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Spukhafte Verhaltenskontrolle

Wie ferngesteuert laufen Mäuse ständig im Kreis herum. Winzige Fliegen ändern ihre Vorlieben auf Kommando und kleine Fische schwimmen durch ein virtuelles Aquarium, das nur im Computer existiert. So etwas ist in modernen neurobiologischen Labors immer häufiger zu beobachten.

Von Michael Lange | 22.01.2012
    "I have a Doppelgänger."

    Gero Miesenböck ist Österreicher. Der renommierte Professor von der Universität Oxford weiß eine Pointe zu setzen.

    "Doktor Gero ist ein genialer, aber ziemlich verrückter Wissenschaftler."

    Hinter dem Professor erscheint das Bild einer Comic-Figur. Martialisch, den wahnsinnigen Blick auf das Publikum gerichtet. Einige Zuhörer schauen sich fragend an.

    "Wenn Sie genau hinschauen, sehen Sie, dass seine Schädeldecke durch eine durchsichtige Plexiglas-Kuppel ersetzt wurde. Die Arbeit seines Gehirns lässt sich von außen beobachten – und sogar kontrollieren – mit Licht. Genau das mache ich. Optische Gedanken-Kontrolle."

    Einige Zuhörer lachen, andere schlucken. Meint der Professor das ernst? Angeblich handelt es sich doch um einen seriösen Wissenschaftler.

    Gero Miesenböck wagte 2002 ein Experiment – ebenso genial wie verrückt. Er manipulierte Taufliegen der Gattung Drosophila, um sie dann mit Licht zu dirigieren. Die kleinen Fliegen laufen in einer Schale unkoordiniert hin und her. Ein gläserner Deckel verhindert, dass sie wegfliegen. Sie erkunden das Gefäß, scheinbar planlos. Doch dann ein kurzer Lichtblitz. Wie auf Kommando bewegen die Fliegen ihre Flügel und heben ab. Sie stoßen gegen den Glasdeckel und landen wieder auf dem Boden des Gefäßes.

    Keine Fliegendressur, sondern Gentechnik. Gero Miesenböck hat einen Lichtsensor in die Zellen der Fliegen eingebaut. Der biologische Sensor reagiert auf Licht und aktiviert bestimmte Nervenzellen der Fliege. Die Nerven geben das Startsignal und die Fliege hebt ab. Vermenschlicht ausgedrückt: Die Fliege will nicht abheben – aber sie muss. Die Fernsteuerung funktioniert, auch ohne dass die Fliege den Lichtstrahl sehen kann. Selbst kopflose Fliegen heben ab und stoßen gegen den Glasdeckel. An Gero Miesenböcks Labor an der Universität Oxford ist diese Technik inzwischen Routine.

    "Ein Stück DNA wird in einen Fliegenembryo injiziert, integriert dann in das Genom, in die Keimbahn der Fliege. Und alle Abkömmlinge dieses ursprünglich hergestellten Tieres tragen dann ein Gen, das für einen lichtgesteuerten Ionenkanal codiert."

    Nach dem genetischen Bauplan auf der DNA entsteht ein Ionenkanal - ein Durchlass, der kleine Moleküle in die Zelle hinein- oder aus ihr herausfließen lässt. Sobald ein Lichtstrahl den Kanal trifft, öffnet er sich und elektrisch geladene Teilchen, so genannte Ionen, fließen hindurch. Durch diesen Ionenfluss wird eine passive Nervenzelle zu einer aktiven Nervenzelle. Der Ionenkanal ist also der Schalter, der die Nervenzelle einschaltet. Und geschaltet wird mit Licht. Miesenböck:

    "Es sind unterschiedliche Ströme, die da aktiviert werden. Und diese Ströme unterliegen im Grunde allen Prozessen der Informationsverarbeitung im Nervensystem. Das heißt durch unseren optischen Trick können wir Informationsverarbeitung direkt beeinflussen."

