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Staat und Islam

In der arabischen Welt existieren große Unterschiede, was den Stellenwert der Religion für Politik und Recht betrifft. Vor allem das Thema Scharia sorgt regelmäßig für heftige Auseinandersetzungen – auch in den gegenwärtigen Verfassungsdebatten in Ägypten, Tunesien und Libyen.

Von Martina Sabra | 10.12.2012
    Mathias Rohe, Professor für Jura und Islamisches Recht in Erlangen, ist Autor eines deutschsprachigen Standardwerkes über Geschichte und Gegenwart des islamischen Rechts:

    "Es gibt zwei gängige Definitionen, die für einige Verwirrung in der Debatte über die Scharia sorgen: Eine sehr weite Definition, die umschreibt alle religiösen und rechtlichen Normen des Islam, also Dinge wie das Gebot zum Fasten im Ramadan, die Wallfahrt nach Mekka, den Glauben an den einen Gott. Der engere Begriff der Scharia ist der, der vielen Angst macht und umfasst insbesondere die Bereiche von Familienrecht, Erbrecht, koranischem Strafrecht, also diese drakonischen Körperstrafen, und die Vorschriften, die für eine Ungleichheit der Geschlechter und eine Ungleichheit der Religionen sorgen, jedenfalls in ihrer traditionellen Interpretation."

    Was ist die Scharia, wer darf sie auslegen und welchen Stellenwert sollen islamische Werte und Lebensregeln in der Verfassung haben? Solche Fragen werden in der arabischen Welt nicht erst seit den Revolutionen Anfang 2011 heftig diskutiert. In Ägypten forderten die Muslimbrüder seit ihrer Gründung 1928, also vor fast achtzig Jahren mehr Einfluss des Islams auf die Gesetze. In Marokko wurde 2004 nach jahrelangen Kämpfen das islamische Scheidungsrecht grundlegend zugunsten von Frauen reformiert.

    Die Verfassungen und Rechtswirklichkeiten in den arabischen Staaten sind extrem verschieden. Am einen Ende der Skala befindet sich das Königreich Saudi-Arabien. Der saudische Staat, der 1932 gegründet wurde, hat bis heute keine Verfassung. Das Grundgesetz Saudi-Arabiens ist der Koran. Wie die Vorschriften des Korans zu interpretieren und umzusetzen sind, darüber entscheiden religiöse Gelehrte und Richter, und prinzipiell kann der Koran in allen Rechtsbereichen Anwendung finden. Dazu gehören auch das Handels- und das Strafrecht, das in Saudi-Arabien drakonische Sanktionen wie Amputationen bei Diebstahl und Auspeitschungen bei Sex außerhalb der Ehe vorsieht.

    Am anderen Ende der Skala steht Tunesien. Tunesien hat zwar nicht radikal zwischen Islam und Politik getrennt: Gemäß Artikel eins der – seit Oktober 2011 außer Kraft gesetzten – tunesischen Verfassung von 1959 ist der Islam Staatsreligion und der Präsident muss ein Muslim sein. Doch ansonsten wird das Zusammenleben der Menschen in Tunesien weitgehend von Gesetzen bestimmt, die nach westlichen Vorbildern gestaltet sind. Männer dürfen nur eine Frau heiraten; im Scheidungsrecht sind Männer und Frauen gleichgestellt; Frauen, die außerhalb der Ehe schwanger werden, erhalten staatliche Hilfen.

    In der Rechtswirklichkeit der meisten arabischen Staaten spielt die Religion heute nur bedingt eine Rolle. Das hat historische Gründe. Seit dem 16. Jahrhundert gehörte fast die gesamte arabische Welt zum Osmanischen Reich. Die sogenannte "Hohe Pforte" verstand sich als Führungsmacht der islamischen Welt. Doch mit dem Beginn der Neuzeit und dem wirtschaftlichen und politischen Aufstieg der europäischen Weltmächte schwand die Macht der religiösen Institutionen – auch im Orient. Im Laufe des 19. Jahrhunderts verabschiedeten die osmanischen Sultane mehrere Gesetzesreformen. Religiöse Gesetze und Gerichte wurden abgeschafft. Mathias Rohe:

    "Das waren die sogenannten Tanzimat-Reformen, die teilweise unter Druck europäischer Kolonialmächte erfolgten. Aber es gab durchaus auch eigenständige Überlegungen in der Region, von klugen Denkern, die sich darüber Gedanken gemacht haben, weswegen eigentlich die islamische Welt so ins Hintertreffen geraten war, und die dringenden Bedarf für Reformen gesehen haben. Die haben dann auch ihre Leute zum Teil nach Frankreich geschickt und in andere europäische Länder und sich inspirieren lassen von der dortigen Entwicklung."

