Die Rosenstraße ist eine Sackgasse im Schatten der Plattenbauten, die den Berliner Alexanderplatz umgeben. Auf einer Rasenfläche am Rand steht eine kleine Gruppe Menschen; sieben Personen, die einen Halbkreis um ein würfelförmiges Denkmal bilden. Die Regenschirme sind aufgespannt. An dem Denkmal steht eine Hausnummer, Rosenstraße Nummer 2. Einst befand sich hier die älteste Synagoge Berlins.
"Das ist die Gemeinde, die eher orthodox gestimmt ist – im Gegensatz zu der liberalen Synagoge von der Oranienburger Straße. Dahin geht man nicht. "
Nirit Ben-Joseph ist keine gewöhnliche Stadtführerin. Die aus Israel stammende Berlinerin führt seit über zehn Jahren jüdische Besucher aus dem Ausland durch die deutsche Hauptstadt. Viele davon begeben sich auf die Spuren ihrer Ahnen, die einst in Deutschland gelebt haben. So wie die 76-jährige Nurit Ben Dove. Die hagere Dame mit dem rotblonden Haar ist mit fünf Familienangehörigen nach Berlin gekommen. Ihr Urgroßvater Josef Eschelbacher war Ende des 19. Jahrhunderts Rabbiner der Synagoge an der Rosenstraße in Berlin-Mitte.
"Ich erinnere mich, dass im Haus meiner Großeltern stets eine Atmosphäre der Spannung herrschte zwischen dem neo-orthodoxen und dem liberalen Judentum. Meine Großmutter war nämlich sehr liberal, und mein Großvater war sehr streng."
Die Rosenstraße ist zu einem einzigartigen Symbol des Holocaust geworden. An dieser Stelle protestierten 1943 nichtjüdische Frauen in einer verzweifelten Aktion erfolgreich gegen die Deportationen ihrer jüdischen Ehemänner. Die anderen Juden wurden direkt ins Vernichtungslager Auschwitz gebracht.
Die Gruppe zieht weiter. In der Großen Hamburger Straße befand sich einst die jüdische Knabenschule, heute steht hier das jüdische Gymnasium. Auf einer Freifläche daneben steht der Grabstein des Philosophen Moses Mendelssohn. Der dazu gehörige jüdische Friedhof wurde zerstört. Die sieben Besucher bleiben an einem der sogenannten Stolpersteine stehen. In diesem ehemals jüdischen Viertel sind besonders viele der gravierten Pflastersteine aus Messing in die Gehwege eingelassen. Sie erinnern an Berliner, die von den Nazis verschleppt und umgebracht wurden.
Der schweigsamste in der Gruppe ist Jaron, ein Mittzwanziger mit blauen Augen und rotblondem Haar. Er hält sich im Hintergrund und schaut sich aufmerksam um.
"Die Berliner Kultur ist sehr interessant für mich. Sie verbindet die Punkte der Vergangenheit mit der Gegenwart und der Zukunft. Für mich ist es sehr wichtig, hier zu sein. Ich wollte mir einige alte Bilder gar nicht ansehen, weil ich sie lieber mit meinen eigenen Augen sehen wollte. Mein Gedächtnis ist fotografisch, ich kann mir Bilder besser merken als Text. "
Jaron malt, er ist Künstler. Wie für viele Israelis seiner Generation ist auch für ihn Berlin ein Sehnsuchtsort. Allerdings verbindet er mit der deutschen Hauptstadt weniger die Zentrale des Holocaust als die moderne, boomende Kulturstadt mit ihren vielen Freiräumen für junge Künstler.
Für seine Großtante Nurit war dies ein weiterer Grund, Jaron auf die Reise nach Berlin mitzunehmen. Sie wurde zwar bereits in Israel geboren, doch ihre Kindheit verbrachte sie unter deutschen Auswanderern. Viele Berliner Juden trafen sich in Israel wieder und pflegten dort die deutsche Sprache, die Musik und die Literatur. Sie prägten auch Nurit Ben Dove.
"Dieser Besuch in Berlin wurde zu meiner Obsession, weil ich den Kindern meine Auffassung von Ästhetik und Kultur vermitteln wollte. In meiner Kindheit waren die israelischen Schulen und Universitäten allesamt zionistisch ausgerichtet. Sie sollten uns umerziehen, sie wollten nicht, dass wir der damals herrschenden Leitkultur folgten. Das war nämlich immer die deutsche Kultur."