    Seit 2002 hat Gero Miesenböck verschiedene kompliziertere Verhaltensänderungen bei Fliegen ausgelöst. Sogar ihre Geruchsvorlieben hat er verändert. Auf Kommando, durch einen Lichtblitz. Hunderte Fliegen laufen in einer Art Setzkasten hinter Glas kreuz und quer durcheinander. Durch kleine Tore können sie von der einen in die andere Kammer des Kastens gelangen. Zu sehen gibt es wenig, aber zu riechen. Ein für Fliegen angenehmer Geruch von links, ein weniger angenehmer von rechts. Also bevorzugen die Fliegen die linke Seite. Nur vereinzelt schauen Fliegen rechts vorbei. Dann ein Lichtblitz. Die Vorliebe der Fliegen ändert sich von einem Moment zum anderen. Sie zieht es nun zur anderen Seite, bis sich fast alle Fliegen auf der rechten Seite des Kastens aufhalten. Miesenböck:

    "Die Fliege hat sich entscheiden müssen, ihr Leben im Geruch von Äpfeln oder im Geruch von alten Tennisschuhen zu verbringen. Die meisten Fliegen haben den Geruch der Äpfel ursprünglich vorgezogen. Aber wir haben dann – wann immer sich eine Fliege in den Apfelgeruch bewegt hat – den Kritiker im Gehirn aktiviert. Und zu unserer großen Freude haben die meisten Fliegen, deren Kritiker wir auf diese Weise angeregt haben, den Geruch der alten Tennisschuhe nach dem Experiment dem der Äpfel vorgezogen."

    Die Forscher hatten die entscheidende Region im Fliegengehirn unter ihre Kontrolle gebracht. Die Fliegen hatten keinen freien Willen mehr. Sie bevorzugten den Geruch, den Versuchsleiter Gero Miesenböck für sie auswählte. Wenn es alte Tennisschuhe sein sollten, dann waren es eben alte Tennisschuhe. Gero Miesenböck wurde zum Herrn der Fliegen.

    "Wir üben diese Fernsteuerung nicht aus, um die Fliegen zu willfährigen Exekutoren unserer größenwahnsinnigen Pläne zu machen, sondern um zu verstehen wie das Gehirn funktioniert. Ab einem bestimmten Punkt ist es ganz wesentlich, das System beeinflussen zu können. Und das hat in der Neurobiologie für lange Zeit gefehlt, oder es war zumindest sehr schwierig."

    Ferngesteuerte Lebewesen. Das Szenario erinnert an Doktor Mabuse, eine Roman- und Filmfigur aus den 20er Jahren. Zerzauste Haare, durchdringender Blick. Doktor Mabuse ist Psycho-Analytiker. Ein Verbrechergenie mit hypnotischen Fähigkeiten. Obwohl der verrückte Wissenschaftler hinter verschlossenen Türen in einer Anstalt sitzt, finden seine Feinde einer nach dem anderen den Tod. Kleine Gauner setzen das um, was das geniale Verbrecherhirn des Doktor Mabuse ausheckt, so als ob er ihre Gedanken steuern könnte. Die Polizei steht vor einem Rätsel.

    Auch Alexander Gottschalk von der Universität Frankfurt am Main beherrscht das Konzept der Fernsteuerung von Lebewesen. Sein Versuchstier ist der Fadenwurm Caenorhabditis elegans. Das winzige Tier ist nicht größer als ein Komma in einer Zeitung und bewegt sich mit schlängelnden Bewegungen durch einen Wassertropfen.

    "Dieser Wurm ist sehr einfach aufgebaut. Der ganze Körper besteht aus weniger als 1000 Zellen, so dass einzelne Zellen hier teilweise die Funktion ganzer Organe übernehmen. Und von diesen 1000 Zellen sind 302, und zwar ganz genau 302, Nervenzellen."

    Mit Lichtsignalen kann Alexander Gottschalk die Bewegungen des Fadenwurms beeinflussen. Das Leuchten wirkt sofort.


    "Wenn ich jetzt dieses Tier in Flüssigkeit gebe, wie man hier sieht unter dem Mikroskop, dann führt es ziemlich schnelle Schwimmbewegungen aus. Und jetzt schalte ich hier über das Mikroskop Gelblicht dazu. Wenn ich das jetzt anschalte, sieht man, dass der Wurm sofort aufhört, sich zu bewegen, und wenn ich es abschalte, geht die Bewegung sofort wieder weiter."

