einmal beim Gebet in der Kirche das Knie beugten, ist das Bild des flehenden Sklaven Ausdruck eines Kreuzzugs, dessen Führer sich als Beistand der Unterdrückten, doch nicht als Kämpfer für gleiche Rechte aller verstanden."

    Wider diese bessere Einsicht lässt Hochschild die Abolitionisten in seiner Nummernrevue aus historischen Zitaten und stimmungsvollen Impressionen von den karibischen Originalschauplätzen als - so wörtlich - "Prototyp der heutigen Bürgeraktivisten" auftreten. Und die in England anfangs noch sehr mächtige Pflanzer- oder Sklavenhalterlobby als Beispiel für eine "Industrie unter Beschuß":

    "Das vulgäre Volk läßt sich beeinflussen von Namen und Bezeichnungen", gab ein Schriftsteller im Dienst der Lobby zu bedenken und riet: "Nennen wir die Neger doch nicht mehr 'Sklaven‘, nennen wir sie 'Pflanzer-Assistenten‘, und wir werden nicht mehr erleben, dass sich fromme Theologen, gutherzige Dichterinnen und kurzsichtige Politiker über den Sklavenhandel erregen."

    Auf diese Wortverdreherei reagierten die Gegner des Sklavenhandels mit einem schlichten, einprägsamen Bild. Es zeigte, tausendfach verbreitet, den Grundriss des Sklavenschiffes "Brooks". Jahrelange Recherchen, oft unter Lebensgefahr, waren kondensiert in nüchternen und unwiderleglichen Zahlen und Maßen der engen, von Ausdünstungen und Exkrementen überzogenen Käfige, in denen die aneinander gekettete "Ware Mensch" übers Meer transportiert wurde. Selbst der russische Zar, Herr über Millionen von Leibeigenen, war gerührt und sprach sich 1815 nach der Niederlage Napoleons gegen die Fortführung des Sklavenhandels aus - zumindest, was die französischen Kolonien betraf.

    Diese Doppelzüngigkeit war kein Privileg der Despoten: Englische Volksvertreter, Abgeordnete oder Bürgermeister, hatten das für ihr Amt notwendige Vermögen mit Zuckerimport, also durch Sklavenhaltung erworben. Der Philosoph John Locke legte ebenso selbstverständlich wie sein französischer Kollege Voltaire Geld im Sklavenhandel an. Und die Codrington-Plantage auf Barbados war im Besitz der Anglikanischen Kirche:

    "Den Geistlichen im leitenden Ausschuss der Missionsgesellschaft blieb die hohe Sterblichkeit auf der Plantage nicht verborgen, aber sie machten keinen Versuch, die Betriebsführung zu ändern. 'Es gibt mir seit langem zu denken und Anlass zur Klage, wie die Neger in unseren Plantagen sich vermindern und beständig neuer Nachschub notwendig wird', schrieb der Erzbischof von Canterbury 1760 an einen bischöflichen Kollegen. 'Die Ursache dahinter ist mit Gewissheit ein Mangel an Humanität und sogar an Vernunft. Aber wir müssen die Dinge nehmen, wie sie derzeit sind'."

    Eherne Verhältnisse also, verfestigt durch abendländische Denker von Aristoteles bis Adam Smith. Zumindest in Hochschilds Lesart, der seine belletristisch ausufernde Darstellung in ihrer geschwätzigen Fülle von Details über Kleidung, Eßgewohnheiten oder Liebesleben der Abolitionshelden mit Zitaten aus zweiter Hand verziert - nicht mehr. Denn in dieser spektakulären Inszenierung, bei der am Ende allein Reklame und Rummel für den moralisch guten Zweck den Sieg erringen, dürfen weder der griechische Philosoph noch der englische Wirtschaftsliberale ein Ende der Sklaverei voraussehen. Und so unterschlägt dieser bewusst unakademische Leitfaden für erfolgreiche Kampagnen eben auch, dass Adam Smith seinen Anhängern, darunter dem Premierminister Pitt, lange vor Abschaffung der Sklaverei ins Stammbuch schrieb:
    "Die Erfahrung zu allen Zeiten und in allen Völkern beweist, dass die Arbeit eines Sklaven am Ende die teuerste ist, obwohl sie offenbar lediglich seinen Unterhalt kostet. Was er auch immer an Arbeit leistet, kann nur durch Gewalt aus ihm gepresst werden, keineswegs aber aus eigenem Interesse erreicht werden."