    Die osmanischen Sultane modernisierten vor allem das Handelsrecht und das Strafrecht. Einige wichtige Rechtsbereiche blieben jedoch weiterhin religiös geprägt: Darunter das sogenannte Personenstandsrecht, das unter anderem familiäre Angelegenheiten wie die Eheschließung, die Scheidung und das Sorgerecht für die Kinder regelte und das Erbrecht. Da das Osmanische Reich ein multikultureller, multireligiöser Staat war und man Konflikte gering halten wollte, wurden diese Angelegenheiten den religiösen Minderheiten überlassen.
    Als der türkische Staatsgründer Mustafa Kemal im Jahr 1924 das Kalifat, das traditionelle islamische Herrschaftssystem abschaffte und stattdessen eine laizistische Republik errichtete, ließ er auch das Personenstandsrecht reformieren. Die Polygamie, die islamische Erlaubnis, vier Frauen gleichzeitig zu heiraten, wurde gesetzlich verboten.

    Anders die arabischen Staaten. Die meisten wurden nach dem Ende des Osmanischen Reiches gleich wieder zu Kolonien und Protektoraten. Diesmal unter dem Diktat der westlichen Großmächte Frankreich, England und Italien. Für die Unabhängigkeitsbewegungen, die die Kolonialmächte teilweise blutig bekämpften, wurde der Islam zu einem bestimmenden Faktor der Identität. Nach der Entkolonialisierung in den 1940er bis 1960er Jahren es deshalb nicht überraschend, dass die jungen arabischen Staaten den Islam als Staatsreligion in ihre Verfassungen schrieben. Ansonsten optierte man für eine Zwischenlösung: Straf- und Handelsrecht wurden – wie schon im späten Osmanischen Reich - nach europäischen Vorbildern gestaltet. Im Personenstandsrecht hingegen wurde die aus osmanischer Zeit geerbte religiöse "Rechtsspaltung" beibehalten. Das hieß: In Familien- und Erbangelegenheiten waren die Bürger nicht gleich, sondern es galt das Recht der jeweiligen Religionsgemeinschaft. Für Christen galt das Kirchenrecht der jeweiligen Konfession; Musliminnen und Muslime vollzogen ihre Eheschließungen, Scheidungen und Erbangelegenheiten nach den Regeln des islamischen Rechts.

    Doch die religiöse Vielfalt war nicht gleichbedeutend mit Freiheit. Während Christen zum Islam konvertieren durften, wurde Muslimen der Austritt per Strafe verboten. Und die Beibehaltung des islamischen Familienrechts stellte die jungen arabischen Staaten vor Probleme. Im Islam gibt es keine Kirche, die verbindliche Auslegungen des Korans für alle vorschreibt. Mit der Gründung der Nationalstaaten ging aber die Forderung nach Rechtssicherheit einher. Das islamische Recht musste kodifiziert werden. In fast allen arabischen Staaten optierten die Staatsgründer bei der Ausarbeitung des Personenstandsrecht für sehr konservative Interpretationen des islamischen Rechts. Frauen waren dadurch stark benachteiligt. Doch auf islamischer Grundlage sind auch Reformen möglich.

    Für das Staatsverständnis und den Staatsaufbau aller arabischen Länder spielt die Religion auch weiterhin eine zentrale Rolle. Nahezu überall ist der Islam Staatsreligion. Der Zugang zum Präsidentenamt und zu anderen hohen politischen Funktionen ist fast immer an die muslimische Religionszugehörigkeit geknüpft. Tunesien, Libyen und Ägypten werden auch künftig nicht säkular sein, sondern den islamischen Werterahmen behalten. Die Frage ist, ob die neuen Verfassungen mehr oder weniger persönliche Freiheiten ermöglichen werden als bisher.

    Die Serie im Überblick:
    Welche Rolle wird die Religion nach den arabischen Revolutionen in den neuen Verfassungen spielen? Serie: Religion nach der arabischen Revolution