    Der Sensor in den Nervenzellen der Fadenwürmer heißt Kanalrhodopsin 2. Die Wissenschaftler sagen meist: Channelrhodopsin 2. Ursprünglich stammt dieses Eiweiß aus einzelligen Grünalgen der Gattung Chlamydomonas. Es bildet einen Ionenkanal durch die Zellhülle, der sich mit blauem Licht von außen einfach an- und ausschalten lässt. Forscher vom Max-Planck-Institut für Biophysik in Frankfurt haben diesen molekularen Schalter für Nervenzellen entdeckt. 2003 konnten sie dann erstmals demonstrieren wie er funktioniert. Das war der Durchbruch für die Optogenetik. Verwandt ist Channelrhodopsin 2 mit vielen anderen biologischen Lichtsensoren, auch mit wichtigen Seh-Pigmenten im menschlichen Auge. Gottschalk:

    "Wir haben jetzt nicht nur dieses Channelrhodopsin, mit dem man Zellen aktivieren kann, sondern andere Licht-Rezeptor- Proteine, die den gegenteiligen Effekt haben, zum Beispiel ein Protein, das Halorhodopsin heißt. Das lässt sich im Gegensatz zu Channelrhodopsin, das man mit blauem Licht anregt, durch gelbes Licht anregen. Das erreicht jetzt, dass eine Zelle, in der das eingeschaltet wird, inhibiert oder blockiert wird – also nicht aktiv ist."

    Der Lichtsensor Halorhodopsin wurde ebenfalls von Frankfurter Max-Planck-Forschern entwickelt. Er reagiert auf gelbes Licht und wirkt als Gegenspieler zu Channelrhodopsin 2. Er stammt aus Archäen, sehr ursprünglichen, bakterienähnlichen einfachen Lebewesen. Alexander Gottschalk und sein Team konnten beide Schalter in bestimmte Nervenzellen der Fadenwürmer einbauen. So entstand ein richtiges Kontrollsystem. Blaues Licht schaltet die Nervenzelle an¸ gelbes Licht schaltet die Nervenzelle aus. Nun wollen die Forscher die Funktion der einzelnen Nervenzellen im Fadenwurm untersuchen. Dazu ist es nötig, dass Gene für die Lichtsensoren Channelrhodopsin und Halorhodopsin zielgenau in bestimmten Nervenzellen aktiv werden.

    "Ich bestimme durch genetische Methoden: Neuron X, Y, Z soll mir dieses Sensorprotein machen. Dann ist da ein Tier, in dem nur dieses Neuron dieses Protein macht. Also kann auch nur dieses Neuron auf Licht reagieren. Damit kann ich ganz spezifisch dieses Neuron mit Licht anregen, von außen. Und unser Fadenwurm ist durchsichtig. Das heißt: ich kann alle Nervenzellen mit Licht erreichen."

    Einzelne Nervenzellen zielgenau verändern, das gelingt mit einer Art Starthilfe für Gene, so genannten Promotoren. Es ist bekannt, dass jeder Zelltyp eigene Promotoren besitzt. Im Erbmolekül sind sie den Genen vorgeschaltet und sorgen dafür, dass zum Beispiel Lebergene nur in Leberzellen abgelesen werden. Optogenetiker koppeln solche spezifischen Promotoren an die Lichtsensor-Gene. Viren schleusen das Konstrukt schließlich in die Zellen. Erkennt eine Nervenzelle ihren speziellen Promotor, dann und nur dann liest sie das eingeschleuste Gen ab. So lässt sich im Prinzip die Funktion jeder Zelle im Nervensystem bestimmen. Für einen Fadenwurm mit 302 Nervenzellen ist das noch überschaubar. Aber die Optogenetiker trauen sich bereits an kompliziertere Tiere heran.

    Unbeweglich liegen die etwa zwei bis drei Zentimeter langen Fische in einer flachen Wanne. Sie sind fast durchsichtig bis auf die dunklen Streifen, die ihnen den Namen geben: Zebrafische. Ihr Leben scheint ereignislos, ohne jegliche Zerstreuung. Aber das ist nur scheinbar so, denn ihre Augen sind auf Computermonitore gerichtet und ihre Gehirne unterwegs in einer fremden Welt.