Im Hof des jüdischen Kulturzentrums an der Oranienburger Straße zeugen Mauerreste von der einstigen Pracht der Synagoge. Dort hängt ein Foto in Schwarz-Weiß, das Besucher eines Gottesdienstes zeigt. Das Bild ist 1935 entstanden, kurz nach Verabschiedung der Nürnberger Rassengesetze. Es ist ein eindringliches Bild: Männer mit ernsten Gesichtern schauen in die Kamera. Unverständnis und Ratlosigkeit sind ihnen deutlich anzusehen. In manchen Gesichtern sieht man Angst.
"Sie wissen nicht, dass sie 38 alles verlieren werden. Sie sagen, die jungen Leute sollen gehen. Aber sie sitzen in einer Falle, und sie können es nicht wissen. Keiner erklärt ihnen, dass sie 39 ihr gesamtes Vermögen an das Dritte Reich werden geben müssen. Es wird alles konfisziert."
Die Eltern von Nurit Ben Dove waren bereits zuvor nach Israel emigriert. Doch ihre Großeltern leben noch in Berlin. Als Nurit zwei Jahre alt ist, fährt die Familie aus Israel zu Besuch in die Reichshauptstadt. Die alte Dame zieht ein vergilbtes Foto aus der Tasche. Sie spricht jetzt immer öfter Deutsch.
"Das ist in Levetzowstraße, das war ich. Das war 1936. Auf dem Balkon meiner Großeltern."
Ein kleines Mädchen lacht in die Kamera. Im Hintergrund sieht man den Balkon der Nachbarwohnung. Daran hängt unverkennbar eine Hakenkreuzfahne.
Zwei Jahre später flohen auch die Großeltern von Nurit nach Israel.
Die letzte Station ist der jüdische Friedhof in Berlin-Weißensee. Hier befinden sich die Gräber des Rabbiners Josef Eschelbacher und das Grab eines Onkels von Nurit Ben Dove. Er hat in den 30er-Jahren Selbstmord begangen, so wie viele Juden in der Nazizeit. Der Jüdische Friedhof Weißensee ist einer der größten in Europa. Über 115.000 Berliner haben hier ihre letzte Ruhestätte gefunden. Auf den Grabsteinen stehen große Namen: Herbert Baum liegt hier, der Widerstandskämpfer. Der Rabbiner Leo Baeck. Verleger Samuel Fischer. Der Schriftsteller Stefan Heym und die Eltern von Kurt Tucholsky.
Während die Schritte der Großmutter immer langsamer werden, rennen die Jüngeren durch den Wald und verstecken sich hinter den alten Bäumen. Die beiden jungen Männer tragen auf dem Kopf eine Kippa, eine jüdische Kopfbedeckung. Sie ist auf dem jüdischen Friedhof vorgeschrieben. Assaf, der kräftige Cousin mit den dunklen Haaren und dem schmalen Kinnbart, ist von dem jüdischen Friedhof mit den großen Namen offenbar wenig beeindruckt.
"Ehrlich gesagt weiß ich nicht wirklich, was ich fühle. Aber es ist nichts Neues für mich. Ich habe schon viele Gräber und Gedenkstätten in Israel gesehen. Es ist natürlich interessant, diese Gräber aus der Zeit des Weltkrieges zu sehen. Für mich ist es sehr weit weg. Ich versuche aber etwas zu empfinden, es sind immerhin meine Familie und meine Vorfahren."
Auf dem Weißenseer Friedhof könnte die Kluft zwischen Jugend und Alter größer nicht sein: Nirut Ben David wird immer schweigsamer, die Gesichtszüge der alten Dame verhärten sich. Ihre Enkelin, die 16-Jährige Tom, verlässt die Gruppe der Jugend und begleitet ihre Großmutter. Sie versucht ihre Gefühle nachzuvollziehen.
"Ich glaube, für meine Großmutter ist das ziemlich hart. Sie weint beinahe. Es ist immerhin ihr Onkel, der hier begraben liegt. Für mich ist es nicht so hart. Ich habe sehr viel über den Krieg in der Schule gelernt, daher ist das hier kein Schock für mich."
"Es ist emotional. Irgendwie hatte ich diese Obsession herzukommen. Ich fühle, ich bin die Repräsentantin meiner Mutter. Ich weiß auch, das ist das letzte Mal, dass ich es sehen werde. Ich komme nicht mehr. Und ich bin so zufrieden und dankbar, dass die Kinder mit mir das gemacht haben."
