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Spurensuche in Indien

In seinem neuen Roman schickt Tim Parks seinen Protagonisten auf die Reise: In den Wirren Indiens begibt sich John auf die Spuren seines kürzlich verstorbenen Vaters - und letztlich auf die Suche nach dem eigenen Weg.

Von Dr. Eberhard Falcke | 11.09.2009
    "Unglückliche Situationen sind für gewöhnlich die produktivsten", so bemerkt die Schlüsselfigur in Tim Parks jüngstem Roman. Und wahrlich: Diese Feststellung kann überhaupt als Schlüsselsatz für das Werk des englischen Autors gelten. Denn aufwühlende Konflikte, wenn nicht gar schmerzliche Todesfälle liefern in der Mehrzahl seiner Romane den Anstoß der Handlung. Ganz besonders gilt das für seinen neuen Roman "Träume von Flüssen und Meeren". Gleich der erste Satz informiert über den plötzlichen, überraschenden Tod von Albert James, der seinen Sohn John veranlasst, unverzüglich von London nach Delhi zu fliegen, wo der Vater als Anthropologe tätig war und die Mutter Helen den Armen als Ärztin beisteht. Der Erzähler Tim Parks betrachtet den Tod in diesem Fall vor allem als Anlass zur Neuorientierung.

    "Ein Todesfall in einer Gruppe bedeutet immer, dass die anderen ihre Beziehungen neu organisieren müssen. Beziehungen sind eine Art von Spannungsmuster, und wenn da jemand herausfällt, muss sich das Muster ändern. Als John nach Indien kommt, muss er erkennen, welch seltsame Beziehung er zu seinen Eltern hatte, und wie seltsam ihr Verhältnis zueinander war. Das ist der eigentliche Kern des Buches. Und zugleich entdeckt er, dass ihm die Gesellschaft nichts an die Hand gibt, um damit fertig zu werden."

    Tatsächlich erlebt John nach seiner Ankunft gleich eine Serie von Frustrationen. Die Mutter behandelt ihn wie einen kaum willkommenen Gast, er kann nicht einmal einen letzten Blick auf den toten Vater werfen, und dessen Hinterlassenschaft für den Sohn besteht allein in der Aufforderung, einige Sufigräber und das Taj Mahal zu besuchen.

    Umso größer ist Johns Verblüffung, als er von der ungeheuren Hochachtung erfährt, die sein Vater bei den unterschiedlichsten Menschen genoss, bei Esoterikern ebenso wie bei Missionsschülerinnen, bei Naturforschern nicht minder als bei jungen Tänzerinnen oder ganz gewöhnlichen Leuten. Ganz zu schweigen von Helen, Johns Mutter. Sie behandelt die Beziehung zu ihrem vergötterten Ehemann wie ein hermetisch gehütetes Gut, das sie sogar gegen ihren eigenen Sohn mit kühlen Distanz-Gesten abschirmt.

    Dadurch wird John mit seinen 24 Jahren mitten hinein gestoßen in eine Suche nach dem Wesen seiner Eltern und den Lebens- und Forschungsprinzipien des Vaters, der ein berühmter Mann war, und den Tim Parks mit einigen geistigen Charakteristika des Anthropologen und Sozialforschers Gregory Bateson ausgestattet hat.

    "Das Nachleben eines berühmten Vaters fordert immer dazu heraus, Bilanz zu ziehen, was da geleistet wurde: Was waren die Erfolge, die Errungenschaften, der Ruhm, worauf kam es an? Das Besondere an Albert James ist seine zunehmende Einsicht in die wechselseitigen Abhängigkeiten alles Gesellschaftlichen. Er wurde zu einem Mann, der nie Eingriffe oder Veränderungen anstreben wollte, weil er wusste, dass dadurch alles verändert würde. Darum betrachtete er Veränderungen als Zerstörungen von Dingen, die sehr sorgfältig aufgebaut worden waren. Daraus wurde eine solche Obsession, dass er zum Beispiel nichts tat, um seinem Sohn etwas zu geben, wodurch er diesen einer völligen Leere aussetzte."