    In seinem Labor an der Harvard Universität in Boston arbeitet der junge Professor Florian Engert mit Fischen. Er beraubt sie jeglicher Freiheit und erforscht dennoch ihr Schwimmverhalten.

    "Da kann man lernen, was die Rolle einzelner Neuronen, also Nervenzellen ist beim Verhalten."

    Um die Nervenzellen der nahezu durchsichtigen Fische in Ruhe zu untersuchen, musste Engert die Tiere lähmen oder sie in Gel einbetten. Mit den natürlichen Bewegungen der Tiere war es dann vorbei. Deshalb versetzte Florian Engert seine Versuchstiere in eine virtuelle Welt, in der sie sich frei bewegten. – Nur in Gedanken. Genauso wie die Menschen im Kinofilm "Matrix" ist die ganze Welt dieser Fische eine Illusion aus dem Computer.

    Neo erwacht in einer für ihn völlig neuen Realität: Menschen werden von intelligenten Maschinen in Zuchtanlagen gehalten. Ihre Körper liegen bewegungslos in einer Apparatur und sind über Kabel an eine komplexe Computersimulation angeschlossen. Diese so genannte Matrix gaukelt ihnen eine Scheinrealität vor. Die Menschen, die mit der Matrix verbunden sind, halten die Simulation aus dem Computer für das wahre Leben

    Florian Engert: "Wir stellen Computer Screens um diesen Fisch herum, und die spielen eine Fischwelt vor. Und immer wenn der Fisch agiert, ändert sich die Welt. Wenn der Fisch vorwärts schwimmt, strömt die Welt um ihn herum nach hinten. Wenn der Fisch nach links schwimmt, dann dreht sich die Welt nach rechts. Und wenn man sich das so anschaut, ist es wie in einem Computerspiel."

    Mit dem Versuchstier als Computerspieler, und einem virtuellen Aquarium als Lebensraum. In dieser Welt kann sich der Fisch frei bewegen, ohne dass er in der realen Welt von der Stelle kommt. Im Grunde das gleiche was jeder Computerspieler auf dem heimischen Sofa erlebt. Engert:

    "Alles, was wir gemacht haben ist, den Joy-Stick oder den Daumen zu ersetzen durch das neuronale Signal, das von den Motor-Neuronen kommt. Also der Fisch benutzt seine Muskelnervenzellen, um einen Joy-stick zu bedienen, der ihm erlaubt, in einer virtuellen Welt umher zu schwimmen."

    Dann kam die Optogenetik ins Spiel. Denn die Forscher wollten die Aktivität der Nerven im Fisch nicht nur messen, sondern auch kontrollieren - mit Licht.

    "Wir können jetzt schon die Muskeln gezielt kontrahieren lassen. Das ist eine Fernsteuerung, die relativ trivial ist. Da lernt man nicht viel Neues. Wir wissen schon: Wenn man bestimmte Muskelgruppen zum Kontrahieren bringt, dass der Fisch dann so oder so schwimmt, das ist nicht so spannend. Es ist immer noch lustig, dass man den Fisch kontrollieren kann, aber damit ist nichts gelernt. Interessanter wird es, wenn man ins zentrale Nervensystem geht und dort bestimmte Zentren findet, für Linksschwimmen, Rechtsschwimmen, Vorwärtsschwimmen, Stoppen. Da kann man etwas über das Gehirn lernen: die Zentren, die für bestimmte Motorbefehle verantwortlich sind."

    Wie Würmer und Fische würden Forscher auch gerne Säugetiere, zum Beispiel Mäuse, mit Optogenetik fernsteuern. Es gibt dabei allerdings ein Problem: Die Milliarden Nervenzellen der Säugetiere arbeiten im Dunkeln – unter der Schädeldecke. Dennoch haben sich einige Forscher auch an sie heran gewagt. 2005 gelang es einem Team um den Mediziner Karl Deisseroth an der Stanford-Universität in Kalifornien Zellen von Mäusen gezielt zu verändern, so dass sie auf Licht reagierten. Zunächst in einer Zellkultur, dann auch im Gehirn lebender Tiere.