    Überraschend, dass ausgerechnet die Britische Marine diese Erkenntnis beherzigt haben soll und in der Karibik "Sklaven als Werftarbeiter anheuerte", also regulär bezahlte. Aber diese Formulierung geht auf eine wenig sachkundige Übersetzung zurück. Ebenso wie der anachronistische Hinweis auf etwa tausend ehemalige Sklaven, die um 1785 in London "von der Wohlfahrt", also nach deutschem Wortgebrauch auf Staatskosten lebten.

    Hochschild selbst kommt häufiger darauf zurück, dass die in einer Sklavenwirtschaft notwendige Gewaltausübung auf Dauer untragbar wurde, belegt das mit zahlreichen Beispielen - sehr drastisch zwar, aber eben nicht weiter reflektiert: Da war zum einen die Tatsache, dass monatelange Atlantiküberquerungen und der Aufenthalt in tropischen Sumpfgebieten unter der Besatzung manchmal höhere Todesraten verursachte als unter den transportierten Sklaven, dass Seeleute letztlich nur unter Zwang, als "gepresste" Matrosen zu bekommen waren. Zum anderen aber musste die britische Armee zur Niederschlagung eines Sklavenaufstands weit mehr Truppen nach Haiti schicken, als zuvor gegen die für die Unabhängigkeit kämpfenden nordamerikanischen Kolonien eingesetzt waren. Fast 60 Prozent der Soldaten fielen Krankheiten zum Opfer oder kamen im Hinterhalt der Guerillakämpfer um. Dem mochte und konnte auch die Politik nicht mehr tatenlos zusehen. Die Medienkampagne der aufrechten Zwölf, fünfzig Jahre zuvor begonnen, hatte ihr Ziel erreicht - auf Umwegen:

    "'Die Befreiung der Sklaven sei die einzige Alternative zu einem ausufernden Krieg, der die militärischen Kapazitäten der Regierung möglicherweise übersteigen würde', erklärte Lord Howick, Staatssekretär im Kolonialministerium, im Sommer 1832 vor einem Unterhauskomitee. Und William Taylor, ein ehemaliger jamaikanischer Plantagenverwalter, gab zu Protokoll, die Revolten würden erneut ausbrechen, 'und dann werden Sie nicht in der Lage sein, sie niederzuhalten. Ich verstehe nicht, wie Sie erwarten können, dass Sklaven, die englische Zeitungen lesen, sich ruhig verhalten'."

    Nun werden allerdings die Sklaven ebensowenig Zeitung gelesen haben wie die englischen Arbeiter jene Reiseberichte für die elegante Welt, von denen Hochschild behauptet, dass sie beim Massenpublikum in den Londoner Mietskasernen die ferne Karibik als "verheißungsvolles Eldorado" hätten erscheinen lassen. Auch da beweist der Journalist einmal mehr sein Talent, gesicherte Forschungsergebnisse mit entlegenem Quellenmaterial und anschaulichen Anekdoten kräftig zu würzen. Über Vermutungen gelangt er dabei selten hinaus. Die Frage, ob Adam Hochschild tatsächlich dem "entscheidenden Kampf" in der langwierigen Abschaffung der Sklaverei auf der Spur war, wird wohl erst jener Historiker beantworten, der nach dieser eingängigen "story" die Geschichte der Abolitionisten schreibt.

    Jochen Stöckmann war das über: Sprengt die Ketten. Der entscheidende Kampf um die Abschaffung der Sklaverei von Adam Hochschild, übersetzt von Ute Spengler und erschienen bei Klett-Cotta. Das Buch hat 504 Seiten für 26,50 Euro.