Die alte Dame dreht sich um und schreitet aufrecht dem Ausgang entgegen. Sie schaut nicht mehr zurück, bis sie in den Kleinbus steigt, der vor dem Friedhofstor wartet.
"Das ist die Gemeinde, die eher orthodox gestimmt ist – im Gegensatz zu der liberalen Synagoge von der Oranienburger Straße. Dahin geht man nicht. "
Nirit Ben-Joseph ist keine gewöhnliche Stadtführerin. Die aus Israel stammende Berlinerin führt seit über zehn Jahren jüdische Besucher aus dem Ausland durch die deutsche Hauptstadt. Viele davon begeben sich auf die Spuren ihrer Ahnen, die einst in Deutschland gelebt haben. So wie die 76-jährige Nurit Ben Dove. Die hagere Dame mit dem rotblonden Haar ist mit fünf Familienangehörigen nach Berlin gekommen. Ihr Urgroßvater Josef Eschelbacher war Ende des 19. Jahrhunderts Rabbiner der Synagoge an der Rosenstraße in Berlin-Mitte.
"Ich erinnere mich, dass im Haus meiner Großeltern stets eine Atmosphäre der Spannung herrschte zwischen dem neo-orthodoxen und dem liberalen Judentum. Meine Großmutter war nämlich sehr liberal, und mein Großvater war sehr streng."
Die Rosenstraße ist zu einem einzigartigen Symbol des Holocaust geworden. An dieser Stelle protestierten 1943 nichtjüdische Frauen in einer verzweifelten Aktion erfolgreich gegen die Deportationen ihrer jüdischen Ehemänner. Die anderen Juden wurden direkt ins Vernichtungslager Auschwitz gebracht.
Die Gruppe zieht weiter. In der Großen Hamburger Straße befand sich einst die jüdische Knabenschule, heute steht hier das jüdische Gymnasium. Auf einer Freifläche daneben steht der Grabstein des Philosophen Moses Mendelssohn. Der dazu gehörige jüdische Friedhof wurde zerstört. Die sieben Besucher bleiben an einem der sogenannten Stolpersteine stehen. In diesem ehemals jüdischen Viertel sind besonders viele der gravierten Pflastersteine aus Messing in die Gehwege eingelassen. Sie erinnern an Berliner, die von den Nazis verschleppt und umgebracht wurden.
Der schweigsamste in der Gruppe ist Jaron, ein Mittzwanziger mit blauen Augen und rotblondem Haar. Er hält sich im Hintergrund und schaut sich aufmerksam um.
"Die Berliner Kultur ist sehr interessant für mich. Sie verbindet die Punkte der Vergangenheit mit der Gegenwart und der Zukunft. Für mich ist es sehr wichtig, hier zu sein. Ich wollte mir einige alte Bilder gar nicht ansehen, weil ich sie lieber mit meinen eigenen Augen sehen wollte. Mein Gedächtnis ist fotografisch, ich kann mir Bilder besser merken als Text. "
Jaron malt, er ist Künstler. Wie für viele Israelis seiner Generation ist auch für ihn Berlin ein Sehnsuchtsort. Allerdings verbindet er mit der deutschen Hauptstadt weniger die Zentrale des Holocaust als die moderne, boomende Kulturstadt mit ihren vielen Freiräumen für junge Künstler.
Für seine Großtante Nurit war dies ein weiterer Grund, Jaron auf die Reise nach Berlin mitzunehmen. Sie wurde zwar bereits in Israel geboren, doch ihre Kindheit verbrachte sie unter deutschen Auswanderern. Viele Berliner Juden trafen sich in Israel wieder und pflegten dort die deutsche Sprache, die Musik und die Literatur. Sie prägten auch Nurit Ben Dove.
"Dieser Besuch in Berlin wurde zu meiner Obsession, weil ich den Kindern meine Auffassung von Ästhetik und Kultur vermitteln wollte. In meiner Kindheit waren die israelischen Schulen und Universitäten allesamt zionistisch ausgerichtet. Sie sollten uns umerziehen, sie wollten nicht, dass wir der damals herrschenden Leitkultur folgten. Das war nämlich immer die deutsche Kultur."