    Die Labormaus sitzt ruhig in ihrem Käfig. Ein Glasfaserkabel verbindet ihr Gehirn direkt mit einer Lichtquelle. Dass sie dieses Kabel ständig hinter sich herzieht, scheint sie nicht zu stören. Dann ein Lichtimpuls. Durch das Kabel gelangt Licht direkt in das Gehirn der Tiere. Plötzlich beginnt die Maus zu laufen – immer im Kreis herum, wie verrückt.

    Zur gleichen Zeit wie das Team aus Stanford entwickelte auch Stefan Herlitze an der Case Western Reserve University in Cleveland optogenetische Methoden zur Forschung mit Säugetieren. Heute arbeitet er an der Ruhr-Universität Bochum. Auch er verwendet den Lichtsensor aus Frankfurt: das Channelrhodopsin 2.

    "Dieses Channelrhodopsin war deshalb eine Revolution für die Neurowissenschaften, weil das ein alles oder nichts Prinzip ist, das sehr schnell auf einer Zeitachse von Millisekunden agiert."

    Die Wirkung des Nervenschalters lässt sich beeindruckend darstellen – optisch und auch akustisch.

    So klingen die elektrischen Signale von Purkinje-Zellen im Kleinhirn. Diese Nervenzellen sind insbesondere für die Steuerung von Bewegung zuständig. Mit Optogenetik lassen sie sich hörbar kontrollieren.

    " Sie hören ungefähr Folgendes: Blopp … blopp …. Blopp. Und dann Licht an: bloppbloppbloppblopp. Und dann Licht aus, und es geht wieder langsam blopp … blopp …. blopp weiter."

    Um das Gehirn einer Maus mit Licht zu erforschen und zu beeinflussen, müssen die Gene für die Lichtsensoren zunächst in das Gehirn der Mäuse eingeschleust werden. Das gelingt mit Viren, wie sie auch in der Gentherapie Verwendung finden. Am Lehrstuhl für Allgemeine Zoologie und Neurobiologie der Ruhruniversität Bochum haben die Forscher bereits viel Erfahrung mit der Methode. Die Masterstudentin Debora Laker ist hoch konzentriert. Vor ihr liegt bewegungslos eine kleine, schwarze Maus.

    "Ich führe gerade eine Injektion eines adeno-assoziierten Virus durch an einem Mausgehirn."

    Der Kopf der zuvor anästhesierten Maus ist fest eingespannt. Eine exakt justierte Nadel nähert sich von oben dem offenen Mäusegehirn. Ganz langsam.

    "Es ist ganz wichtig, dass der Kopf fixiert ist, weil ich mich an bestimmten Koordinaten orientiere, weil ich in eine bestimmte Gehirnregion muss, die sehr klein ist. Um die zwei Millimeter."

    Mit Optogenetik kann das Team um Stefan Herlitze die Bewegungssteuerung der Tiere im Kleinhirn untersuchen. In Zukunft sollen außerdem die Gefühle der Tiere untersucht und mit Licht beeinflusst werden.

    "Das ist die Idee, dass wir die Emotion dieser Maus ändern können. Und zwar hinsichtlich zweier emotionaler Verhaltensweisen. Das ist einmal Angst und Aggression. Das heißt wir sollten über das Anschalten von bestimmten Signalwegen Angst- und Aggressionsverhalten auslösen können."

    Das California Institute of Technology, kurz Caltech, in Pasadena. Eine männliche Maus sitzt ruhig in ihrem Käfig. Neben ihr liegt ein Plastikhandschuh, der die Maus nicht weiter interessiert. Dann gelangt durch ein Glasfaserkabel ein Lichtimpuls direkt ins Mäusegehirn. Innerhalb von Sekunden gerät die Maus in Rage. Sie beißt in den Handschuh und schleudert ihn im Käfig umher. Immer wieder springt der Wüterich in die Höhe, um dann erneut auf den Handschuh loszugehen.

