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Srebrenica zehn Jahre nach dem Massaker

Der Name der Stadt Srebrenica im östlichen Bosnien steht für das schlimmste Massaker in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg. Bosnisch-serbische Einheiten brachten dort im Krieg um das zerfallende Jugoslawien im Juli 1995 innerhalb weniger Tage etwa achttausend bosnische Muslime um. Kurz vor dem zehnten Jahrestag am Montag wurde gestern ein neues Massengrab mit etwa hundert Leichen in der Nähe vor Srebrenica gefunden. Dort selbst ist der Alltag immer noch durch den Krieg belastet, wie Sören Harms berichtet.

    Jusufs Kaffeerösterei ist ein kleiner Laden. Ein Verkaufstisch, hinter einem Vorhang mahlt die Kaffeemühle, es duftet wie in der Kaffee-Werbung, und die ans Schaufenster geklebten Buchstaben lassen sich auch von innen lesen: "Maj Caffe" steht da, und dass ein Kilo Kaffee acht Konvertible Mark kostet, etwa vier Euro also.

    Jusuf trägt ein enges schwarzes T-Shirt, und am mächtigen Oberkörper darunter lässt sich leicht erkennen, dass der 53-Jährige in einem früheren Leben nicht Kaffeeröster war, sondern Sportler. Die Fotos an der Wand zeigen ihn als Torwart beim "Fudbalski Klub Guber Srebrenica" von 1924:

    "Als ich vergangenes Jahr nach Srebrenica zurückgekehrt bin, habe ich überlegt, was man hier arbeiten kann. Es war alles voll mit Kneipen, das ging also nicht. Ich habe dann eben diese Kaffee-Rösterei aufgemacht. Die läuft mehr schlecht als recht. Es kommen nur wenige Leute rein, und auch die haben nicht viel Geld. Im Moment ist das hier keine gute Stadt zum Leben. Bislang sind auch nur wenige nach Srebrenica zurückgekehrt. Aber ich wäre nicht hier, wenn ich nicht glaubte, dass es besser wird. In einem Jahr vielleicht."

    Jusuf ist Muslim, im Bosnien-Krieg war er Soldat der bosniakischen Armee. 1992, einen Tag, bevor die bosnischen Serben Srebrenica zum ersten Mal besetzten, ist er aus der Stadt geflohen. Dann hat er bis zum Ende des Krieges in den Wäldern um Tuzla gekämpft; als die Serben um General Mladic im Juli 1995 wieder in Srebrenica einmarschiert waren, sah Jusuf eine Woche später die muslimischen Männer in Tuzla eintreffen, die im Gewaltmarsch von Srebrenica aus über die Berge geflohen waren. 65 Kilometer hindurch zwischen Scharfschützen, Artilleriefeuer und Landminen. Viele landeten in den Händen der serbischen Soldaten und wurden erschossen. Von geschätzten 15.000 Männern überlebte die Hälfte:

    "Unsere Kompagnie hat diese armen Menschen in Tuzla empfangen. Sie waren in einem fürchterlichen Zustand. Wie hilflos sie waren, wie hungrig. manche waren verrückt vor Angst, die Tschetniks hatten sie viele gerufen und so in die Falle gelockt."

    Zigarettenpause vor Jusufs Kaffeeladen. Jemand geht vorüber und nickt, Jusuf grüßt zurück. Eine Begegnung wie viele in dieser belasteten Stadt: Immer wieder treffen Opfer auf die Täter von einst. Manche leben Tür an Tür:

    "Man kennt sie und begrüßt sie sogar, sie grüßen herzlich, man spricht mit ihnen, aber nicht über Damals. Viele hat man schon 1995 im Fernsehen erkannt, als sie mit Mladic in Srebrenica einmarschiert sind. Und wenn man sie jetzt trifft, denken sie, man erkennt sie nicht. Aber Den Haag ist der Ort, der über sie nachdenkt. Und sie denken über Den Haag nach.#

    Erst 2001 ist Jusuf zum ersten Mal nach Srebrenica zurückgekehrt, sechs Jahre nach dem Massaker. Er wollte wissen, wie seine Wohnung aussah:

    "Von den Serben bin ich wirklich warm empfangen worden. Aber Srebrenica sieht heute super aus im Vergleich zu 2001. Als ich meine Wohnung nach zehn Jahren wieder betreten habe, gab es dort nichts mehr. Die Steckdosen und Heizkörper waren ausgebaut, selbst die Kloschüssel. Alles weg."

    Vier Uhr nachmittags, der Fußballplatz in Srebrenica. 15 Halbwüchsige umdribbeln im Slalom eine Kegelreihe, sprinten, üben Zweikampf mit Ball. Jusuf gibt Kommandos. 2004 hat er den Verein Guber Srebrenica neu gegründet, seitdem trainiert er das Team – ab Herbst soll es in einer regulären Liga kicken und zwei weitere Jungs-Mannschaften ebenso. Zwei Drittel der Kinder sind Halb- oder Vollwaisen, sagt Jusuf.

    "Die wichtigste Funktion des Fußballs hier ist, die Kinder von der Straße zu holen, weg von den Drogen. Außerdem sollen sie gewisse Gewohnheiten einüben, und Talente sollen sich weiter entwickeln und spielen. Das Team ist multiethnisch, fifty-fifty, da gibt es keine Probleme. Es hat sich einfach so ergeben: Wir haben eine Einladung für die Fußballschule geschrieben, die Kinder kamen dann zur Anmeldung in meine Kaffee-Rösterei und los ging's.

    Jusuf Malagic zeigt einem 16-Jährigen, wie er eine Kurzpass-Übung anleitet, und geht hinüber zu den vier Jungs in Torwartklamotten, die sich Bälle scharf zuwerfen, fangen, wieder zurückwerfen, aufstehen, wieder fangen. Jusuf hinkt beim Gehen. Und dem Co-Trainer drüben am anderen Tor fehlt die linke Hand. Der Krieg?

    "Es war ein Schwein", erzählt Jusuf später. Ein Schwein hat dem Co-Trainer die Hand abgebissen. Der Co-Trainer war damals noch sehr klein und wollte das Schwein füttern. Und Jusuf selbst, warum hinkt er? Eine Sportverletzung, sagt Jusuf und lässt den Kaugummi im Mund eine Extrarunde drehen. Kein Granatsplitter, keine Kriegsverwundung. Nicht alles ist auf den Krieg zurückzuführen in Srebrenica.