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Staatenlos im eigenen Land
Tausende Inder werden zu Ausländern erklärt

Wer in Indien nicht ins Bürgerregister aufgenommen wird, darf kein Land kaufen, keine Kredite aufnehmen, seine Kinder nicht zur Schule schicken, nicht wählen und gilt als illegal oder Ausländer. Inzwischen werden auch zunehmend Einheimische zu Ausländern erklärt.

Von Silke Diettrich | 15.12.2018
    Mohammad Salimullah sitzt am 11.09.2017 vor seinem Geschäft im Rohingya-Flüchtlingslager "Darul Hijrat" am Rande von Neu Delhi (Indien).
    Die Anspannung unter den Muslimen, die nicht in das Staatsbürger-Register aufgenommen wurden, ist groß (picture alliance / dpa / Nick Kaiser)
    Khutida Khatum legt ihr Gesicht in beide Hände und hockt vor dem Eingang des Bezirksgefängnisses Goalpara. Vier Stunden lang ist sie durch den Bundesstaat Assam mit der ganzen Familie hier her gereist, um ihren Sohn zu sehen. Der sitzt seit mehr als einem Jahr hier im Gefängnis ein. Sein Vergehen: ein Flüchtigkeitsfehler in seinen Dokumenten.
    "Ich bin Inderin, mein Mann ist Inder. Wie kann denn unser Sohn ein illegaler Einwanderer aus Bangladesch sein?", fragt die Mutter und hört nicht mehr auf zu weinen.
    Für die Behörden in Assam scheint das kein Widerspruch zu sein. Sie schauen nur auf die Dokumente und da gibt es unterschiedliche Angaben. Sadiq Ali, der Vater des Inhaftierten, zeigt den indischen Ausweis seines Sohnes:
    "Wir sind noch nie in Bangladesch gewesen. Mein Großvater war schon seit 1945 hier in Assam."
    Auf dem Ausweis steht: Chah-Shahan, geboren 1981. Auf anderen Dokumenten aber steht 1987 als sein Geburtsjahr. Eine Eins, die als sieben geschrieben wurde.
    Ein Fehler mit fatalen Folgen
    In Indien ein häufiger Fehler in Dokumenten, der oft ohne Konsequenzen bleibt. Doch für die Behörden in Assam ist dieser Fehler jetzt Grund genug, Chah-Shahan vorzuwerfen, er sei illegal eingewandert. Und das bedeutet: Er wird nicht ins Bürgerregister aufgenommen. Die Beamten machten die Fehler und die einfachen Leute müssten die jetzt ausbaden, sagt der Anwalt Zaman Masood, der die Familien verteidigt, die aus dem Register ausgeschlossen wurden. Die meisten der vier Million Menschen, die dann nicht mehr als indische Staatsbürger gelten, seien Muslime:
    "Überall auf der Welt versucht die Mehrheit, die Minderheit zu dominieren. Das eigentliche Ziel hier ist, den Muslimen ihr Wahlrecht wegzunehmen."
    Harte Regeln für Ausländer
    Denn wer zum Ausländer deklariert wird, darf in Indien kein Land kaufen, keine Kredite aufnehmen, seine Kinder nicht zur Schule schicken und natürlich auch nicht wählen gehen. Seitdem die hindunationalistische Partei BJP vor zwei Jahren in Assam die Wahlen gewonnen hat, ist die Zahl der vermeintlichen Ausländer auf das Fünffache gestiegen, auf über 13.000 im Jahr 2017.
    Da diese Menschen auf einmal staatenlos sind und es kein Land gibt, das sie aufnehmen würde, landen viele von ihnen im Gefängnis. Können diese neuen Ausländer nicht irgendwann beweisen, dass sie doch Inder sind, könnten sie ihr ganzes Leben in der Zelle verbringen.
    Die Sonderberichterstatter des UNO-Menschenrates betrachten diese Entwicklungen mit großer Sorge. Die Ministerpräsidentin des Bundesstaates West-Bengalen, der wie Assam auch im Nordosten von Indien liegt, ist Teil der Opposition in Indien. Sie macht sich große Sorgen, dass ihr Land in einen Hindunationalstaat abdriften könnte.
    "Wenn es hier so weiter geht, wird es einen blutigen Bürgerkrieg geben", sagte sie während einer Versammlung in der Hauptstadt Neu-Delhi.
    Hetze ist an der Tagesordnung
    So drastisch formulieren es nicht viele in Indien, aber die Kluft zwischen Muslimen und Hindus ist in den letzten Jahren hier wieder sehr viel größer geworden. Vor allem, seit die aktuelle Regierungspartei BJP an der Macht ist. Sie ist der politische Arm von Hindu-Fundamentalisten im Land. Der aktuelle Premierminister Narendra Modi kommt aus einer hinduistischen Freiwilligen-Organisation, dem RSS. Diese Organisation wird von vielen als faschistisch betrachtet. Hetze gegen Minderheiten ist heute in Indien an der Tagesordnung:
    "Ich fordere die indische Zentralregierung dazu auf, illegale Einwanderer raus zu werfen aus unserem Land, ob sie nun Rohingya sind oder aus Bangladesch kommen", sagt Raja Lod von der Regierungspartei. "Wenn sie nicht selbst mit Würde in ihre Länder zurückkehren, müssen wir auf sie schießen, um unser Indien sicher zu machen."
    Rohingya und Menschen aus Bangladesch sind in aller Regel Muslime. Das Nachbarland Bangladesch ist geografisch fast vollständig von Indien eingeschlossen. Viele flüchten aus dem armen Land nach Indien, um Arbeit zu finden. Auch der Bundesstaat Assam grenzt an Bangladesch. Die Anspannung unter den Muslimen, die nicht in das Staatsbürgerregister aufgenommen wurden, ist groß. Und wie hier vor dem Gefängnis Goalpara machen sich auch die Familienangehörigen große Sorgen:
    "Wir sind doch alle Inder. Ihr könnt auch den Lehrer fragen, der meinen Sohn unterrichtet hat. Hier in Assam wird es immer schwieriger für uns. Sie schikanieren uns Muslime."
    Die endgültige Liste für das Bürgerregister in Assam soll in Kürze veröffentlicht werden. Sollte der Name von Kuthida Kathums Sohn dort nicht auftauchen, wird sie ihm vielleicht nie mehr wieder in Freiheit begegnen können.