    Dass dieser Versuch mit Handschuhen durchgeführt wird, hat einen Grund. Versuchsleiter David Anderson vom Caltech wollte das Aggressions- und Paarungsverhalten der Tiere beeinflussen. Aber die optogenetisch gesteuerten Männchen wurden so aggressiv, dass jedes andere Tier im Käfig sofort in Lebensgefahr geriet. Das galt auch für weibliche Tiere. Anderson:

    "Normalerweise reagieren männliche Mäuse niemals aggressiv gegenüber Weibchen. Nur wenn wir künstlich mit Optogenetik bestimmte Aggressionsnerven einschalten, dann greifen die Männchen auch weibliche Tiere brutal an. Von Natur aus sind diese Nervenzellen der Männchen in Gegenwart eines Weibchens gehemmt."

    Solange David Anderson Lichtpulse in das Gehirn der Maus schickte, hielt das aggressive Verhalten an. Hörten die Lichtimpulse auf, wurde die Maus innerhalb von Sekunden wieder ruhig. Saß da, als wäre nichts geschehen. Vielleicht, so hofft er, findet er im Gehirn eine Ursache für sexuelle Gewalt – beim Menschen.

    "Die Tatsache, dass die Nervenzellen für Paarung und Aggression im Gehirn dicht nebeneinander liegen, lässt uns vermuten, dass Nerven, die normalerweise getrennt arbeiten, plötzlich zusammengeschaltet werden können und so zu krankhaftem Verhalten führen."

    David Anderson will die Wechselwirkung von Aggression und Sexualität verstehen. Eine Vision drängt sich auf: Könnten sich vielleicht, irgendwann, kranke Gehirne gar umprogrammieren lassen? Wie im Roman und im Kinofilm Clockwork Orange?

    Alex und seine Bande haben mit brutaler Gewalt das ganze Viertel in Angst und Schrecken versetzt. Sie haben geraubt, geprügelt und gemordet. Nun sitzt Alex festgeschnallt in einem Behandlungsstuhl. Drähte umspannen seinen Kopf. Seine Augen sind starr auf Gewaltszenen auf einem Monitor gerichtet. Durch brutale Bilder und Schmerzreize soll ihm die Gewalt ausgetrieben werden. Immer, wenn jemand leidet, wird dem jungen Schläger nun übel. So lange, bis er jegliche Gewalt verabscheut.

    Die Neigung zur Gewalt mit Optogenetik zu behandeln, steht derzeit nicht auf der Agenda der Forscher. Wohl aber andere Krankheiten. Parkinson zum Beispiel. Dopaminbildende Zellen im Gehirn sollen gezielt mit Licht aktiviert werden. Heute schon werden Nerven elektrisch stimuliert, um Parkinson-Symptome zu behandeln. David Anderson:

    "Optogenetische Methoden können die Nerven-Stimulationen spezifischer und genauer machen. Das bedeutet: Weniger Nebenwirkungen und Gefahren für den Patienten als ein Draht im Kopf, der elektrische Impulse abgibt. Mit der Optogenetik erreichen wir exakt eine genau eingegrenzte Untergruppe von Zellen im Gehirn."

    Auch wenn die Optogenetik erst wenige Jahre alt ist, machen in Forscherkreisen zahlreiche Ideen die Runde, wie das Verfahren kranken Menschen helfen könnte. Das dient natürlich auch der Beschaffung von Forschungsgeldern. Ob und wann die Hoffnungen berechtigt sind, lässt sich heute nicht einschätzen. Stefan Herlitze hat Optogenetik erfolgreich bei Ratten mit Rückenmarksverletzungen eingesetzt. Eine Behandlung kranker Menschen scheint möglich – so hofft er.

    "Ich sehe also gerade bezüglich der Rückenmarksverletzungen ein sehr großes Potential für diese optogenetischen Methoden. Man könnte das weiter denken und sagen, dass man die Blase so kontrollieren könnte, also den Urinfluss. Das ist ein sehr einfacher Prozess, der über einen Schließmuskel kontrolliert wird. Und dieser Muskel könnte über die optogenetische Steuerung von Neuronen, die für die Öffnung und die Schließung verantwortlich sind, von diesem Muskel kontrolliert werden. Man würde das Licht anschalten, der Patient könnte urinieren, man würde das Licht ausschalten und die Blase wäre wieder zu."