Im Hof des jüdischen Kulturzentrums an der Oranienburger Straße zeugen Mauerreste von der einstigen Pracht der Synagoge. Dort hängt ein Foto in Schwarz-Weiß, das Besucher eines Gottesdienstes zeigt. Das Bild ist 1935 entstanden, kurz nach Verabschiedung der Nürnberger Rassengesetze. Es ist ein eindringliches Bild: Männer mit ernsten Gesichtern schauen in die Kamera. Unverständnis und Ratlosigkeit sind ihnen deutlich anzusehen. In manchen Gesichtern sieht man Angst.
"Sie wissen nicht, dass sie 38 alles verlieren werden. Sie sagen, die jungen Leute sollen gehen. Aber sie sitzen in einer Falle, und sie können es nicht wissen. Keiner erklärt ihnen, dass sie 39 ihr gesamtes Vermögen an das Dritte Reich werden geben müssen. Es wird alles konfisziert."
Die Eltern von Nurit Ben Dove waren bereits zuvor nach Israel emigriert. Doch ihre Großeltern leben noch in Berlin. Als Nurit zwei Jahre alt ist, fährt die Familie aus Israel zu Besuch in die Reichshauptstadt. Die alte Dame zieht ein vergilbtes Foto aus der Tasche. Sie spricht jetzt immer öfter Deutsch.
"Das ist in Levetzowstraße, das war ich. Das war 1936. Auf dem Balkon meiner Großeltern."
Ein kleines Mädchen lacht in die Kamera. Im Hintergrund sieht man den Balkon der Nachbarwohnung. Daran hängt unverkennbar eine Hakenkreuzfahne.
Zwei Jahre später flohen auch die Großeltern von Nurit nach Israel.
Die letzte Station ist der jüdische Friedhof in Berlin-Weißensee. Hier befinden sich die Gräber des Rabbiners Josef Eschelbacher und das Grab eines Onkels von Nurit Ben Dove. Er hat in den 30er-Jahren Selbstmord begangen, so wie viele Juden in der Nazizeit. Der Jüdische Friedhof Weißensee ist einer der größten in Europa. Über 115.000 Berliner haben hier ihre letzte Ruhestätte gefunden. Auf den Grabsteinen stehen große Namen: Herbert Baum liegt hier, der Widerstandskämpfer. Der Rabbiner Leo Baeck. Verleger Samuel Fischer. Der Schriftsteller Stefan Heym und die Eltern von Kurt Tucholsky.
Während die Schritte der Großmutter immer langsamer werden, rennen die Jüngeren durch den Wald und verstecken sich hinter den alten Bäumen. Die beiden jungen Männer tragen auf dem Kopf eine Kippa, eine jüdische Kopfbedeckung. Sie ist auf dem jüdischen Friedhof vorgeschrieben. Assaf, der kräftige Cousin mit den dunklen Haaren und dem schmalen Kinnbart, ist von dem jüdischen Friedhof mit den großen Namen offenbar wenig beeindruckt.
"Ehrlich gesagt weiß ich nicht wirklich, was ich fühle. Aber es ist nichts Neues für mich. Ich habe schon viele Gräber und Gedenkstätten in Israel gesehen. Es ist natürlich interessant, diese Gräber aus der Zeit des Weltkrieges zu sehen. Für mich ist es sehr weit weg. Ich versuche aber etwas zu empfinden, es sind immerhin meine Familie und meine Vorfahren."
Auf dem Weißenseer Friedhof könnte die Kluft zwischen Jugend und Alter größer nicht sein: Nirut Ben David wird immer schweigsamer, die Gesichtszüge der alten Dame verhärten sich. Ihre Enkelin, die 16-Jährige Tom, verlässt die Gruppe der Jugend und begleitet ihre Großmutter. Sie versucht ihre Gefühle nachzuvollziehen.
"Ich glaube, für meine Großmutter ist das ziemlich hart. Sie weint beinahe. Es ist immerhin ihr Onkel, der hier begraben liegt. Für mich ist es nicht so hart. Ich habe sehr viel über den Krieg in der Schule gelernt, daher ist das hier kein Schock für mich."
"Es ist emotional. Irgendwie hatte ich diese Obsession herzukommen. Ich fühle, ich bin die Repräsentantin meiner Mutter. Ich weiß auch, das ist das letzte Mal, dass ich es sehen werde. Ich komme nicht mehr. Und ich bin so zufrieden und dankbar, dass die Kinder mit mir das gemacht haben."
Die alte Dame dreht sich um und schreitet aufrecht dem Ausgang entgegen. Sie schaut nicht mehr zurück, bis sie in den Kleinbus steigt, der vor dem Friedhofstor wartet.