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Spürnase für große Schriftsteller

Die Leidenschaft Maurice Nadeaus galt immer dem literarischen Werk und nicht dem Autoren. So störte es ihn auch nicht, dass der von ihm entdeckte und gefeierte Michel Houellebecq seinen Verlag verließ. Nun ist der zeitgeistresistente Pariser Verleger, Herausgeber und Publizist mit 102 Jahren gestorben.

Von Christoph Vormweg | 17.06.2013
    "Alors Houellebecq, ça me paie un, deux, trois, quatre livres après, hein, c´est ça, qui est important."

    Seine Entdeckung von Michel Houellebecq und dessen trostlosen Einblicken in die sexuelle Zweiklassengesellschaft - für Maurice Nadeau war daran vor allem eines wichtig: dass der Erfolg von Houellebecqs Debütroman "Ausweitung der Kampfzone" ihm, dem Kleinverleger, ein paar weitere Risiko-Investitionen in neue literarische Talente ermöglichen konnte. Mit einem Wort: Die Leidenschaft von Maurice Nadeau galt immer dem literarischen Werk, nicht dem Autor. Und so grämte es ihn auch nicht lange, dass der neue Shootingstar gleich darauf den Verlag wechselte, um groß abzukassieren - mit seinem, wie Nadeau spitzzüngig hinzufügte, literarisch weit schwächeren Roman "Elementarteilchen".

    So selbstsicher, so kämpferisch gab sich Maurice Nadeau im September 2000, als 89-Jähriger, in seinem Büro mit Blick auf das Pariser Centre Pompidou. Als er dann am 21. Mai 2011 seinen 100. Geburtstag feierte, trauten viele ihren Augen nicht: Denn das Urgestein des Pariser Literaturbetriebs war noch immer aktiv, hatte immer noch etwas zu sagen. Jetzt ist Maurice Nadeau - der langjährige Mitarbeiter der Surrealisten, der Widerstandskämpfer gegen die Nazi-Besatzer - gestorben.

    Zum ersten Mal auf sich aufmerksam gemacht hatte er 1945: mit seiner "Geschichte des Surrealismus", die auch in der deutschen Übersetzung weit über 20.000 Mal verkauft wurde. Danach entwickelte Maurice Nadeau in verschiedenen Verlagen seine Spürnase für große Schriftsteller.

    "Nach 1945 habe ich mich zunächst darum bemüht, Autoren herauszubringen, die aus den Lagern kamen: aus den nationalsozialistischen Konzentrationslagern, aber auch aus den russischen Gulags. Die Deutschen waren nach dem Krieg literarisch zunächst tabu. Dennoch habe ich Enzensberger herausgebracht, Arno Schmidt, Autoren, die mir etwas sagten. So habe ich versucht, den Horizont der Franzosen ein bisschen zu erweitern. Denn sie hatten sich von der Außenwelt abgekapselt. Sie hielten sich für etwas Besonderes: Wir sind die Größten, die Schönsten, die Stärksten - das war damals so."

    Die Moden des Buchmarkts haben Maurice Nadeau nie interessiert. Sein Albtraum waren die seichten Unterhalter und die notorischen Nabelschauer.

    "Es interessiert mich nicht, wenn einer hingeht und seine Kindheit erzählt, seine Liebschaften, all das Zeugs. Mich interessiert vor allem das Sichbegreifen in einer Welt, die so ist, wie sie ist, die sich rasend schnell verändert und die anders ist als die meiner Jugend. Das ist das Interessante: eine Gesellschaft, die nicht recht weiß, wohin sie geht."

    Doch wollte Maurice Nadeau nicht nur mit Büchern auf die neuen Herausforderungen der Zeit reagieren. Von 1966 an gab er auch die zwei Mal im Monat erscheinende "Quinzaine littéraire" heraus. Das hoch angesehene Literaturmagazin erreichte über tausend Ausgaben. Und keiner der illustren Mitarbeiter, unter ihnen auch Georges-Arthur Goldschmidt, verlangte je ein Honorar.

    "Das ist anmaßend: Aber ich wollte Frankreich mit einer wirklich literarischen Zeitschrift ausstatten. Sie sollte aufhorchen lassen, indem sie eben nicht die üblichen Erwartungen bedient: nicht die Konventionen, nicht die Traditionen, nicht die Modetrends, nicht den vornehmen Geschmack. Für uns heißt das, unter den Neuerscheinungen nicht nur die gut gemachten, sondern auch die innovativen Bücher auszuwählen, die von der Schreibweise oder inhaltlich etwas Neues bieten. Deshalb kümmern wir uns weder um Bestseller noch um Literaturpreise - um all die Sachen also, die den Markt nähren, den Buchhandel."

    Mit Maurice Nadeau ist ein zeitgeistresistenter Pariser Verleger, Herausgeber und Publizist gestorben: einer jener Literaturbesessenen, denen der nationale Wirkungskreis nie genug war. Entscheidend war für ihn immer das geschriebene Wort. Deshalb verteidigte der streitbare Maurice Nadeau nach dem Zweiten Weltkrieg auch das Romanwerk von Louis-Ferdinand Céline. Warum, so fragte er, sollte man Jahrhundertwerke ignorieren, weil sich ihr Autor später zu antisemitischen Hetztiraden hinreißen ließ? Nicht Rache schien Maurice Nadeau das passende Gegengift, sondern Differenzierung.