    Die Idee: Der Patient erhält einen Schalter und steuert von außen über Radiowellen eine Lichtquelle im Körper. Immer wenn der Patient den Knopf drückt schaltet er das Licht im Körper ein, aktiviert die zuständigen Nervenzellen und entleert so die Blase. Noch steht diese Therapie nicht zur Verfügung, aber Ingenieure und Biowissenschaftler arbeiten daran. Es müssen nicht unbedingt Nervenzellen sein, die über Lichtsignale gesteuert werden. Auch insulinbildende Zellen für die Diabetes-Therapie könnten in Zukunft dank Optogenetik mit Licht gesteuert werden. Und so weiter. Ein langer Weg, der noch viel Forschung erfordert. Vergleichsweise gute Chancen sehen viele Experten bei der Bekämpfung der Augenkrankheit Retinitis pigmentosa. Sie führt zu einer langsamen Erblindung. Nach und nach sterben die Zellen in der Netzhaut ab. Zuerst die Stäbchen für das exakte Formensehen und später die Zapfen für das Farbensehen. Wenn die Krankheit erkannt wird, sind meist nur noch die Zapfen übrig – und auch deren Sehpigmente drohen zu verschwinden. Deshalb setzt der aus Ungarn stammende Neurowissenschaftler Botond Roska vom Friedrich-Miescher-Institut in Basel bei den verbliebenen Zapfen an. Er will ihre Farbpigmente durch optogenetische Sensoren ersetzen – also künstliche neue Seh-Pigmente.

    "Eine optogenetische Behandlung besteht aus zwei Teilen. Zum einen braucht man einen Lichtsensor, der die Zellen zu Lichtempfängern macht. Und zweitens muss man die richtigen Zellen erreichen. Bei den meisten Krankheiten fehlt das Wissen, welche Zellen man überhaupt optogenetisch verändern muss, damit eine Behandlung wirkt. Über die Zellen in der Netzhaut des Auges wissen wir genug und können deshalb die richtigen Zellen ansteuern und eine Therapie entwickeln."

    Ein drittes Problem entfällt bei der optogenetischen Behandlung von Augenkrankheiten. Das Licht: Es fällt – ganz natürlich – von außen ins Auge. Statt auf ein natürliches Seh-Pigment trifft es in der Netzhaut auf einen künstlichen Biosensor. Was dann geschieht, ist das gleiche wie beim natürlichen Sehen. Gemeinsam mit Ärzten einer renommierten Pariser Augenklinik konnte Botond Roska bereits Erfolge im Tierversuch und in Zellkulturen präsentieren.
    "Wir haben zeigen können, dass wir einen optogenetischen Sensor in bestimmte Zellen der Retina bringen können – in menschlichen Zellkulturen und bei von Natur aus kranken Mäusen. Die zuvor blinden Mäuse reagierten danach auf Licht und ihr Gehirn konnte Lichtsignale verarbeiten. Die Mäuse zeigten tatsächlich Verhaltensweisen, die durch optische Wahrnehmung gelenkt waren."

    Inzwischen haben in Paris erste Versuche mit Affen begonnen. Wenn auch sie erfolgreich verlaufen, können in zwei bis drei Jahren klinische Studien am Menschen beginnen. Die Behandlung der Retinitis pigmentosa könnte der medizinische Durchbruch der Optogenetik werden. Dann würde Science, was heute noch Fiction ist.

    Chef-Ingenieur Geordi La Forge ist von Geburt an blind. Dennoch kann er sehen mit Hilfe eines Visors. Er setzt ihn auf wie eine Brille und das High Tech Gerät aktiviert über Lichtsignale direkt die Nervenzellen im Sehzentrum seines Gehirns. So sieht er Gesichter, Planeten, Sterne und sogar Quantenfluktuationen im Warp-Reaktor, die für sehende Menschen unsichtbar sind.

    Die Neurowissenschaft hat die Optogenetik revolutioniert. Sie hilft schon heute, das Gehirn besser zu verstehen. Die medizinische Nutzung des Verfahrens ist jedoch weitaus schwieriger. Schließlich handelt es sich um eine Gentherapie am Menschen. Hunderte klinische Studien in den letzten zwanzig Jahren haben gezeigt, was dabei alles schiefgehen kann.