    Mit anderen Worten: Dieser berühmte Forscher hat sich mit allen Finessen und der ganzen Vielschichtigkeit von Kommunikation auseinandergesetzt, er war ein hingebungsvoller Beobachter fremder Menschen und Völker, doch in seinem aller persönlichsten und familiären Umfeld blieb er schweigsam oder war nur zu einer theoretisch verklausulierten Verständigung fähig.

    Kommunikation sei überhaupt das zentrale Thema dieses Romans, sagt Tim Parks. Und mit fast systematischem Eifer präsentiert er dieses Thema in den unterschiedlichsten Varianten: als rätselhafte, fast mystisch anmutende Zusammengehörigkeit des Ehepaares Helen und Albert; als transkulturelle Kommunikation zwischen Europäern und Indern; als Beziehungskonflikt zwischen dem verunsicherten Sohn und seiner Freundin; und vor allem durch die zwischen Abwehr und Anziehung schwankenden Begegnungen der Witwe mit einem amerikanischen Journalisten, der angereist ist, um die Biografie ihres verstorbenen Mannes zu schreiben.

    Alle befinden sich nach dem Tod von Albert James plötzlich auf der Suche. Doch was mit der Fahndung nach den Geheimnissen und Botschaften des rätselhaften Forschers beginnt, verwandelt sich für alle Beteiligten unversehens in eine Suche nach dem eigenen Weg. Und Indien, dieses Land zwischen Tradition und Modernität, bewirkt für die Impulse von Irritation und Suche noch eine zusätzliche Verstärkung.

    "Da haben wir also diese drei Menschen mitten in Indien mit all den Ablenkungen, den Verstörungen, die das Land für jeden Europäer bereithält. Der Sohn spürt zunehmend, wie er durch den Blick auf Indien seinen Vater verstehen lernt, sich ihm annähert, indem er sich Dingen nähert, die nichts mit seinem Leben in einem wissenschaftlichen Labor in London zu tun haben. Das Buch handelt vom Wert der vernunftwidrigen Ablenkung und die Handlung nimmt ja auch eine Reihe von ziemlich verrückten Wendungen."

    Erneut erzählt Tim Parks hier von dramatischen Wendepunkten im Leben, nur dass diesmal die gedankliche Spannweite, die er dabei entfaltet, so groß ist wie nie zuvor. Denn die Schicksale seiner Protagonisten sind auf fesselnde Weise verwoben mit einer ganzen Reihe fundamentaler, existenzieller Fragestellungen. Es geht dabei gleichermaßen um die Widersprüche zwischen reiner Erkenntnis und praktischem Engagement, um die globalen Umwälzungen der Lebensverhältnisse wie um die stets elektrisierende Frage nach dem richtigen Leben.

    Romane mit solch eminenter Spannweite, mit einem solchen Reichtum an Gesichtspunkten werden heute selten geschrieben. Und wenn bei Tim Parks die realistische Figurenführung unter diesem hohen Anspruch gelegentlich etwas ächzt, dann wird das durch Spannung und plastische Anschaulichkeit aufgewogen. Die größte Stärke und das eigentliche Wagnis dieses Romans aber bestehen darin, dass darin die unauflösbare Vielschichtigkeit des Lebens wichtiger genommen wird als alle simplen Botschaften oder Schlussfolgerungen.

    "Was Bateson wollte und was ich in diesem Buch anstrebe, ist das Vergnügen am Nicht-Verstehen. Es gilt zu akzeptieren, dass die Welt so komplex ist und es ein riesiger Irrtum wäre, sich einzubilden, sie ließe sich verstehen. Denn Verstehen ist der erste Schritt, alles zu verpfuschen. Das ist es, wofür sich das Erzählen, der Roman bestens eignen: nämlich das Bewusstsein dafür zu wecken, dass alles wunderbar verflochten und komplex ist und man sich lieber an der Betrachtung erfreuen sollte als nach der Axt zu greifen und zur Veränderung zu schreiten."

    Tim Parks: Träume von Flüssen und Meeren
    Aus dem Englischen von Ulrike Becker
    Verlag Antje Kunstmann, München 2009, 510 Seiten, 24,90 Euro